Dienstag, 4. Dezember 2007

Licht und Blindheit

„Berlin“, sagt David Bowie, „ist eine Stadt voller Bars für traurige, enttäuschte Menschen – das liebe ich.“ Auch im Quatro Stagione all’Inferno, wo Arthur nun als Pizzabäcker am Ofen dilettiert, herrscht einmal mehr gedrückte, wenngleich liebenswürdige Stimmung. Tim Verlaine, der Besitzer, lehnt wie immer mit seinen langen dünnen Gliedmaßen an der Bar, raucht und starrt ins Leere. Vielleicht glaubt er, wie ein Killer aus dem Film Der Clan der Sizilianer auszusehen, doch er bleibt nur ein trauriger Harlekin. Mitunter wechselt Tim die Musik oder ruft meinem schwitzenden Freund, der kurz vor einer verheerenden Eruption zu stehen scheint – nicht zuletzt, weil er bei der Arbeit ein buntes Quatro Stagione all’Inferno-T-Shirt tragen muss –, ein Kommando zu. In einer Ecke sitzt ein Paar mit einem Dackel, das Bionade trinkt. Arthur trinkt Absinth. Die Beleuchtung ist – vermutlich aufgrund von Sparzwängen – auf ein Minimum heruntergedimmt. Dies alles sehe ich durch die beschlagene, milchige Scheibe, bevor ich den Laden betrete.

Arthur blickt auf, mit finsterer Miene: „Du brauchst dich hier gar nicht blicken zu lassen. Du bist an allem schuld.“

„Hallo, Arthur! Hallo, Tim!“

„Wenn du Charlotte im Rausch nichts von Dimona erzählt hättest, wären wir jetzt noch zusammen.“

Keine Reaktion von Tim. Er lehnt am Tresen wie ein Blinder. Ein Blinder der sich zusätzlich zu seinem nicht vorhandenen Sehvermögen noch Wachs in die Ohren stopft, um die Außenwelt mit ihren Finanzbehörden, Gesundheitsämtern und geizigen Gästen komplett auszuschalten und fortan in ewiger Dunkelheit zu leben. Ich nehme auf einem Barhocker Platz und frage freundlich:

„Wie läuft denn das Pizzabacken?“

Da Arthur sich einer Antwort enthält, füge ich noch hinzu:

„Also, zunächst mal kann ich mich nicht erinnern, Charlotte von deiner Namensidee berichtet zu haben.“

„Schwachsinn! Man kann sich an alles erinnern, wenn man nur will.“

„Außerdem hättet ihr die Namensfrage sowieso bald besprechen müssen. So ein Kind darf nicht lange namenlos bleiben. Aber das ist ja ohnehin alles vollkommen egal – Charlotte hat sich ganz sicher nicht von dir getrennt, weil du eure Tochter nach einer Atomwaffenfabrik taufen wolltest. Ich hätte auch gerne einen Absinth.“

„Clara!“ Arthur schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Meine Tochter wird ‚Clara’ heißen! Das ist der größte anzunehmende Unfall.“

„Es ist vor allem der größte anzunehmende Zufall. Das glaubt kein Mensch, wenn ich es aufschreibe. Weiß Charlotte wirklich nichts von Klara? Vielleicht hat sie einen alten Liebesbrief in deinem Schuhkarton entdeckt?“

„Glaubst du, wenn sie von Klara wüsste, würde sie unsere Tochter so nennen? Das wäre ja Irrsinn. Außerdem hat Klara mir nie auch nur einen einzigen Liebesbrief geschrieben.“

„Ach ja.“

Clara wird mich Papa rufen. Mein Gott, das ist der Untergang.“

„Ich gehe mir jetzt einen Schuss setzen“, sagt Tim Verlaine, bewegt sich jedoch nicht von der Stelle.

Arthur hat mir Charlottes letzten Liebesbrief gezeigt. Ihre Worte gehen mir nicht aus dem Kopf. Ich fürchte, unsere Suche ist vorbei. Sollte Charlotte wirklich wegziehen, nach Paris beispielweise, wären wir beide, Arthur und ich, wieder allein. Und ‚Clara’ wäre in der Tat ein noch absurderer Name als ‚Dimona’.

„Vielleicht kannst du ja wenigstens den Namen verhindern“, sage ich. „‚Clara’. Dafür ist es noch nicht zu spät.“

„Es ist für gar nichts zu spät. Wenn Charlotte mich wirklich liebt, kann sie mich nicht verlassen. Liebe macht blind.“

„Und Liebe vergisst nicht. Wenn sie in der Agentur kündigen kann, kann sie auch dir kündigen.“

„Nein. Nein, nein, nein! Das macht keinen Sinn. Das ist alles auch eine Folge der Schwangerschaft und dieser ständigen hormonellen Achterbahnfahrt. Scheiße!“ Arthur schreit auf, fast fällt ihm die Pizzapfanne aus der Hand. „Schon wieder! Ich habe mich heute schon dreimal an diesem verdammten Ofen verbrannt!“

„So merkst du wenigstens, dass du am Leben bist“, meint Tim. „Hast du doch selbst gesagt. Nimm nicht so viele Sardellen.“

„Genau!“ Arthurs Augen blitzen. „Ich bin noch am Leben und ich gebe nicht auf. Ich werde Charlotte eine Pizza backen.“

Ich muss, bei aller Wehmut, lachen: „Du willst sie mit einer Pizza zurückgewinnen? Nach diesem Brief?“

„Es wird ja nicht irgendeine Pizza sein. Außerdem ist es der perfekte Vorwand, bei ihr vor der Tür zu stehen, als Pizzabote sozusagen. Sie liegt ja offensichtlich zuhause im Bett.“

„Dieser Brief liest sich eher wie das Gegenteil einer Pizzabestellung bei dir.“

Tim erhebt sich seufzend: „Wenn du weiter so viele Sardellen nimmst, kann ich den Laden morgen schließen. Aber das kann ich ja sowieso.“ Er wechselt die Musik.

Drei, vier klirrende Pianotöne. Ich weiß sofort, was wir jetzt hören: die vielleicht deprimierendste Platte aller Zeiten, Lou Reeds Berlin. Der schwarze Nachfolger seines Glamrock-Albums Transformer. Doch wenn man vom Glamrock den Glamour abkratzt, Make-up und Goldlack entfernt, kommt darunter nicht einfach wieder Rock zum Vorschein, sondern eben ein Werk wie Berlin. Rock’n Roll, der durch die Hölle gegangen ist und nun erbarmungslos – mit schmutziger Sentimentalität – von diesem Ausflug erzählt. Ähnlich wie Bowie Jahre später, singt auch Lou Reed von den traurigen, enttäuschten Menschen in den Bars dieser Stadt. Berlin ist die abgründige Geschichte eines Junkie-Paares im Schatten der Mauer. Anders als Bowie, der zu „Heroes“-Zeiten eine Wohnung mit zehn schwarzgestrichenen, lichtlosen Zimmern in Schöneberg bewohnte und ab und zu wie Charlotte durch den Grunewald streifte, kannte Lou Reed Berlin überhaupt nicht. Der Titel ist eine Discounter-Metapher für alles, wofür die Stadt im Jahr 1973 vermeintlich oder tatsächlich steht: Zerrissenheit. Zorn. Sprachlosigkeit. Eifersucht. Dekadenz. Und Heroin, natürlich. Warum Selbstmord machen, wenn man diese Platte kaufen kann.

„Gute Wahl“, sage ich zu Tim. „Sehr erfrischend. Genau das, was dieser optimistische Laden braucht.“

„Was mein Laden braucht, sind Gäste, die mehr als eine Bionade trinken.“ Er gibt sich keinerlei Mühe, seine Stimme zu senken. „Oder einen Idioten, der ihn mir abkauft.“

„Eine Pizza Hawaii, bitte!“ sagt Aaron, der im selben Augenblick – wie immer milde lächelnd – das Quatro Stagione all’Inferno betritt. Sophie ist auch dabei. Sie trägt eine gigantische Tasche über der Schulter und ein paar Schneeflocken im schwarzen Haar. Ihr Gesicht ist wintergerötet. Sie lächelt ebenfalls, und zum wiederholten Mal frage ich mich, ob Aaron und diese Sophie eigentlich zusammen sind oder nicht und was sie eigentlich in ihrer Tasche hat.

„Das ist hier nicht das Paradise“, entgegnet Arthur grinsend. Im Gegensatz zu mir schafft es Aaron zuverlässig, ihn zum Lachen zu bringen. Vielleicht liegt es daran, dass die beiden nicht so eng befreundet sind. Mein Freund fährt fort: „Hier gibt’s nur allerfeinste Pfannenpizza ohne Ananas, dafür mit Dosenchampignons und all-you-can-eat-Sardellen.“

„Wenn du noch einen einzigen Schluck Absinth trinkst“, murmelt Tim, „bist du gefeuert.“

„Ich möchte auch Absinth trinken“, sagt Sophie. „Kann ich hier irgendwo mein Gepäck abstellen? Das ist die winzigste Pizzeria, in der ich jemals war.“

Der Wirt stöhnt auf, nimmt Aarons Freundin jedoch die schwere Tasche ab und stellt diese mit schmerzverzerrtem Ausdruck irgendwo hinten in der Küche ab.

„Wo ist das Narbengesicht?“ fragt Aaron. „Wo ist Charlotte?“

Arthur deutet auf die Brandnarben an seinen Unterarmen.

„Charlotte hat ihre Tage“, sagt er dann.

„Was ist denn nun eigentlich mit unserer Norwegenreise?“ will ich wissen.

„Ist praktisch alles klar. In zehn Tagen oder so geht’s los. Ich sag’ euch noch mal Bescheid. Zieht euch warm an.“

„Ich würde auch mitkommen.“ Sophie reibt sich die Hände. „Ein bisschen im Dunkeln sitzen. Den Mond anheulen. Selbstgebrannten Schnaps trinken. In Berlin hab ich zu all dem keine Lust.“

„Der Norweger von heute“, sagt Aaron, „trinkt keinen Brennspiritus mehr, sondern erlesensten Champagner. Niemand wird heute noch blind. Und das Licht ist gerade auch zu dieser Jahreszeit einfach fabelhaft.“

„Wie geht das jetzt genau?“

Ich zeige Sophie, deren apartes Gesicht noch immer glüht, wie das feuerfreie Absinthritual vonstatten geht. Wir erfreuen uns am Louche-Effekt, der das grüne Getränk milchig-undurchdringlich einfärbt und Klarheit und Vernunft in Blindheit und Delirium verwandelt.

„Komm’ doch mit“, sage ich plötzlich zu Sophie. „Nach Norwegen. Es wird bestimmt lustig. Was ist eigentlich in der riesigen Tasche, die du immer mit dir herumträgst?“

„Dieser Song handelt von Nico“, bemerkt Arthur ebenso unvermittelt, indem er recht sinnfrei auf Tims Stereoanlage deutet. Er hat uns gar nicht zugehört. „Das behauptet Charlotte jedenfalls immer. Von Nico und ihrem Sohn.“

Da das Bionade-Paar verschwunden ist und Tim Verlaine sich in der Küche versteckt, stellt mein Freund das Pizzabacken ein und setzt sich zu uns an die Theke.

„Natürlich.“ Aaron nickt. „Das ist ein Lied über Nico und Ari. Ein Abschiedsbrief. Der letzte Liebesbrief. Wobei Lou Reed ziemlich abgefuckte Liebesbriefe schreibt.“

„Dieser Sohn, den sie mit Alain Delon hatte, muss auch ziemlich abgefuckt sein“, sagt Sophie. „Wir haben ja letztes Mal mit Charlotte schon darüber gesprochen.“


„The Kids“ ist das achte und wohl unerträglichste Lied auf Berlin. Und natürlich hat Charlotte recht – zum ersten Mal fällt mir auf, dass „The Kids“ eigentlich nur von „Le Kid“ handeln kann. Oder Christian Aaron Päffgen Delon Boulogne. Wie auch immer dieses Unglückskind heißen mag. Es erzählt von Andy Warhols allerschönster Frau und Lou Reeds zeitweiliger Geliebten Nico und ihrem albtraumhaften Leben. Nicht mal die Vergewaltigung durch einen GI in ihrer Jugend wird dabei ausgespart. „That miserable rotten slut couldn't turn anyone away”, erklärt Lou mit trauernder, tonloser Häme. Und dann beschreibt er, wie der Junkie-Mutter im Song ihre Kinder weggenommen werden. Dass dabei von einer Tochter die Rede ist, spielt keine Rolle, denn Lou meint offenkundig Nicos Ari, dessen Existenz als eine Art Maskottchen der Warhol-Factory in New York auf diese Weise beendet wurde. Obwohl Alain Delon seinen Sohn niemals anerkannte, ließ ihn seine Mutter – Aris Großmutter –, die aus der Klatschpresse von den Factory-Exzessen erfahren hatte, nach Frankreich entführen, wo er nicht mehr von Nicos bunten Pillen naschen konnte. Und so kam es, dass „Le Kid“ in einem Pariser Kleinbürgervorort aufwuchs. Als Adoptivsohn eines Metzgermeisters. Delon verstieß daraufhin nicht nur seinen Sohn, sondern auch seine eigene Mutter, die trotzdem allabendlich mit Ari Alain Delon-Filme im Fernsehen schaute. „Ich habe keinen Vater“, sagt „Le Kid“ heute. Noch schlimmer: Er hat nicht mal einen Namen. Deshalb nennt er sich ‚Ari’, einfach nur ‚Ari’, so wie seine Mutter immer nur ‚Nico’ hieß und ‚Klara’ immer nur ‚Klara’.

„Diese Schreie sind ja fürchterlich“, sagt Sophie, während aus den Boxen infernalisches Kindergebrüll ertönt – Kinder, die nach ihrer Mutter rufen.

„Allerdings“, erwidert Aaron. „Das liegt daran, dass sie echt sind.“.

Der Produzent des Tracks, erläutert er, hätte auf der Suche nach einem besonders haarsträubenden Effekt seinen Kindern mal eben erzählt, ihre Mama sei bei einem furchtbaren Autounfall ums Leben gekommen. Bei den Schreien, die letztlich auf der Platte zu hören sind, handele es sich um ihre verständlicherweise entsetzte Reaktion auf diese frei erfundene Unglücksbotschaft.

Aaron nippt an seinem Absinth: „Berlin ist nicht nur Lou Reeds bestes, sondern auch sein mit Abstand zynischstes Album.“

„Ich kann mir gut vorstellen“, bemerkt Sophie, „dass Ari so geschrieen hat, als er aus der Factory in diesen Fleischerhaushalt entführt wurde. Das ist ja Kidnapping.“

„Du verbreitest mal wieder Mythen“, sage ich zu Aaron. „Der Produzent hat seine Kinder einfach nur gebeten, ein bisschen zu schreien. Deine Geschichte ist zwar gut, aber schlicht und einfach unwahr.“

Keine Zweifel gibt es hingegen daran, dass Ari, der namen- und vaterlose Sohn, nicht für immer im Haus seiner Oma in Bourg-la-Reine blieb. Jener Oma, deren zweiter Ehemann nun offiziell sein Vater war, die ihn selbst jedoch nicht adoptieren konnte, da sein leiblicher Vater, Alain Delon, ja dann zu Aris Bruder mutiert wäre. Was für ein Balagan. Ari flüchtete, noch als Teenager, zu Nico nach New York. Sie zogen weiter, Hand in Hand, Richtung Nordengland, wo Mutter und Sohn Bett und Spritzbesteck teilten. Und dort, in Manchester, traf Ari Päffgen Ian Curtis, den Sänger von Joy Division.

An keinem Ort der Welt war Nico so glücklich wie in dieser grauen, drogenverseuchten, dabei auf entfesselte Weise kreativen Stadt. Auch in Manchester gab es ja eine Factory – Tony Wilsons neugegründetes Label Factory Records. Die wahren New Romantics, die Helle und Erleuchtung in den Schattenwelten verrotteter Industrieruinen suchten. Angeregt durch den Manager seiner Mutter, Alan Wise, stand Ari eines abends vor der Tür von Ian Curtis’ Reihenhaus und fragte ihn, was der Titel „Love Will Tear Us Apart“ – der Song war offiziell noch nicht erschienen, kursierte jedoch bereits in der Stadt – bedeutete. Ian sagte es ihm. Die beiden tranken Tee und schluckten alles, was gerade im Medizinschrank parat lag. Und viel später, in der Morgendämmerung, sangen sie gemeinsam das „Deutschlandlied“ – jene Hymne, die auch bei Ians Hochzeit gespielt worden war und die Ari, der sonst kein Wort Deutsch sprach, von seiner Mutter kannte. Nico widmete das Lied bei Auftritten gerne Andreas Baader. Ari und Ian sangen „Deutschland, Deutschland über alles“, schworen sich ewige Freundschaft. Doch bereits in der Folgewoche erhängte sich Ian Curtis und Ari lag wieder mit seiner Mutter im Bett. Auch als Nico, die Nokturnen-Königin, mit schwarzem Kopftuch und schwarzen Lederhosen im gleißenden Sonnenlicht der Balearen vom Fahrrad fiel, war ihr Sohn nicht weit. Er küsste ihre Augen und kotzte. Kurz zuvor hatte sie noch mal das „Deutschlandlied“ vorgetragen, unter einem Elektromond, in der künstlichen Finsternis des Berliner Planetariums. An ihrem Grab auf dem Friedhof der Namenlosen sang Ari nun „Mütterlein“. Oder er spielte die Kassette mit der Stimme seiner Mutter ab. Niemand weiß das mehr so genau, niemand kann sich erinnern.

„Was ist danach mit Ari passiert?” fragt Sophie und rührt in ihrem Absinthglas.

„Das kann ich dir genau sagen“, erwidert Arthur seufzend. „Charlotte hat es mir tausendmal erzählt. Bevor sie mich verlassen hat.“

„Was?“

„Also, Nicos Manager, der später auch mit den verbliebenen Joy Division-Mitgliedern auf Tour ging, kümmerte sich darum, dass Ari nicht nur ihre Schulden, sondern auch ein paar Tantiemen erbte. Als Ari die ersten Tantiemenzahlungen erhielt, gab er das Geld sofort für Heroin aus. Von da an nahm er täglich ein Gramm. Er ließ sich in Paris in die Psychiatrie einweisen. Kam runter vom Junk. Dann lag ein Scheck von Velvet Underground in seinem Briefkasten, mit dem er sich ein Ticket nach Raroia leistete.“

„Raroia?“

„Das ist natürlich auf Tahiti. Dort konsumierte Ari Valium, Pot und Bier, wurde zusammengeschlagen und verhaftet und jemand versuchte, ihn mit einer Harpune zu töten. Zurück in New York, verlor er dann völlig den Verstand. Auf Staten Island fiel er von einer Getreidemühle. Seitdem hat er Unmengen Metall in seinem Körper. Im Winter, den er auf der Straße verbrachte, fiel er auch noch in den Hudson River. Jedes Mal wurde er zufällig gerettet, wie eine Katze mit neun Leben.“

„Wie sein Vater, der Leopard“, sagt Sophie.

„Er hatte kein Geld und keinen Pass. Die Polizei brachte Ari wieder in die Psychiatrie, wo er Elektroschocks bekam. Ein Freund holte ihn da raus. Dann wieder Paris. Sein Vater, dieses rechtsradikale Schwein, verstieß ihn ein weiteres Mal. Und so weiter und so fort. All the children are insane. Und außerdem schreibt Ari seit 25 Jahren an einem Roman, der Sordide Sentimental heißen soll und garantiert nie erscheinen wird.“ Arthur schlägt mit der flachen Hand auf den Tresen. „Mir wird es bald ähnlich gehen, fürchte ich, wenn meine Tochter als ‚Clara’ auf die Welt kommt. Das ist der letzte Kick, den ich noch brauche, um genau den gleichen Weg zu gehen wie Ari Delon. Obwohl meine Mutter keine teutonische Chanteuse ist.“

„Es ist erstaunlich“, sage ich, „dass Alain Delon Herzprobleme hat. Das dürfte rein biologisch gar nicht möglich sein.“

„Das ist so, als würde ich unter erektilen Störungen leiden“, meint Sophie.

Aaron flüstert beschwörend, wie er es mitunter tut: „Mahnend zieht die Nacht den Mantel vor des Unterganges Tore und die Herzen fühlen alle, wer verloren, wer gewonnen.“

„Noch jemand Absinth?“ Arthur hält die Flasche hoch. „Geht aufs Haus.“

„Nein, geht er nicht“, ruft Tim, der aus der Küche kommt. „Hier geht gar nichts aufs Haus.“ Er macht die Musik aus, die Kinder sind still, selbst Lou Reed schweigt. „Gleich kommt mein Vater“, fügt der Besitzer noch müde und beinahe ängstlich hinzu. „Er ist ein bisschen eigen.“

„Aaron, mein Freund.“ Arthur legt seinen Arm um den Paradise-Barmann. „Wenn du eine Frau mit einer Pizza zurückgewinnen wolltest, welche Pizza würdest du dann backen?“

„Das kommt auf die Frau an.“ Aaron lacht.

„Nehmen wir mal an, bei dieser Frau handelt es sich um Charlotte.“

„Was ist denn mit Charlotte?“ fragt Sophie, die ich sehr gern mal ohne Aaron und ohne Arthur in einer weniger traurigen Berliner Bar treffen würde, doch in diesem Moment geht die Tür auf, eine eisige Winterböe weht in den Raum und von draußen aus der Finsternis tritt Tims Vater humpelnd ins Quatro Stagione all’Inferno.

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