Sonntag, 30. September 2007

Marcello Mastroianni



Das Jahr: 1987. Die Stadt: München. Die Band: Silicon Dream.
Der Künstler: Klaus Munzert. Die Tänzer: Angelo & Danny. Der Song: "Marcello The Mastroianni"

Donnerstag, 27. September 2007

Dire Straits

„‚Der DJ legt chillige Musik auf. Der Raum ist in rötliches Licht getaucht. Mal geht ein Bier, mal ein Energy-Drink über den Tresen. Alles im Safe-Club deutet auf einen ganz normalen Discoabend hin. Doch etwas ist anders: Niemand tanzt, niemand steht herum. Diszipliniert sitzen die Besucher an wabenförmigen Tischen. Pokertischen.’“ Arthur reicht mir die neueste Ausgabe des Kundenmagazins der Berliner Sparkasse. „Findest du es seriös“, fragt er mich, „dass ausgerechnet die Sparkasse das allgemeine Pokerfieber noch weiter anheizt? Schau mal hier: ‚Onlinepoker zu Livepoker – das ist wie Onlinesex zu echtem Sex.’ Bei so einem Institut würde ich mein Geld jedenfalls nicht anlegen.“

„Du hast kein Geld“, sage ich, „deshalb sind wir ja hier.“

Sparkasse, Hackescher Markt. Bunte Blätter bedecken die Piazza, wir bringen mal eben unsere Schäfchen ins Trockene. Die Schlange ist erschreckend lang. Arthur und ich warten darauf, dass sein ganz persönlicher Berater ein paar Minuten für ihn erübrigen kann. Ich musste meinem Freund versprechen, ihn zu diesem Anlass – völlig aussichtslose Verhandlungen über eine eventuelle Erhöhung seines Dispo-Kredits – zu begleiten. Ohne mich würde er das nicht durchstehen, sagte er. Arthur Müller in einer Sparkassenfiliale – das ist tatsächlich wie Bin Laden im Pentagon, wie Liam Gallagher auf der Geburtstagsfeier seines Bruders Noel, wie Ariel Sharon auf dem Tempelberg: die Höhle des Löwen erscheint dagegen als Streichelzoo. Doch Arthur blieb schlicht keine Wahl. Er ist den ganzen Weg hierher zu Fuß gegangen, weil er kein Geld für die U-Bahn hatte und bereits wegen mehrfacher Beförderungserschleichung von der Justiz verfolgt wird. Die Hitze in diesem Raum ist kaum auszuhalten. Über einem Kontoauszugsdrucker hängt ein Plakat. Es zeigt ein junges Liebespaar auf einem Balkon und soll vermutlich zu besonders passioniertem Sparen animieren.

Juliet, the dice were loaded from the start

„Als ich vorhin online meinen Kontostand prüfen wollte“, erzählt Arthur jetzt, „ist mein Rechner zweimal abgestürzt. Wahrscheinlich wird mein persönlicher Berater sofort die Polizei rufen. Oder ein Killerkommando.“

„Tot nützt du ihnen gar nichts.“

„Doch. Sie könnten sich auf diese Weise immerhin an meinem Zahngold bereichern. Ist dir bewusst, wie hoch der Goldpreis zur Zeit ist?“

„Nein“, antworte ich, „das ist mir nicht bewusst. Wieso hast du dein Konto eigentlich bei dieser Filiale hier?“

Sein Gesicht nimmt einen träumerischen Ausdruck an: „Damals, als ich vom Kottbusser Tor an den Hackeschen Markt gewechselt bin, hatte ich noch den Anspruch, ein Mover and Shaker zu werden. Und dieser Anspruch sollte sich auch in der Wahl meiner Sparkassenfiliale manifestieren.“

„Verstehe. Klingt natürlich besser als ‚Stadtsparkasse Castrop-Rauxel’.“

Die Schlange bewegt sich keinen Zentimeter. Ganz Mitte lebt offenbar über seine Verhältnisse.

„Ich könnte vielleicht“, sinniert Arthur, „notfalls die Weltbank um einen Kredit bitten.“

„Wenn irgend jemand Entwicklungshilfe verdient, dann du.“

„Falls das hier heute nicht klappt, werde ich sofort Bob Geldof – Sir Bob Geldof – oder Bono anrufen. Auf die ist immer Verlass.“

„Du könntest so viel unbeschwerter leben“, sage ich. „mit der flexiblen Kopf-Frei-Vorsorge und staatlicher Förderung. Hast du eigentlich schon mal über deine Rente nachgedacht?“

„Renteneintrittsalter: sofort. Das werde ich gleich in die Wege leiten.“

„Wie geht’s Charlotte?“ frage ich.

„Ich habe den Dispo-Kredit ja damals eigentlich beantragt“, sagt Arthur, „damit mein Konto zukünftig genauso spontan reagiert wie ich.“

„Du hättest lieber ein KNAX-Konto eröffnen sollen“, sage ich. „Da gibt’s keinen Dispo.“

„Was für ein Konto?“

Mein Freund weiß nicht, wovon ich rede. Seine Eltern, behauptet er ernsthaft, hätten ihm in seiner Kindheit das von ihm dringlich gewünschte eigene Konto verwehrt, damit er auf gar keinen Fall den korrekten Umgang mit Geld erlernen würde – eine Strategie die sich fraglos als erfolgreich erwiesen hat. Ich selbst hingegen besaß – wie fast jedes Kind, glaube ich – ein KNAX-Sparkonto, auf das immer mal wieder ein paar Mark meines Taschengeldes flossen. Die Rendite nach zwölf Monaten betrug etwa siebzig Pfennig. Ich erinnere mich daran ohne jede Sentimentalität, eine etwaige Generation KNAX wollen wir hier gar nicht erst heraufbeschwören. Denn schon damals empfand ich die alle zwei Monate erscheinenden Comic-Hefte, die den juvenilen Kontoinhaber durch das Jahr begleiteten und immer noch begleiten, als eher humorlos und etwa so unterhaltsam wie die Apotheken Umschau, obgleich mir zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht klar war, mit welch skrupelloser kapitalistischer Indoktrination ich es zu tun hatte.

„Sei froh, dass du damit verschont wurdest“, sage ich zu Arthur.

Ich schere kurz aus der Schlange aus und bitte die Dame am Schalter um die aktuelle Ausgabe des KNAX-Magazins. Plötzlich kommt alles zurück: Die entlegene Insel Knax, wo das Volk der Knaxianer in einer mittelalterlichen, auf Agrarwirtschaft basierenden Dorfgemeinde haust. Diese Menschen, die Namen wie Pomm-Fritz, Pomm-Friedel und Pierre Kattun (der Schneider und Künstler) tragen, sind beinahe ausschließlich mit Arbeiten und Putzen beschäftigt, bisweilen gibt’s zur Belohnung ein gutes Essen. Doch das Böse ist nicht weit: Die Feinde der fleißigen Knaxianer hausen auf Burg Fetzenstein – eine faule Schar finsterer Räuber, angeführt vom Hauptmann Fetz Braun, die ewig danach trachtet, den Knaxianern die Früchte ihres redlich erworbenen Reichtums abzuluchsen. Naturgemäß ohne Erfolg. Zur Strafe muss Fetzens Bande am Ende jeder Episode härteste Sklavenarbeiten für die Knaxianer verrichten.

„Aber diese Faulpelze haben es ja auch nicht anders verdient“, sage ich.

„Ich identifiziere mich bereits jetzt mit der tragischen Figur des Fetz Braun“, erwidert Arthur. „Wir müssen uns Fetz Braun als einen glücklichen Menschen vorstellen.“

„Die Helden der Geschichten sind ein Junge und ein Mädchen, die offenbar keine Erziehungsberechtigten haben. Man denkt immer, nun könnte sich doch mal eine Romanze zwischen den beiden entwickeln, doch natürlich kommt es nie dazu. Sie heißen Dodo und Didi.“

„Dodi und Di?“ Arthur lacht.

„Natürlich gibt es auf der Insel KNAX auch eine Sparkassenfiliale. Außerdem veranstalten die deutschen Sparkassen jedes Jahr die so genannte KNAXIADE, die der körperlichen Ertüchtigung der deutschen Kinder dienen soll und verdächtig paramilitärische Züge trägt.“

„Warum nennen sie es nicht einfach Spartakiade?“

Ich blättere das Heft durch. Abgesehen von einem Interview mit irgend einer Teenie-Band, in dem deren Mitglieder übers Sparen an sich philosophieren, und ein paar DVD-Tipps hat sich seit den Achtzigern praktisch nichts verändert. Selbst die im Jahr 2007 völlig anachronistisch anmutende Brieffreundschaftsseite existiert noch. Einen Moment lang bin ich fast gerührt. Allerdings erscheint es heutzutage befremdlich, dass dort Kontaktgesuche neunjähriger Mädchen mit vollem Namen und Adresse abgedruckt sind.

„Vielleicht solltest du lieber im KNAX-Heft inserieren“, sage ich. „Zum Beispiel: ‚Arthur Müller (31). Quadrat U6 Hausnr. 14, 68161 Mannheim. Hobbys: mein Meerschweinchen Mimi, Reiten, Chatten, Diddl sammeln, KNAX lesen sowie Postmoderne Frauen.’“

„Einen Moment, bitte“, entgegnet Arthur.

And I bet and you exploded in my heart

Mein Freund öffnet seine Umhängetasche und holt einen alten Bekannten heraus – den Schuhkarton. Während die anderen Menschen in der Schlange kleine Ordner mit Kontoauszügen in den Händen halten, trägt Arthur seine Privatkollektion amouröser Briefe bei sich – Auszüge und Momentaufnahmen eines permanent zwischen Soll und Haben oszillierenden Liebeslebens.

„Der Schuhkarton“, sage ich.

„In der Tat.“

„Ich dachte, Du hättest dich, nun ja, von ihm gelöst.“

„Schon möglich“, erwidert Arthur. „Aber hierher, an diesen kalten und entfremdeten Ort, musste ich ihn einfach mitnehmen. Ich brauche jetzt ein bisschen Liebe, ein bisschen Poesie.“

„Das leuchtet ein.“

„Außerdem sind zwei neue hinzugekommen.“

„Liebesbriefe?“

„Nicht direkt Liebesbriefe. Es sind E-Mails. Zwei Individuen haben auf meine Annonce geantwortet.“

Zunächst will ich es nicht glauben. Doch tatsächlich belegt die Adresszeile beider Ausdrucke, die Arthur mir nun präsentiert, dass es sich um Bewerbungen an postmoderngirl@gmx.li handelt. Seine Anzeige in einem Berliner Stadtmagazin trägt also erste Früchte – wenngleich nicht die schmackhaftesten und, vor allem, nicht die postmodernsten, wovon das erste Schreiben Zeugnis ablegt.

„‚Hallihallo’“, liest Arthur mit gequälter Miene vor. „‚Vielleicht bin ich nicht gerade super-hyper-postmodern, aber ich arbeite immerhin bei der Post und habe auch sonst eine Menge zu bieten. Ich bin sehr humorvoll und finde, jeder Tag ohne Lächeln ist ein verlorener Tag. In meiner Freizeit singe ich übrigens in einer Rock-Gruppe.’“ Mein Freund schaut mich an. „Rock-Gruppe. Das steht da wirklich. Und dann: ‚Unser halbes Dutzend Fans sagt, wir klingen wie eine Mischung aus Silbermond und Wir sind Helden...’“

„Okay, das reicht“, sage ich.

„Allerdings.“ Arthur zerknüllt den Zettel mit einer Hand und wirft ihn in den Papierkorb neben den Kontoauszugsdruckern. „Das Ganze auch noch ohne Foto. Und ein extrem detaillierter Lebenslauf ohne Geburtsdatum. Als Personalchef hat man’s nicht leicht. Die zweite Bewerbung klingt da wesentlich interessanter.“

„Lies vor.“

„Es ist nur ein einziger Satz, hör’ zu: ‚Die postmoderne Frau ist – ebenso wie der postmoderne Mann – unsternbedroht und dem Untergang geweiht; der Sinn liegt aber in der Suche selbst.’“

Unsternbedroht? Was ist denn das für ein Wort?“

„Keine Ahnung. Aber es klingt nicht gerade positiv.“

„Irgendjemand spielt da mit dir. Vielleicht Charlotte und Lulu. Oder Klara.“

„Glaub’ ich nicht.“ Er schüttelt den Kopf. „Wie sollen die davon wissen? Die Absenderadresse erlaubt jedenfalls keinerlei Aufschlüsse.“

„Wirst du antworten?“ frage ich.

And I forget the movie song
when you wanna realize it was just that the time was wrong, Juliet?

In diesem Moment tritt ein silberhaariger Mann vor uns aus der Schlange und verkündet wutschnaubend, dass er angesichts dieser DDR-Wartezeiten hier lieber die Bank wechseln wolle, als sich noch weiter die Beine in den Bierbauch zu stehen. Doch niemand außer uns hört ihm zu – und niemand außer Arthur und mir bemerkt, dass der flüchtende Herr ein T-Shirt mit dem verwaschenen Aufdruck Dire Straits trägt.

„Dire Straits“, murmelt Arthur. „Auch kein schlechter Name. Noch eine Lieblingsband von Diana.”

„Der Fall liegt aber wesentlich komplizierter als bei Duran Duran oder Chris de Burgh“, sage ich. „Dire Straits haben sich nämlich erst graduell zu einem durch und durch abstoßenden Produkt entwickelt.“

Man muss sich das mal vorstellen: Im explosiven Punk-Jahr 1977 drehen Mark Knopfler und seine Angestellten in den Pubs die Verstärker herunter, damit das Publikum während der Show Konversation betreiben kann. Fast schon wieder subversiv, könnte man meinen. Die ersten beiden Platten klingen leicht und lässig. Doch bald folgt bekanntlich Stadionrock der übelsten Sorte. Dire Straits gerieren sich schwerfällig, bieder und gierig, verseuchen den Äther mit Musiksondermüll wie „Walk of Life“. Sie werden gewissermaßen zur Sparkasse unter den Gitarrenbands – ebenso vermögend, so omnipräsent und so langweilig. Nicht umsonst tummeln sich auf den Konzerten Tausende ganz persönliche Sparkassenkundenberater in bunten kurzärmligen Hemden, die dann vor allem bei „Money for Nothing“ lauthals mitsingen.

„Mit dem Album Making Movies etwa kippte das Ganze“, bemerke ich. „,Romeo and Juliet’ ist schon ein Grenzfall.”

Arthur nickt: „Stimmt. Herr Knopfler bewegt sich hier auf äußerst dünnem Eis: ‚Juliet, when we made love you used to cry – you said I love you like the stars above, I’ll love you, baby, till I die!’ Das ist nicht romantisch. Das ist Kitsch.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Zumal die Vergeblichkeit dieser Liebe immer wieder betont wird: The dice were loaded from the start. Du musst das Ganze auch vor dem Hintergrund des Shakespeare-Stücks sehen – und das ist ja wohl romantisch.“

„Ich hasse Shakespeare.“

„Shakespeare kann man nicht hassen“, erwidere ich. „Das ist so, als ob man Pizza hassen würde. Oder Bier.“

„Ich mag Pizza“, sagt mein Freund versonnen. „Und Bier auch. Charlotte liest immer Shakespeare auf ihrem kleinen Balkon. Handelt der Dire Straits-Song ‚Tunnel of Love’ eigentlich von Princess Diana und ihrem Dodi?“

Wir sind jetzt die ersten in der Schlange. Die große Schlacht steht kurz bevor.

„Außerdem“, fahre ich fort, „zitiert ‚Romeo and Juliet’ ja noch Passagen aus West Side Story, also einer modernen Shakespeare-Variation. Dire Straits liefern hier ein vorzügliches Beispiel für postmoderne Romantik.“

„Na ja.“ Arthur ist skeptisch.

Im meinem Kopf entsteht ein gewaltiges Balagan, doch – infiziert vom Morbus Arthur Müller – kann ich mich nicht mehr beherrschen: „Die Familien von Romeo und Juliet“, sage ich, „sind ähnlich verfeindet wie die Knaxianer und Fetz Brauns faule Bande. Allerdings steht in diesem Fall das todgeweihte Liebespaar – also Didi und Dodo – auf der selben Seite, während Di und Dodi... Bürgerblut befleckt jedenfalls Bürgerhand.“

Doch während ich noch über Didi und Dodo, Dodi, Di und Dire Straits nachdenke, merke ich, wie ein Zittern durch den Körper meines Freundes geht. Wir sind dran. Arthurs persönlicher Bankberater, ein sympathischer Mann Ende dreißig, den mein Freund angeblich schon mal bei einem New Order-Konzert getroffen haben will, nickt uns aufmunternd zu. Den Telefonhörer in der Hand, deutet er mit einer entschuldigenden Geste auf zwei gemütliche Sessel, in die wir uns ganz unbeschwert fallen lassen. Arthur stellt seinen Schuhkarton auf dem Boden ab.

„Ich kann das nicht“, flüstert er, während der Herr von der Sparkasse noch telefoniert, „der Typ trägt eine Simpsons-Krawatte!“

Tatsächlich: Marges dunkelblau leuchtende Turmfrisur ist gut zu erkennen.

„Pokerface, bitte“, sage ich und nehme seine Hand. „Er wittert es, wenn du Angst vor ihm hast.“

Mittwoch, 26. September 2007

Disappear Here



"Ja, und dann brechen sie auf, pathetisch und sinnlos,
in einem viel zu kleinen Boot."

Montag, 24. September 2007

Herz aus Glas [Kanallandschaft mit Pocahontas]

„Ich werde dieses Glas ganz sicher nicht kaufen“, sagt Lulu und bläst mir Mentholrauch ins Gesicht.

„Wovon redest du überhaupt?“

Schon wieder ist Markttag, Lulu Lilienblum und ich sitzen draußen vor der Ankerklause am Kanal im Halbschatten der Kastanie und warten auf Arthur und Charlotte, die lange überfällig sind. Noch darf ich Lulus Bettkantengeschichten also alleine lauschen – im Zusammenspiel mit ihrer Erscheinung entfalten sie eine durchaus hypnotische Wirkung. Sie trägt einmal mehr ihre stets mit kaum sichtbaren Schlammspuren behafteten Prada-Gummistiefel, als käme sie gerade vom Glastonbury Festival. Lulu, das denke ich heute nicht zum ersten Mal, sieht ein bisschen aus wie eine glamourösere Indie-Variante von Pocahontas, eine Indieanerin sozusagen, wobei ich hier natürlich nicht das Disney-Püppchen meine, sondern die – sehr persönliche – Pocahontas in meinem Kopf. Ich habe Lulu im Rausch schon mal gefragt, woher das käme, warum sie so aussähe wie eine Häuptlingstochter, doch sie verstand die Frage nicht. Ihre Eltern stammen jedenfalls aus Niedersachsen. Ich bin mir sicher, dass ihr die Herkunft meiner Eltern gänzlich unbekannt ist, obwohl Lulu mich meistens so behandelt, als hätten wir einander viele Male nackt gesehen oder zumindest gemeinsam im Luftschutzbunker gesessen. Die Wahrheit ist: Einen Bunker haben wir lediglich im Rahmen einer streng geheimen Party besucht. Und nackt standen wir uns exakt einmal gegenüber. Manchmal glaube ich dennoch, sie könne direkt, wie durch eine frischpolierte Glasscheibe in mein Hirn und in mein Herz sehen. Und während sich die schwerbeladenen Marktkunden an unserem Tisch vorbeiwalzen und die Jukebox drinnen die Elvis-Version von „Fever“ spielt, trinkt Lulu-Pocahontas, die zuverlässig alles durcheinanderbringt, gegen halb sechs am Nachmittag den ersten Grasovka-Wodka, und ich auch, denn was bleibt mir schon anderes übrig.

Once I had a love and it was divine.

„Dieser Typ“, berichtet sie, „hatte zwei CD-Ständer – einen für Frauen und einen für Männer. Weibliche und männliche Interpreten. Beide natürlich alphabetisch sortiert.“

„Ich frage mich, wo man den Sänger von Throbbing Gristle einordnen würde“, sage ich.

„Was?“ Lulu entblößt ihre Zahnlücke. „Es war wirklich ein Unfall. Wir waren beide eingeschlafen, dabei wollte ich eigentlich nachhause gehen.“

„Das war letzte Nacht?“

„Ja. Keine gute Nacht.“ Sie wirft mir einen Killerblick zu. „Aber gute Nächte sind sowieso rar gesät.“

Ich nicke: „Sie sind geradezu vom Aussterben bedroht.“

„Ich weiß nicht, warum das immer so anstrengend sein muss. Ich bin, wie gesagt, plötzlich aufgewacht, weil ich vor Durst nicht mehr schlafen konnte. Weißt du – wenn man von Wasserhähnen träumt?“

„Klar. Und das wirkliche Wasser schmeckt dann natürlich niemals so gut, wie man es im Traum erwarten würde.“

„Es war alles dunkel“, erzählt Lulu, „ich war verschlafen und kannte mich in dieser Scheiß-Wohnung nicht aus. Die Küche habe ich aber gefunden. Und da standen noch die beiden riesenhaften Angeber-Weingläser, aus denen er mir einen 97er Bordeaux serviert hatte.“ Sie schaut so verächtlich, als hätte der One Night Stand ihr Aldi-Red Bull – also Sitting Bull – vorgesetzt. „Die Gläser hat er dazu nicht etwa aus dem Regal genommen, sondern aus der Originalverpackung. Er besaß nämlich auch noch die Weißwein- und Champagner-Variante und was weiß ich.“

„Was für ein Idiot“, sage ich und frage mich, wo Arthur und Charlotte eigentlich bleiben. Wahrscheinlich zerschlagen sie gegenseitig ihre Lieblingsplatten.

„Na ja, er hat ja geschlafen, geschlafen und geschnarcht. Ich habe mir also mal ganz locker angemaßt, aus einem der Bordeaux-Gläser ein bisschen Leitungswasser zu trinken. Keine Ahnung, was dann passiert ist – aber irgendwie war das Glas plötzlich kaputt. Die Scherben lagen in der Spüle.“

„Gut so.“

Sie lacht: „Das Beste ist: Der Typ ist nicht mal aufgewacht. Er hat einfach weitergeschlafen. Ich dachte: „Scheiß drauf!“, und habe mich einfach wieder neben ihn gelegt. Natürlich hätte ich nach Hause gehen sollen.“

„Das habe ich mir manchmal auch schon gesagt. Wie hast du den eigentlich kennen gelernt?“

„Frag’ nicht.“ Drei schöne Ringe, die wie Rauchzeichen durch die Ankerklause schweben. „Eine Stunde später oder so – mitten in der Nacht – bin ich schon wieder aufgewacht. Von einem gellenden Schrei und einem Trampeln, als würde eine Scheiß-Büffelherde durch die Wohnung laufen.“

„Der Typ hat getrampelt?“

„Ja. Getrampelt. Wie Rumpelstilzchen ist er rumgehüpft, als ob er einen Kriegstanz aufführen würde oder so. Er hat wirklich geschrien wie ein verblutendes Schwein am Spieß. Wegen dem verdammten Glas! Weil er jetzt nicht mehr sechs Bordeaux-Gläser hatte, sondern nur noch fünf.“

„Wenn du mich fragst, hättest du spätestens zu diesem Zeitpunkt gehen sollen.“

„Natürlich.“ Lulu leert ihr Wodka-Glas. „Aber ich konnte mich kaum bewegen. Es war fünf Uhr morgens. Ich hatte keinen Cent. Ich wusste nicht mal genau, in welchem Bezirk ich mich eigentlich befand.“

„Verstehe.“

„Ich habe also gesagt: ‚Junge, du bist jetzt mal still, du gehst jetzt wieder schlafen und morgen kauf’ ich dir ein neues Glas.’ Damit ich meine Ruhe habe. Und er war wirklich plötzlich ruhig und hat gesagt: ‚Okay, okay’, und ist wieder unter die Decke gekrochen. Er wollte sogar noch mal poppen, aber ich hab’ geflüstert: ‚Nur wenn ich die anderen Gläser auch noch kaputtmachen darf.’ Und er meinte nur, ich hätte keinen Stil und hat sich weggedreht.“

„Hat er das wirklich gesagt?“

„Würde ich dich anlügen?“

„Daran zweifle ich keine Sekunde. Aber ich schätze immerhin deinen Stil.“

Lulu blickt mich spöttisch an. Selbst wenn man ihr ein ironisch gebrochenes Kompliment schenkt, schaut sie immer, als würde sie gleich in gellendes Gelächter ausbrechen. Zugleich scheint sie alles aufzunehmen, was rundherum passiert: das urban-maritime Kanalambiente an der Kottbusser Brücke. Die Lautsprecherdurchsagen auf den vorbeifahrenden Touristenbooten. Den Mann mit dem Clash-T-Shirt, der Lulu vielleicht gefallen könnte. Die moldawische Bettlerin. Zwei, drei elefantöse Burkaträgerinnen. Menschen, die offenbar alles kaufen, was man auf diesem Markt kaufen kann – Obst und Gemüse, Stoffe, Unterwäsche, Toaster, herrliche Glasperlen im Apachenstil. Ich konzentriere mich eher auf Lulu.

Soon found out I was losing my mind.

„Ich bin jedenfalls bald darauf wieder aufgewacht“, berichtet sie, „und hab’ auf die Uhr geguckt, es war sieben und viel zu hell draußen. Und der Typ saß in einem Bademantel – einem gelben Bademantel – an seinem Schreibtisch und schrieb irgendwas auf einen Zettel.“

„Ein Gedicht für dich?“

„Sowas Ähnliches. Ich hab’ ihn gefragt, was er da schreibt, und er sagte nur: ‚Ach, auch schon wach?’, und drückte mir den Zettel in die Hand. Ich konnte es nicht fassen.“

„Was stand denn drauf?“

Lulu greift in ihr Handtäschchen und zieht ein Stück Papier heraus.

„Hier. Lies selbst. Sonst glaubst du’s nicht.“

Auf dem Zettel steht in prätentiös geschwungener Schrift „Schott Zwiesel – Bordeaux – 8015/22“ sowie die Adresse eines Geschäfts für Gastronomiebedarf in Wilmersdorf und die Anschrift des Glas-Fetischisten, Manuel mit Namen.

„Das glaube ich nicht“, sage ich.

„Siehst du. Ich wollte den Zettel ja sofort zerreißen, aber ohne Beweisstück hätte mir wieder keiner geglaubt. Ich habe mich angezogen und bin gegangen. Im Rausgehen musste ich natürlich noch ein Glas zerbrechen. Er hat mir irgendwas Hysterisches hinterhergerufen.“

„Das ist doch eine nette Geschichte für Delirious Dirt“, sage ich.

„Ich sehe da kein Delirium und auch nichts Dreckiges. Nur Dummheit.“

„Und Stilbewusstsein.“

„Dann schon lieber einen Herzschrittmacher.“ Lulu lacht wieder mit Zahnlücke.

„Wenigstens hast du ihm nicht das Herz, sondern lediglich zwei Weingläser gebrochen“, sage ich.

Mir kommt ein Werner Herzog-Film in den Sinn, den ich vor kurzem noch mal gesehen habe: Herz aus Glas. Er spielt in einer Glashütte in einem finsteren, romantisch verklärten Bayern des 19. Jahrhunderts. Der große Glasbläsermeister ist gestorben und hat, zu dumm, die Geheimrezeptur für die Rubinglasherstellung mit in die ewigen Jagdgründe genommen. Das Dorf verfällt daraufhin in eine tiefe Depression. Ein Hellseher, eine Art Schamane namens Hias, soll Abhilfe schaffen und dem Totenreich das Geheimnis entlocken. Doch seine Visionen künden einzig von Wahnsinn und Apokalypse – und wenn man will, kann man dabei natürlich ans heraufdämmernde 20. Jahrhundert denken. Muss man aber nicht. Man kann sich auch einfach immer wieder die hypnotische Eingangssequenz ansehen, die einen Wasserfall zeigt. Minutenlang. Herz aus Glas kommt vermutlich den in den Tempelhof-Katakomben verbrannten Filmen, so wie mein Freund und ich sie uns gerne vorstellen, recht nahe. Nicht den Nazi-Pornos, sondern jenen Werken, die diesseits des Paradieses – so Arthurs Formulierung – schlicht nicht dechiffrierbar erscheinen, weil der Code vor langer Zeit vergessen wurde. Der Film macht das Bekannte unbekannt und vertraut bis zum letzten Moment verzweifelt auf ein anderes Sehen außerhalb der Normalität. Er ist verwirrend, verwildert und verwegen. Am Ende besteigen vier Männer ein winziges Boot, um ans Ende der Welt zu gelangen. Sie wollen mit eigenen Augen sehen, ob sich dort wirklich ein Abgrund befindet. „Wenn ich gehe, geht ein Bison“, hat Herzog mal gesagt.

It seemed like the real thing but I was so blind,
mucho mistrust love's gone behind.

„Fast alle Schauspieler außer dem Hellseher standen während der Dreharbeiten unter Hypnose“, erkläre ich Lulu.

„Wenn ich nur den Namen Werner Herzog höre, schlafe ich schon ein.“ Sie gähnt. „Was ist denn das überhaupt für eine Art? Wenn ich hier im Anker ein Glas kaputtmache, muss ich es ja auch nicht bezahlen. Und mit dem Anker habe ich nicht mal Sex.“

„Wer will hier keinen Sex mit dem Anker haben?“ fragt Arthur, der Arm in Arm mit Charlotte aus der vorbeiziehenden Masse heraus an unseren Tisch tritt. „Er oder sie möge sofort diesen Laden verlassen!“

„Hallo, Charlotte!“ sage ich. Sie küsst uns beide auf die Wange, mein Freund verschwindet grinsend Richtung Bar.

„Haben wir irgendwas verpasst?“ fragt sie mit einem hinreißenden Lächeln, das mich beinahe erschreckt. Das blaue Kleid hat wirklich eine umwerfende Wirkung.

Lulu versetzt mir unter dem Tisch einen Gummistiefel-Tritt. Ich trete zurück, denn ich weiß, was sie meint.

„Ich geh mal Musik machen“, sage ich. „Bitte keine Gläser zerstören, Lulu.“

„Bring Wodka mit“, erwidert die feuerwasserfeste Indianerprinzessin. „Und Bionade.“

Drinnen an der Jukebox treffe ich Arthur, der sich bei jedem Anker-Besuch unverzüglich „Nazi Rock“ von Serge Gainsbourg wünscht und heute so friedfertig wirkt wie sonst nur in Ecstasy-Nächten. Sein Gesicht ist – ähnlich wie das seiner Freundin – von einem glühenden Glanz überzogen.

„Ich habe schon wieder zwei Fragen“, sage ich. „Erstens: Wie viele Friedenspfeifen habt ihr geraucht? Zweitens: Hast du schon mal überlegt, deine Plattensammlung nach Geschlechtern zu sortieren?“

Er lächelt: „Was wollen wir trinken? Was wollen wir hören?“

„Bisongrashalmwodka. Oder ist es Büffelgras? Bier. Bionade. Und Blondie. Bitte.“

„Die Hündin oder die Band?“

„Heart of Glass.“

„Eine vortreffliche Wahl“, sagt Arthur, während es draußen am Kanal langsam kalt und dunkel wird, die Marktleute ihre Stände abbauen, Charlotte und Lulu hinter der Scheibe nach uns winken und dem Kellner ein volles Tablett aus den Händen fällt, so dass literweise Fassbier durch die Ankerklause fließt. Ein festlich beleuchtetes Schiff fährt vorbei, vielleicht nur bis zur nächsten Brücke, vielleicht auch noch weiter.

Freitag, 21. September 2007

Mittwoch, 19. September 2007

This Side of Paradise

„Ich bin nicht sentimental!“ ruft Arthur und streckt alle Glieder von sich. „Nein, nein, nein!“

„Doch, bist du. Ich versteh’ nicht, was mit dir los ist.“

„Ein sentimentaler Mensch glaubt, die Dinge blieben so, wie sie sind.“ Mein Freund spricht jetzt mit geschlossenen Augen, was ausgesprochen arrogant wirkt. „Ein romantischer Mensch hingegen vertraut verzweifelt darauf, dass sie eben nicht so bleiben, wie sie sind.“

„Wer sagt das?“ will ich wissen.

„Ich.“

„Ich finde, du wirst jeden Tag sentimentaler. Seitdem du in der Jewish Princess auf den Tresen gefallen bist.“

„Vielleicht hatte ich dort eine Art Vision. Vielleicht auch nicht.“

Arthur öffnet noch immer nicht die Augen, verharrt auf dem marmorierten Untergrund.

„Ich frage mich nur“, sage ich, „was wir hier eigentlich machen. Was du hier machst.“

„Ich will ja gar nicht, dass dieser Flughafen so bleibt, wie er ist. Ich fordere eine neue Blüte. Eine Renaissance des Sublimen.“

Seit einigen Minuten stehe ich im Hauptgebäude des Tempelhofer Flughafens. Diese so genannte Ehrenhalle hat einiges an Pracht und Monumentalität eingebüßt, nachdem in den fünfziger Jahren eine bedrückend niedrige Zwischendecke eingezogen wurde. Ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin. Oder doch: Ich bin allein deshalb hier, weil Arthur mich gerufen hat. Ich solle sofort herkommen, hat er gesagt, es sei dringend, ich müsse ihm bei etwas helfen, hier am einstigen Zentralflughafen. Tempelhof ist der einzige scheintote Airport der Welt, denke ich. Das Gebäude ist zwar wie ausgestorben, doch der Flugverkehr ruht keineswegs komplett – darauf lassen nicht nur die Lautsprecherdurchsagen schließen. Die Metapher vom schlafenden Riesen drängt sich hier förmlich auf. Und Arthur sitzt mitten in dieser gewaltigen Ehrenhalle auf dem Boden, an einen alten Propeller gelehnt, und weigert sich, aufzustehen.

„Arthur, es ist zwölf Uhr mittags. Du siehst aus, als hättest du drei Nächte nicht geschlafen. Was machst du hier?“

Mein Freund schaut mich mit glasigen Augen an, ich prüfe seine Pupillen, doch die wirken eigentlich ganz normal, soweit ich das beurteilen kann.

„Ich wollte einen Flug buchen“, sagt er schließlich.

„Einen Flug?“

„Nach Tel Aviv.“

„Du wolltest von Tempelhof nach Israel fliegen?“

„Du hast mich sehr gut verstanden.“ Arthur schließt wieder die Augen. „Aber ich hatte kein Geld. Der Geldautomat vorhin hat sogar nach mir geschnappt.“

„Ich gehe“, sage ich und setze auch tatsächlich dazu an, doch mein Freund hält sich mit beiden Armen an meinem Bein fest, wie es garstige Kinder mitunter tun.

„Eine Frau hat sich auf meine Annonce beworben“, sagt er.

„Was für eine?“

„Sabine Christiansen.“

Arthur lächelt. Ich nicht.

„Ich bin mir sicher, es hat überhaupt niemand geantwortet“, sage ich. „Und wahrscheinlich wird auch niemand antworten. Deine Mission ist gescheitert.“

„Im Unterschied zu meinen Frauen mag ich meine Flughäfen am liebsten völlig unpostmodern“, murmelt er.

In diesem Moment erscheint ein sehr kleiner Mann mit einem offiziösen Wappen auf der Uniform und bittet uns barsch, hier nicht herumzulungern und, vor allem, etwas mehr Abstand zu diesem historischen Propeller zu halten – so etwas werde heutzutage gar nicht mehr hergestellt.

„Siehst du“, sagt Arthur im Aufstehen. „Dieser Mann ist sentimental.“

„Ich empfinde die Rosinenbomber-Romantik, die dieser Flughafen mittlerweile verströmt, als ziemlich unangenehm.“

„Es geht mir nicht um Rosinenbomber-Romantik.“

„Sondern? Um Nazi-Romantik?“

„Nein. Nein, nein, nein. Du willst mich heute nicht verstehen.“

„Das könnte sein“, sage ich.

„Ich meine die Romantik des Fliegens überhaupt.“ Arthur seufzt. „Was haben wir denn heute? Ryan Air. Easy Jet. Fliegen ist trashiger als Bahnfahren geworden. Fliegen ist sogar trashiger als Busfahren geworden. Bald wird es vielleicht trashiger als Skateboardfahren sein.“

„Du bist sentimental. Du redest wie Christian Krachts Oma.“

Langsam schlendern wir durch die leere Halle. Noch kann man hier zwar eine der auf dem weiten Flugfeld wie Modellbauflugzeuge wirkenden Maschinen besteigen, doch die landet dann eben in Friedrichshafen oder in Dortmund oder maximal in Brüssel. Das ist schon ziemlich deprimierend.

„Schau’ dir doch mal diese Easy Jet-Stewardessen an!“ Mein Freund macht eine wegwerfende Handbewegung. „Die sehen aus wie die Spice Girls – bevor sie die Spice Girls wurden. Und sie lachen auch so vulgär. Wahrscheinlich würde Easy Jet sogar diesen Terminal orange streichen.“

„Vom Adler über dem Hauptportal ist ohnehin nur noch der Kopf übrig. Ich hätte da übrigens zwei Fragen.“

„Nur zwei?“ Arthur schwankt etwas. Seine Wunden, fällt mir auf, sind noch immer nicht verheilt.

Ich hole tief Luft: „Erstens: Wo ist dein Schuhkarton? Du hast ihn fast nie mehr bei dir. Und, zweitens: Hast du am letzten Tag in Tel Aviv ein hellblaues Schwangerschaftskleid gestohlen?“

„Ich weiß auch nicht.“ Schulterzucken. „Der Schuhkarton langweilt mich irgendwie. Es kommen ja sowieso keine neuen Liebesbriefe mehr dazu. It’s all over now, Baby Blue.“

Mein Ärger ist mittlerweile verraucht. Ich lasse mich sogar dazu hinreißen, meinem Freund zu versichern, dass bestimmt noch die eine oder andere postmoderne oder gar die postmodernste Dame überhaupt auf seine Anzeige antworten werde, wahrscheinlich seien all diese Frauen gerade noch mit der Erstellung ihrer Hochglanzbewerbungsmappen beschäftigt, so etwas brauche ja seine Zeit, wenn das Ergebnis nicht allzu primitiv wirken solle – und das sei doch ganz in seinem, Arthurs, Interesse.

„Außerdem könntest du dich bis dahin vielleicht mal ein bisschen um deine Freundin kümmern“, füge ich noch hinzu.

„Nur wenn du dich um Lulu kümmerst. ‚Wer ist Dimona?’, hat Charlotte mich gefragt. Als ob ich das wüsste. Erinnerst du dich noch an die Katakomben?“

Natürlich erinnere ich mich. Arthur und ich durften diesen Flughafen nämlich schon mal eingehend besichtigen. Wir haben uns einer größeren Seniorengruppe – Genossen des SPD-Ortsvereins Bielefeld-Nord – angeschlossen und an einer Führung teilgenommen, die Arthur und mir und den dreißig Westfalen sogar den Zugang zu den mythenumwobenen Kellergeschossen eröffnete. Dort befand sich, bis die alliierten Eroberer es versehentlich in Brand setzten, ein Filmdepot. Ein uferloses Filmdepot. Nicht eine einzige Zelluloidrolle überstand das große Feuer. Und seitdem überlegen wir regelmäßig, was da unten, in diesen mit bizarren Graffiti und Strichlisten verzierten Räumen, für Streifen gelagert haben könnten. Pornos, meint Arthur – und einige epochale Meisterwerke, die wir uns heute gar nicht mehr vorzustellen wagten und deren Anblick man diesseits des Paradieses auch gar nicht ertragen könne. So energisch, so verwegen seien diese Filme. Ich sage: So lange dort keine Filme mit Hugh Grant aufbewahrt wurden, gebe ich mich mit allem zufrieden. Andernfalls müsste man diese Feuersbrunst völlig neu bewerten.

„Schau dir diese Türgriffe an!“ Arthur streicht sanft über das Holz. „Heute gibt es gar keine Türgriffe mehr auf Flughäfen!“

„Heute findet hier das Red Bull Air Race statt. Das ist wirklich degoutant. Als würde man Pisse aus Goldpokalen trinken.“

„Und erst diese Treppengeländer!“

„Du sentimentaler Tränensack.“

„So ein aufheulender Flieger, der sich wie auf Adlerschwingen in die Lüfte erhebt, ist schöner als die Nike von Samothrake. Deine zweite Frage kann ich übrigens uneingeschränkt bejahen.“

Wir stehen nun am Ausgang, vor einem Imbiss mit dem Namen Air Snack. Und weil Arthur, wie er betont, Hunger und überdies ungeheuerlichen Durst hat, werden wir hier wohl noch ein Weilchen stehen bleiben.

Montag, 17. September 2007

Hungry Heart

„Das größte Verbrechen des Elton John“, sagt Arthur, „ist – neben seinem Louis XIV.-Kostüm, natürlich – der Gedenksong für Lady Di.“

Lulu stöhnt auf: „Bitte. Heute. Keine. Pop-Nerd-Diskussionen.“

„Lulu, wie würdest du dich denn fühlen? Nehmen wir an, Du bist Marylin Monroe. Du stirbst einen frühen glamourösen Tod. Und Elton John verfasst diesen bewegenden Nachruf auf dich – ‚Candle in the Wind’.“

„Der Text stammt von Bernie Taupin“, sage ich.

„Egal.“ Arthur trinkt seinen Wein wie Mineralwasser. „Die Menschen hören also jahrzehntelang täglich im Radio dieses Lied über dich, Norma Jean Baker. Dann verendet Diana in ihrem Tunnel. Und weil bis zum Begräbnis nicht mehr genug Zeit bleibt, einen neuen Song zu komponieren, schreibt Elton John die Eloge auf dich, die einzigartige Marilyn, einfach um. Wie skrupellos kann man sein!“

„Wenn Elton John jemals auch nur eine einzige Note für mich komponiert, reiße ich ihm sein Toupet vom Kopf bis das Blut gegen seine Louis XIV.-Tapete spritzt“, erwidert Lulu.

„Die frühen Sachen sind gar nicht so schlecht“, sage ich.

Arthur redet sich einmal mehr in Rage: „‚Goodbye Norma Jean’ wird einfach zu ‚Goodbye England’s Rose’ umgetextet. Es wundert mich, dass er nicht auch noch eine Version für Freddie Mercury gemacht hat. Oder für Rudolf Mooshammer. Oder für jeden, der im Home Shopping-Kanal eine bestellt.“

„Möchte noch jemand etwas Käse?“ fragt Charlotte.

Während draußen ein Blatt nach dem anderen von den Bäumen fällt, sitzen Lulu, Charlotte, Arthur und ich – sowie die kleine Dimona, versteht sich – in gemütlicher Chalet-Atmosphäre zusammen. Zwar ist Lulus Kreuzberger Wohnung eher minimalistisch eingerichtet, doch das Raclettegerät strahlt eine heimelige Wärme aus. Arthur konnte zudem in einem Geschenkartikelladen etwas Kunstschnee besorgen, welcher nun die Tafel schmückt. Ich habe es mir nicht nehmen lassen, eine CD mit beliebten Aprés-Ski-Hits zu kompilieren. Auf dem Tisch stehen Blumen, die mein Freund und ich noch bei der prämodernen, ja, atavistischen, doch darum nicht weniger reizenden Händlerin auf dem Maybach-Markt erworben haben. Die Gastgeberin ließ uns allerdings nicht bloß durch die Blume wissen, dass sie Blumen, insbesondere Rosen und vor allem blaue Rosen prinzipiell ablehne, so dass Arthur den Strauß kurzerhand umwidmete und ihn seiner Freundin überreichte, begleitet von einer tiefen Verbeugung. Die Parallelen zur Elton-Marilyn-Diana-Affäre sind frappierend. Gleichwohl könnte die Stimmung bedrückender sein, obwohl ich keine Ahnung habe, was zwischen Arthur und der zukünftigen Mutter seiner Tochter eigentlich vorgeht. Charlotte sieht toll aus, man kann es nicht anders sagen. Sie schimmert geradezu, wirkt seltsam sanftmütig – ganz gleich, was Arthur so von sich gibt. Dimona steht ihr gut. Als einzige von uns vieren trinkt sie keinen Weißwein und lebt friedlich in ihrer besseren Bionade-Welt. Lulu hingegen erweist sich mal wieder als Anti-Charlotte.

„Kann bitte irgend jemand sofort diese Rosen entfernen?“ ruft sie jetzt.

Arthur tätschelt ihre Hand: „Wusstest du, dass Elton John einst in anderthalb Jahren fast 300.000 Pfund nur für Blumen ausgegeben hat?“

Lulu schlägt ihm mit ihrem heißen Käsepfännchen auf die Finger.

Er schreit auf: „Als ob ich nicht schon genug Verletzungen hätte! Aber ich lass’ mir den Mund nicht verbieten: Also, Elton wurde dann jedenfalls von seinem Finanzberater gefragt, ob er wirklich eine derart astronomische Summe in Blumen investiert hätte – und er antwortete nur: ‚Well, I like flowers’.“

Like a river that don't know where it's flowing
I took a wrong turn and I just kept goin'

„Warum ist dein Körper überhaupt so entstellt?“ fragt Lulu skeptisch. „Warst du in einem jüdischen S/M-Club?“

„Keine Details, bitte“, sagt Charlotte.

Ich trage nicht bei jedem Wetter Latexstiefel“, bemerkt mein Freund.

Einzig Arthur isst noch. Seine Freundin reibt sich seit längerem ihren hinreißenden Bauch, Lulu nimmt ohnehin keine Nahrung zu sich und ich habe ebenfalls bereits aufgegeben. Raclette ist schon eine fatale Sache. Doch Arthur hat weiterhin drei Pfännchen im Einsatz und schaufelt Käse in sich hinein, als wäre es seine Henkersmahlzeit.

„Arthur, du wirst bald fetter als Charlotte sein“, sagt Lulu.

„Ich mag Charlotte“, entgegnet er.

Seine Freundin quittiert dies mit einem müden Lächeln: „Ich hasse Bionade.“

Ich frage: „Lulu, wo hast du denn heute dein Palituch gelassen?“

„Ihr solltet mal Bionade mit Wodka probieren“, sagt sie.

„Was macht deine Kolumne?“

Lulu Lilienblum nennt sich zwar Schauspielerin, nachdem sie in einer Polizeiruf-Folge mal ein paar Sekunden als recht unislamisch bekleidete Leiche erschien, führt aber zugleich ein professionelles Leben jenseits der Kamera. So verfaßt sie zum Beispiel für das dubiose Magazin Delirious Dirt ein Weblog über ihr Liebesleben. Die Aufzeichnungen der Wiener Dirne Josefine Mutzenbacher muten dagegen wie Vorschullektüre an. Naturgemäß hören wir Lulus Geschichten immer wieder mit großer Begeisterung, am liebsten von ihr selbst. Heute beschreibt sie uns die neueste Episode, eine post-koitale Szene, in der ihr Kopf auf der schweißgebadeten Brust einer Ankerklausen-Bekanntschaft verharrt. Sie habe in diesem Moment, so Lulu, plötzlich ein ungewöhnliches Pochen und Vibrieren an ihrem Ohr wahrgenommen, das über den üblichen Herzschlag weit hinaus ging. Auf ihre irritierte Nachfrage hin, hätte ihr Lover ihr eröffnet, dass er seit einiger Zeit einen Herzschrittmacher tragen müsse – weil ihm die große Liebe seines Lebens gnadenlos das Herz gebrochen hätte und es nun eben nicht mehr richtig funktionieren würde. Darum der Herzschrittmacher, dessen Anschaffungskosten die Krankenkasse ihm aus unerfindlichen Gründen noch immer nicht erstatten wolle.

„So was kann nur ein Mann sagen“, behauptet Lulu.

Charlotte lacht: „Ich finde das eigentlich ganz charmant.“

Arthur befühlt seine lädierte Schläfe: „Das Herz ist so ziemlich das einzige, was mir nicht gebrochen wurde. Habt ihr während des Verkehrs wenigstens Tom Petty & The Heartbreakers gehört?“

Er füllt zwei Käsepfännchen mit Parmaschinken.

„Oder Heartbreak Hotel von Elvis ?“ ergänze ich.

„Arthur, hör auf zu essen“, sagt seine Freundin. „Du musst hier nichts beweisen.“

„Ich frage mich, was passieren würde, wenn man etwas Humus in einem dieser Pfännchen erhitzte“, sagt Arthur nachdenklich.

„Oder deine Traveling Wilburys-CD.“

„Das ist nicht witzig, Charlotte.“

„Von Frank Zappa gibt es einen Song mit dem Titel Broken Hearts Are For Assholes“, bemerkt Lulu.

Sie öffnet das Fenster, was das allgemeine Skihütten-Gefühl eher noch befördert, denn sofort strömt eisige Luft in den Raum. Ein Windzug bläst die Tischkerze aus. Lulu freut sich und gibt uns zum wiederholten Mal zu verstehen, dass auch Kerzen in jeder Form und Farbe mit ihren Prinzipien nicht vereinbar seien. Arthur isst und isst.

I met her in a Kingstown bar, we fell in love I knew it had to end

„Ich weiß auch nicht, warum ich immer so hungrig bin“, sagt er.

„In Eilat hast du an einem Tag mehr als achtzig Oliven gegessen“, bemerke ich.

„Früher war es noch schlimmer. Auf einer Kanutour in Norwegen habe ich als Teenager mal einen halben Elch verputzt.“

„Das glaube ich sofort.“

Mein Freund blickt melancholisch in die Runde: „Es war in jener Zeit, als ich in Oslo umherging und hungerte. In dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist. Oder einen Elch verspeist.“

„Mich wundert wirklich, dass du nicht fetter bist“, bemerkt Lulu.

„Früher bin ich immer erst dann vom Tisch aufgestanden, wenn die körperlichen Schmerzen so stark wurden, dass ich mich unter keinen Umständen mehr bewegen konnte. Das hat sich ein wenig gebessert. Aber ich leide ja auch immer unter diesem unstillbaren Durst.“

Arthur und ich probieren jetzt ebenfalls die Wodka-Bionade-Mischung und fühlen uns auf der Stelle sehr erfrischt.

„Ich bin sozusagen“, fährt mein Gegenüber fort, „eine Art Anti-Hungerkünstler. Ich habe noch keine Speise gefunden, die mir nicht schmeckt. Bei Aldi ist mir das kürzlich wieder aufgefallen.“

„Erzählt doch mal von Israel“, bittet uns Lulu. „Habt ihr nur gefressen und gesoffen, oder was?“

„Meistens schon“, erwidert Arthur. „Es gibt wirklich nicht so viel zu erzählen.“

„Das stimmt“, sage ich. „Irgendwie ist die Zeit wie im Flug vergangen, ohne dass wir große Abenteuer erlebt hätten.“

„Seid ihr wirklich mit den Delphinen geschwommen?“ fragt Charlotte.

Wir nicken. Ich muss an die purpurfarbenen Berge Jordaniens denken, das lichtblaue Rote Meer.

„Dimona hätte das auch gefallen“, meint Arthur.

„Wem?“ Charlotte schaut leicht verunsichert.

„Kann bitte mal irgendjemand einen Kaffee kochen? Ich bin noch mit Essen beschäftigt.“

Lulu und ich gehen also in die Küche, wo sie mir kurz um den Hals fällt – warum auch immer. Vermutlich ist nur der brennende Wodka schuld. Ich weiß: Lulu zu lange zu umarmen, kann gefährlich sein. Zumindest für mich. Barfuss tanzt sie nun wild durch die Küche, die Espressomaschine röchelt. Als wir an den Tisch zurückkehren, sitzt Charlotte mit einer Gesäßhälfte auf Arthurs Stuhl und streichelt seinen Rücken. Mein Freund isst weiter im Stile eines ausgehungerten Nachkriegskindes.

„Hier. Jeder nur einen.“ Lulu platziert eine Pappbox neben der Kaffeekanne.

„Ich hasse Glückskekse“, sagt Arthur.

„Bitte vergiss nicht, den Zettel vor dem Verzehr herauszunehmen, Schatz“, bemerkt Charlotte sanft.

Lulu hat ihren Keks bereits zerbrochen und die Fragmente auf Arthurs Teller gelegt.

Sie beherrschen es“, liest sie vor, „Kritik mit Witz und Charme zu verpacken. Na, toll.“

„Meiner ist noch schlimmer.“ Ich bin enttäuscht. „Nur ein Narr glaubt, dass Preis und Wert identisch sind.“

„Was für Arschlöcher“, murmelt Arthur mit vollem Mund. „Das ist ja geradezu eine Unverschämtheit.“

Charlotte verweigert die Keksannahme und lässt sich selbst durch massiven Druck nicht dazu bewegen. Sie hätte mal schlechte Erfahrungen mit Glückskeksen gemacht, so Arthurs Freundin, und könne gerade unter den gegebenen anderen Umständen darauf verzichten, diese zu wiederholen. Arthur trinkt Kaffee, Wodka-Bionade und Riesling und stopft zugleich Unmengen von Käse in sich hinein. Mit einer feierlichen Geste zerbricht er das gelbe Gebäckstück.

„Oh.“ Seine Miene nimmt einen theatralisch verängstigten Ausdruck an. „Das kann nicht sein.“

„Was steht denn drauf?“

„Das ist nicht möglich“, sagt mein Freund.

„Arthur, bitte.“

„Hier steht: Love Will Tear Us Apart.“

„Du bist ein Idiot”, sagt Lulu.

Ich stimme ihr zu, Charlotte schaut ihren Freund prüfend an.

Arthur starrt auf das winzige Stück Papier in seiner Hand: „Doch. Natürlich. Hier steht’s rot auf weiß. Love Will Tear Us Apart.“

„Zeig mal.” Lulu greift nach dem Glückskeks-Zettel.

„Auf gar keinen Fall. Diese Botschaft ist nur für mich bestimmt.“

„Gib schon her!“

Doch noch bevor Lulu Arthur den Zettel entreißen kann, hat mein Freund jedes einzelne Keksbruchstück auf seinem Teller verschlungen – und stopft sich dann den Zettel in den Mund.

„Du bist krank“, sagt Lulu.

Charlotte zweifelt: „Du hast den jetzt nicht wirklich verschluckt, oder?“

Arthur spült mit Wodka hinterher, das Papier bleibt verschwunden.

„Wir werden dir ein Brechmittel einflößen“, droht unsere Gastgeberin.

Er schüttelt den Kopf: „Diese Glückskekse sind gespenstisch. Ich meine: Wer ahnt denn so etwas!“

Everybody's got a hungry heart, everybody's got a hungry heart.

Zwei Stunden später: Das Raclette ist ähnlich wie Dianas Leichnam im Erkalten begriffen, in Lulus Wohnung indes herrscht erhöhte Temperatur. Arthur liegt nebenan, auf dem Futon, und schnarcht wie ein russischer Bär. Mitunter hört man ein Stöhnen, vereinzelt unverständliche, im Tiefschlaf ausgespuckte Worte.

„Sollten wir nicht vielleicht einen Arzt holen?“ fragt Charlotte.

„Du spinnst ja“, erwidert ihre Freundin.

„Besser einen Totengräber“, sage ich.

Ich bin inzwischen wirklich sehr betrunken, Lulu steht mir in nichts nach. Einzig Bionade-Charlotte ist noch bei Sinnen, tanzt aber trotzdem ausgelassen mit uns zu Supremes- und Siouxsie-Songs. Aprés-Ski-Stimmung vom Feinsten. Lulu zückt irgendwann ihr Powerbook und lädt eigens um den schlafenden Arthur zu ärgern, die 1997er-Diana-Version von „Candle in the Wind“ aus dem Netz herunter. Und während die Gastgeberin wortgewaltig mit ihrem Herzschrittmacher telefoniert, tanzen Charlotte und ich engumschlungen zu Eltons bittersüßer Melodie. Mir fällt auf, dass ich zum ersten Mal mit einer schwangeren Frau tanze, zumindest bewusst, und es fühlt sich ziemlich gut an. Never fading with the sunset when the rain set in. Sie berichtet mir von ihrem Sommer, von ihrer Agentur-Misere. Dass übergroße Kleid was sie trage, erzählt Charlotte, habe Arthur ihr aus Tel Aviv mitgebracht. Es ist mir völlig schleierhaft, wann mein Freund diesen Einkauf getätigt haben soll. Vielleicht am letzten Vormittag, das wäre möglich – nach Breakfast Club und Jewish Princess. Allerdings besaß er zu diesem Zeitpunkt schon keinen einzigen Schekel mehr, es könnte sich also um Diebesgut handeln. Nun, Charlotte, die wärmer ist als eine Wärmflasche, wäre das wahrscheinlich auch egal: Nur ein Narr glaubt schließlich, dass Preis und Wert identisch sind.

„Seit ihr zurück seid“, sagt sie plötzlich, „haben Arthur und ich noch nicht eine einzige Nacht zusammen verbracht.“

„Heute schläft er wohl bei Lulu“, sage ich und stoße im Tanzen eine Kerze um.

Charlotte schaut mich direkt an, während wir einander in den Armen liegen, mit schmerzhafter Intensität. Ich wende mich ab, blicke nach draußen. Die Fenster der Nachbarn sind hell erleuchtet.

Was ist in Israel eigentlich passiert? fragt sie mich.


Balagan Blues kann nicht umhin, auf folgenden hilfreichen Link zu verweisen:

http://iq.lycos.de/qa/show/405173/Was+ist++eine+%2522Postmoderne+Frau%2522%253F/