Mittwoch, 19. Dezember 2007

Wannsee in Flammen

„Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, ich habe nun keines mehr“, sagte Arthur, als er mir von der erkalteten Pizza erzählte. Charlotte hat die Margherita nicht gegessen. Sie hat sie einfach im durchgeweichten Pappkarton auf ihrer Fußmatte liegen lassen, wo mein verzweifelter Freund sie am nächsten Tag – ungegessen, gleichsam als Tiefkühlpizza – wieder aufhob. Arthur aß sie dann eben selbst, für seine Verhältnisse langsam und ohne großen Appetit, doch er aß auch diese kalte, verrottete Margherita bis zum letzten Bissen auf. Natürlich aß er sie auf. Und jetzt stehen wir hier am Wannsee, wir stehen schon wieder an einem Grab, einem Selbstmördergrab, und warten auf Moby Dick.

„Ich bin innerlich so wund“, stöhnt mein Gefährte, „dass mir, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht weh tut, das mir darauf schimmert.“

„Das könnte auch mit deinem Kokainkonsum zu tun haben.“

„Why does my heart feel so bad?“ Mein Begleiter nimmt einen kräftigen Schluck Schweizer Absinth, den wir extra für diesen Ausflug aus Tim Verlaines Kellerversteck entwendet haben. „Wusstest du, dass Moby der Ur-Ur-Großenkel von Herman Melville ist?“

„Klar, das wusste ich. Aber ich glaube kaum, dass Moby Dick heute noch kommt. Könnte es möglicherweise so was wie eine Winterpause für Ausflugsschiffe geben?“

„Verdammte Scheiße“, murmelt Arthur.

Wir hatten beinahe schon dergleichen vermutet, als wir versuchten, das Menü zu buchen, wollten es aber nicht wahrhaben. Denn der Wannsee ist ja, das kann selbst ein Blinder erkennen, nicht zugefroren. Man braucht weder einen Eisbrecher, noch einen Walfänger, um dieses Gewässer zu befahren, nur Berlins beliebtesten Ausflugsdampfer Moby Dick sowie ein Ticket für Wannsee in Flammen. Ich wollte Arthur aufheitern, zumal er übermorgen Geburtstag hat und in Kürze Vater einer Tochter namens „Clara“ wird. Das Erlebnispaket Wannsee in Flammen auf der MS Moby Dick schien genau die passende Ablenkung zu sein: ein maritimes Abenteuer auf der Südseite der Stadt. „Wir können Ihnen zwar nicht die Sterne vom Himmel holen“, hatte die Reederei behauptet, „lassen aber auf imposante Art den Himmel für unsere Gäste erstrahlen.“ Ein spektakuläres Höhenfeuerwerk sollte uns in seinen Bann ziehen: „Der Wannsee im Feuerzauber, da heißt es: Alle Mann auf’s Oberdeck, Blick zum Himmel und staunen - Sie werden ‚Feuer und Flamme’ sein!“ – so die Reederei, so hatten wir uns das vorgestellt, Arthur und ich. Wir wollten unser Bordmenü, wie empfohlen, reservieren – Arthur das Kesselgoulasch mit Gemüse und Kartoffeln ergänzt durch das Eisdessert „Copa, ich selbst die Poulardenbrust mit Champignonsauce und Gemüsereis sowie Tiroler Apfelkuchen, danach vielleicht noch einen Kaffee und zwanzig Schnäpse –, doch niemand ging ans Telefon. Mein Freund und ich sind also direkt zum Wannsee gefahren. Und jetzt ist die Enttäuschung uferlos: Von Moby Dick keine Spur, der Ticketschalter war nicht mal besetzt. Nicht am Großen und auch nicht am Kleinen Wannsee, wo wir nun stehen, Absinth aus der Flasche trinken, ohne Feuerritual, und nicht weiterwissen. Vor uns das Kleist-Grab, morgen geht der Flieger nach Stavanger. Der Wannsee ist dunkel wie ein Friedhof zur Geisterstunde.

„Könnten wir nicht wenigstens eine kleine Mondscheinfahrt machen?

„Arthur, es fahren einfach keine Schiffe. Nicht im Winter. Lass uns nach Hause gehen und unsere Sachen packen. Norwegen ist herrlich. Allen UN-Statistiken zufolge das reichste, sicherste und gesündeste Land der Erde. Ein Paradies eben. Mit oder ohne Sophie.“

„Ohne Charlotte ist das Paradies für mich verriegelt.“

„Erstens geht es dir, wenn du mich fragst, gar nicht um Charlotte, sondern um Klara, beziehungsweise Clara. Und außerdem bleibt uns jetzt nichts anderes übrig, als diese Reise ans Ende der Welt machen, damit wir sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. Dieses verriegelte Paradies.“

„Was faselst du da eigentlich? Meinst du, wir müssten wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?“

„Allerdings“, sage ich, während mir die Grüne Fee bereits das Hirn vernebelt. „Das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“

„Du bist ein Idiot“, erwidert Captain Arthur. „Ich will ein Kesselgoulasch. Moby Dick. Den Wannsee in Flammen sehen!“

Und mein Freund schließt wieder seine Augen, unter der himmelhohen Eiche am Grab von Heinrich und Henriette, denen auf Erden einfach nicht zu helfen war – um diese Augen dann blitzartig weit aufzureißen:

„Moment!“ ruft er. Wannsee in Flammen! Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe!”

Gut zwei Stunden später, die Finsternis ist vollkommen, torkeln wir durch den Prenzlauer Berg. Wir mussten noch bei Arthur vorbeifahren, er wollte sein Löwenkostüm holen, was ich ihm jedoch ausreden konnte. Den Schuhkarton, diese abwechslungsreiche und schillernde, von Charlotte stets mit Befremden betrachtete Kollektion alter Liebesbriefe, trägt er indes unter dem Arm. Wie die Pizza vor einigen Tagen. Und wieder stehen wir vor dem selben Haus. Kein Mensch ist zu sehen, keine Nachtigall zu hören.

„Ist noch Absinth da?“ fragt Arthur, während er hektisch seine Taschen durchwühlt.

„Ein kleiner Schluck. Hier, für dich.“

Mein Freund setzt die Flasche mit der grünen Flüssigkeit an seine Lippen, der Wermut läuft ihm dabei über Gesicht und Hände. Er sieht aus wie ein Irrsinniger, selbst für mich. Was Fremde denken könnten, will ich mir gar nicht ausmalen. Dieses Haus hat keinen eigentlichen Vorgarten, sondern bloß einen schmalen Grünstreifen zur Straße hin, wo irgendjemand Rosen gepflanzt hat, die im Dunkeln bläulich schimmern.

„Was Kate Moss kann, kann ich auch“, sagt Arthur entschlossen und schüttet den gesamten Inhalt seines Schuhkartons neben dem Blumenbeet aus – Hunderte Liebesbriefe, wohlformulierte und legasthenische, deutsch- und fremdsprachige, mit Herzblut verfasste und verlogene, flattern über die Wiese. Ich meine, Ayşes Namen zu lesen. Charlotte. Julia. Keine Ahnung, wer Julia ist. Vielleicht hat Arthur sich diesen Brief selber geschrieben.

„So. Jetzt das Streichholz.“

Und Arthur Müller legt Feuer. Mit einem Streichholzbriefchen aus dem Quatro Stagione all’Inferno. Es breitet sich gemächlich, aber unaufhaltsam aus. Der eisige Dezemberwind. Ein Scheiterhaufen aus Liebesbriefen.

„Charlotte!“ ruft mein Freund und sein Gesicht wird schon vom Flammenschein erhellt. „Charlotte!“

„Pass auf“, sage ich.

„Das Feuer ist noch nicht groß genug.“

Arthur nimmt ein weiteres Streichholz, zündet es an – und schreit auf: Arthur brennt. Als ich es merke, brennt er wohl schon zehn Sekunden lang. Nicht nur die Liebesbriefe, sondern auch seine Hände stehen nun in Flammen. Ich denke einmal mehr an meinen Todestraum, das Höllenlicht, ich denke an Prag und Alphaville, verharre wie gelähmt auf der Stelle.

„Scheiße, der Absinth! Hilf mir doch!“

„Was soll ich denn machen?“

Mein Freund bewegt sich wie ein Veitstänzer, klopft mit den Händen wild auf den Boden, auf die Blumen, bis seine Finger nicht mehr brennen. Die Briefe aber brennen weiter.

„Was ist denn hier los? Ich glaub’, ich spinne!“

Ein Fenster ist aufgegangen und ein Hausmeistertyp im Feinrippunterhemd schaut heraus, das Handy in der Hand.

„Ihr habt se ja wohl nich’ mehr alle!“ brüllt er.

Dieser Mann, das steht fest, wird jetzt nicht nur die Feuerwehr oder die Polizei, sondern die Feuerwehr und die Polizei rufen, die Arthur und mich dann in ein Arbeitslager bringen werden. Die Kosten für die zertrampelten Rosen nicht zu vergessen. Was für ein verdammtes Balagan. Doch Arthur sieht ihn nicht mal, diesen Hausmeister, obwohl er bloß wenige Meter entfernt ist. Mein Freund starrt nach oben, zur dritten Etage, denn dort steht Charlotte. Auf ihrem Balkon. Trotz des entfesselten Feuers, das nunmehr auf das gesamte Rasenstück übergegriffen hat und vermutlich den Prenzlauer Berg mit all seinen Kinderwagen und Bier- und Bionadetrinkern in Schutt und Asche legen wird, kann ich nicht erkennen, ob sie lächelt oder weint, mädchenhaft errötet oder ausspuckt. Sie steht dort, im weißen Nachthemd, auf ihrem Balkon, die Hand an der Wange, und schaut auf uns und die brennenden Briefe herab.

Und Arthur schaut zu ihr hoch.

„Charlotte!“ ruft er mit silbern-süßer Stimme. „Charlotte! Ich fliege morgen nach Norwegen.“


[Dies ist das letzte Kapitel der zweiten Staffel der Geschichte von Arthur und mir und der Welt. Balagan Blues dankt allen Lesern und Unterstützerinnen, Freunden und Feinden. Doch die Reise muss weitergehen. 2008 wird wie kein anderes Jahr zuvor im Zeichen des Balagans stehen. Near. Far. Wherever you are.]

2 Kommentare:

Kaptein Japp hat gesagt…

keine Probleme - nur Herausforderun!

Anonym hat gesagt…

Probleme? Arthur Müller liebt solche Tage...