Dienstag, 30. Oktober 2007

Paradise Lost

Wo die Wahl beginnt, sagt Arthur Miller, endet das Paradies, endet die Unschuld – denn was ist das Paradies, wenn nicht die Abwesenheit jedweder Wahlmöglichkeit? Demnach müssten hier, in Lulus Treppenhaus, paradiesische Zustände herrschen, denn mir blieb mal wieder keine Wahl. Die Schmerzmittel wirken nicht, mein Kopf ist heiß wie eine Herdplatte. Ich weiß kaum noch, wie ich überhaupt in diesen dritten Stock gekommen bin. Doch nun stehe ich vor Lulus Wohnungstür, um halb neun am Morgen, mein Fieberschweiß tropft fast auf ihre Fußmatte. Arthur hält sich eine Etage tiefer verborgen. Es wäre ja sonst denkbar, dass Lulu oder Charlotte – wenn sie ihn, den unerwünschten Gast, erblickten – die Tür sofort wieder verriegeln würden. Dann wäre die letzte Chance vertan. Allerdings gelte ich hier wohl beinahe ebenso sehr als persona non grata – Arthur und ich sind ja irgendwie eins, so unterschiedlich wir sein mögen. Ich stand schon oft vor dieser Tür, aber immer nur gemeinsam mit Arthur oder mit Arthur und Charlotte. Ein einziges Mal war ich mit Lulu allein. Ich kann mich sogar an das Datum erinnern. Ob sie sich überhaupt an mich erinnert, an mich und uns in jener Nacht, bezweifle ich in düsteren Momenten. Wir haben nie wieder darüber gesprochen.

„Jetzt klingel’ schon!“ zischt Arthur von unten.

Ich drücke auf den Klingelknopf, warte. Nichts passiert.

„Noch mal! Länger!“ flüstert mein Freund.

„Sei still.“

Mein Puls rast. Schritte. Lulu öffnet ruckartig und gar nicht vorsichtig die Tür. Auch ohne Gummistiefel, barfuss, nur mit einem übergroßen Herrenhemd bekleidet, ähnelt sie noch der Pocahontas aus meinem fürchterlichen Traum.

„Was ist denn jetzt los?“ Sie starrt mich an. „Was willst du denn hier?“

Ich möchte antworten, doch wie in meinem Traum versagt mir die Stimme. Ich sage – nichts.

„Alles in Ordnung?“ fragt Lulu zum Glück. „Du siehst aus wie eine Leiche. Total blass.“

Ich kann nicht umhin, mich darüber zu freuen. Denn wir berühren hier das Kernproblem meiner gesamten Existenz. Es besteht darin, dass alle immer denken, es ginge mir gut – selbst wenn ich mich miserabel fühle. Je kranker ich bin, desto frischer wirke ich. Je unerträglicher mein Kater, desto besser sehe ich offenbar aus. Damit könnte ich noch leben. Doch sogar schlimmste Depressionen sieht man mir, so scheint es, niemals an. Das liegt natürlich vor allem an mir, daran, dass ich auch lache, wenn ich traurig bin. Ich kann nicht anders. Und während alle Welt glaubt, es ginge mir blendend, schlittere ich an der Oberfläche der Dinge fröhlich lächelnd in den Abgrund. Darum freue ich mich, wenn Lulu Lilienblum mich als Leiche begrüßt.

„Morgen ist ja auch Halloween“, sage ich keuchend, den Blick von ihren bloßen Beinen abgewandt. „Ich glaub’, ich hab’ Fieber. Aber deshalb bin ich nicht gekommen.“

„Das ist ja auch keine Arztpraxis hier. Du hast mich geweckt.“

„Tut mir leid. Wirklich. Wir suchen Charlotte. Wir dachten, sie könnte vielleicht bei dir sein.“

„Wir? Was heißt denn wir?” Lulu guckt nun äußerst irritiert. „Wo ist denn Arthur, dieser Feigling? Hat er dich vorgeschickt, oder was?“

„Ich bin ja schon da“, sagt mein Freund, der im selben Augenblick die Treppe hochkommt. Er lächelt: „Guten Morgen, Lulu.“

„Morgen, Arschloch.“

„Wir waren gestern Abend schon mal hier.“

„Das freut mich. Ich war leider nicht zuhause. Und Charlotte ist sowieso nicht bei mir.“

„Können wir nicht kurz reinkommen?“

Lulu dreht sich wortlos um und geht zurück in ihre Wohnung, lässt die Tür aber offen. Wir treten ein, folgen ihr in die Küche, wo sie unter verschlafenen Flüchen Kaffee kocht. Selbst völlig ungeschminkt ist sie so schön, wie es sich für eine Häuptlingstochter eben gehört.

Arthur freut sich: „Habe ich es nicht gesagt? Bei Lulu bekommen wir immer einen Kaffee!“

„Der ist nicht für euch. Der Kaffee ist für mich. Für mich und meinen Gast. Es handelt sich aber nicht um deine Freundin – beziehungsweise Ex-Freundin.“

Sollte diese freundliche Bemerkung Arthur irgendwie getroffen haben, lässt er es sich jedenfalls nicht anmerken.

„Ich muss sie wirklich dringend sprechen“, sagt er. „Sie geht nicht ans Telefon. Sie öffnet nicht die Tür. Wenn Charlotte nicht bei dir ist, wo ist sie dann?“

„Tja.“ Lulu schaut ihn vollkommen mitleidslos an. „Vielleicht will sie nicht, dass du sie findest.“

„Das ist mir schon klar, aber mein Wille, sie zu finden, ist wesentlich stärker als ihr Wille, dass ich sie nicht finde.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. So was ändert sich schnell. Viel schneller, als du glaubst – mit deinem grenzenlosen Selbstbewusstsein.“

„Ich würde es eher als gesundes Selbstbewusstsein bezeichnen.“

Mir ist schwindlig. Ich blicke mal auf Lulu, mal auf Arthur, die sich die Wörter wie Ping Pong-Bälle an die Köpfe werfen.

„Jede Frau, die halbwegs bei Sinnen ist“, sagt Lulu, „hätte sich schon von dir verabschiedet, während du in Israel rumgefickt hast. Abgesehen davon, dass so eine Frau natürlich gar nicht erst mit dir zusammen wäre und vor allem nicht auch noch deine teuflische Brut austragen würde.“

„Das war ja alles nicht so geplant. Außerdem habe ich nicht rumgefickt.“

„Seid ihr Teenager, oder was? Meinst du, ich finde es toll, dass sich meine beste Freundin seit Monaten ständig bei mir ausheult?“

„Deshalb suche ich sie ja jetzt. Sie kann sich ruhig auch bei mir ausheulen.“

„Du verstehst einfach gar nichts“, erwidert Lulu. „Bei dir will sie sich ja gerade nicht ausheulen. Was meinst du eigentlich dazu?“ fragt sie dann mich.

„Kann ich bitte ein Glas Wasser haben?“

Arthur geht auf Lulu zu und legt ihr seine Hand auf die Schulter.

„Bitte, sag’ mir, wo sie ist.“

„Was weiß ich.“ Sie stöhnt auf. „An einem dieser komischen Orte, wo sie immer ist und träumt, wahrscheinlich. Im Aquarium oder so. Auf jeden Fall hat die Agentur sie freigestellt. Vielleicht liegt sie auch zuhause im Bett und liest Krieg und Frieden oder irgend so einen Scheiß.“

„Im Aquarium ist sie nicht.“

„Nur weil Charlotte am Dienstag nicht dort war“, bemerke ich, „heißt das nicht, dass sie heute nicht im Aquarium ist.“

„Wir können deshalb aber nicht jeden Tag ins Aquarium gehen. Das ist mir zu gefährlich. Dieses Krokodil hat mich auf seine Todesliste gesetzt. Apropos, ich schau’ mal, was als nächstes auf unserer Liste steht.“

„Was für eine Liste?“ fragt Lulu, die tiefschwarzen Espresso in zwei Tassen gegossen hat, Arthur und mich allerdings Richtung Wohnungstür schiebt.

„Falls sie sich bei dir meldet, sag’ ihr, sie soll mich anrufen.“

„Das werde ich mir noch gut überlegen. Ich fürchte, du hast einfach keinen Kredit mehr bei dieser Bank.“

Sie öffnet die Tür, wir wollen gerade die Wohnung verlassen, doch mein Freund bleibt plötzlich stehen und dreht sich um.

„Moment mal“, sagt er. „Sie ist hier. Natürlich. Sie ist hier.”

Und Arthur schubst Lulu einfach beiseite, stürzt auf ihr Schlafzimmer zu.

„Hey! Spinnst du?“

Aber sie kann ihn nicht mehr aufhalten – ohne auch nur anzuklopfen, öffnet er erwartungsfroh die Tür.

„Oh. Sorry.“ Mein Freund bleibt abrupt stehen.

Wir sind ihm gefolgt, ich schaue über seine Schulter in das Zimmer. Auf Lulus Bett liegt nicht Charlotte, sondern ein Mann, das ist unverkennbar, denn er liegt dort im so genannten Adamskostüm, Arme und Beine von sich gestreckt. Zunächst sieht er uns nicht – ein hellblaues Höschen, das aller Wahrscheinlichkeit nach aus Lulus Besitz stammt, bedeckt seine Nase und seine Augen. Als er diesen Spitzenvorhang dann beiseite schiebt und uns drei erblickt, geht es ihm ganz offenbar wie mir: Lulus Lover ist sprachlos. Zumindest sagt er nichts, guckt nur befremdet. Vielleicht ist es das Fieber, doch ich bilde mir ein, in der allgemeinen Stille ein dumpfes Pochen zu hören: Das muss der Herzschrittmacher sein. Jene Maschine, die das Herz dieses jungen Mannes auch in gebrochen-geschundenem Zustand zuverlässig schlagen lässt. Ich wünschte, die Batterien wären alle. An Lulus Geschichten habe ich mich ja gewöhnt, doch treffen muss ich diese Typen nun wirklich nicht. Schon gar nicht, wenn man ihren Penis sehen kann.

„Raus jetzt“, zischt sie und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Arthur auch nicht.

„Nichts für ungut, Mann!“ Mein Freund winkt zum Abschied, ohne eine Antwort zu erhalten „Viel Spaß noch. Happy Halloween.“

Lulu schiebt uns ein zweites Mal zur Tür.

„Sucht ihr mal weiter nach Charlotte“, sagt sie. „Vielleicht habt ihr ja Glück. Ich hoffe, nicht.“

„Du hast nicht zufällig meinen Schlüssel gefunden?“

Aber die Tür ist bereits ins Schloss gefallen, Pocahontas schlüpft jetzt wieder unter ihre warme Decke. Es gibt keinen einzigen Platz auf der Welt, wo ich in diesem Moment lieber wäre.

„Es wundert mich, dass er nicht gefesselt war“, sagt Arthur. „An einen Marterpfahl zum Beispiel. Der nächste rote Stern ist übrigens das Paradise. Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, in jener abenteuerlichen Nacht dort gewesen zu sein – doch erfahrungsgemäß erhöht das eher noch die Wahrscheinlichkeit, dass ich dort war.“

* * * * *

„Ich falle gleich um“, sage ich, während Arthur den Klingelknopf des Paradise einige Sekunden lang gedrückt hält.

„Vielleicht ist Aaron ja da. Der macht dir einen schönen Scotch mit Zitrone.“

„Fällt dir eigentlich auf, dass du auf einmal Charlotte mit genau dem gleichen Eifer, der gleichen Leidenschaft suchst, wie bisher nur die perfekte postmoderne Frau?“

Mein Schädel fühlt sich an, als hätte Pocahontas ihn mit einem Tomahawk gespalten – doch gleichzeitig meine ich, klarer zu sehen als sonst. Ein Sehschlitz geht auf. Wir werden gemustert, für derangiert genug befunden und nach dem Zauberwort gefragt. Dem geheimen Zauberwort. Arthur spricht es aus. Und eigens für uns öffnet ein dienstbarer Geist die Pforte zum Paradies.

Lulus Bett ist ein Paradies. Die Osterinseln oder die Antarktis – auf ihre eigene, etwas kühlere Art – sicher auch. Aber das Paradise ist einzigartig. Die Sehnsucht nach dem Paradies, steht in meinem Notizbuch, ist das Verlangen des Menschen, nicht Mensch zu sein. Jene, der Außenwelt und der Wirklichkeit abgewandte Kreuzberger Bar, welche wir nun betreten, gibt diesen Worten eine ganz neue Bedeutung: Hier muss man zum Tier werden. Man muss zum Tier werden, um nicht mehr Mensch zu sein und überhaupt Zutritt zu erlangen. Zum Paradise, wo selbst der existentiellste Schmerz rasant im Rausch verfliegt und sich jeder sein eigenes, künstliches Paradies erschaffen kann. Der Laden, um den sich fabelhafte Mythen ranken, ist ein Relikt aus den frühen achtziger Jahren. Wie die Schlange im Garten Eden hat er sich seitdem unzählige Male gehäutet, ohne sich wesentlich zu verändern. Im Paradise wird die Ursünde Tag und Nacht neu begangen, pausenlos, tausendfach potenziert. Obwohl der Name eher zu einer Großraumdisco an einer Brandenburger Autobahn passen würde, versammelt sich hier ein niveauvolleres Publikum – selbstkonsumierende Drogenhändler, tunesische Stricher, Speed-Freaks, Transen und Studenten sowie der eine oder andere Freigeist. Paradiesvögel eben. Von fünf Gästen hat mindestens einer tätowierte Handknöchel. Das Paradise ist dunkel wie ein Grab. Es schließt niemals vor der Mittagsstunde.

„Mein Gott!“ Arthur ist entsetzt. „Warst du jemals nüchtern hier, um diese Zeit?“

„Natürlich nicht.“

„Ich meine, du hast ja wenigstens Fieber, aber ich bin wirklich stocknüchtern. Guck mal, da ist Aaron.“

Als wir zur Bar gehen, läuft ein Nico-Song. Insgesamt sind im morgendlichen Paradise noch etwa ein Dutzend Gäste versammelt. Manche mustern uns Neuankömmlinge interessiert, andere sehen Arthur und mich, glaube ich, gar nicht. Auf der linken Tresenhälfte räkelt sich eine Frau, die meine Mutter sein könnte, wenn meine Mutter mit sechzehn nicht verhütet hätte. Sie vollführt dort, begleitet von Nicos tiefem Timbre, eine Art Striptease, der jedoch nie zur Vollendung gelangt und immer nur mit den Erwartungen spielt. Von unserem letzten Besuch, Ausklang einer langen Nacht im Anker, weiß ich, dass diese Frau taubstumm ist. Eine Drag-Queen streichelt Arthur im Vorbeigehen durchs Haar. Die beiden scheinen sich zu kennen.

„Habt ihr hier nicht Hausverbot, ihr Geisteskranken?“ fragt Aaron grinsend. „Das heißt, eigentlich nur du.“ Er zeigt auf meinen Begleiter.

„Aaron, ich betrachte dich als guten Freund“, erwidert Arthur, „und ich sage dir ganz offen: Solltest du auf einen eventuellen Besuch meinerseits in diesem Laden innerhalb der letzten vier Wochen anspielen, kann ich mich an nichts erinnern. An gar nichts.“

„Mann, wir haben hier ja schon viel gesehen. Aber es hat sich lange niemand so aufgeführt wie du. Halbnackt. Mit dieser unerträglichen Frau. Diesem Narbengesicht.“

„Narbengesicht?“ Die Stimme meines Freundes klingt nun leicht besorgt.

„Erzähl’ mir nicht, dass du so einen Filmriss hast. Irgendwann haben wir dich auf dem Klo gefunden, halb bewusstlos. Du hast immer nur völlig unverständliche Laute von dir gegeben. Vom Ende der Welt und einem grünen Licht gefaselt. Milton hat dich mit kaltem Wasser übergossen.“

„Und dann?“

„Dann bist du gegangen. Keine Ahnung, wohin.“

„Ihr habt mich in diesem Zustand auf die Menschheit losgelassen?“

„Wir konnten dich ja schlecht anketten. Außerdem wirktest du wieder relativ klar.“

Ich sage: „Habt ihr das in der Zeitung gelesen, von der Rentnerin aus Lichtenrade, die ohne Kopf aufgefunden wurde? Wobei man den Kopf später in einem Gebüsch entdeckt hat, aber ohne Augen? Das könntest du gewesen sein, Arthur.“

„Wodka. Sofort Bier und Wodka. Oder, halt: Weißt du noch, was ich in besagter Nacht getrunken habe? Vielleicht kommt dann, mit dem Geschmack, auch die Erinnerung zurück.“

„Kein Problem“, erwidert Aaron und nimmt einen Zettel von der Pinnwand, die hier „Wall of Shame“ heißt. „Du hast ja noch eine nette offene Rechnung bei uns. Also, neben diversen Bieren waren da insgesamt neun Ramazottis.“

„Willst du mich verarschen? Ich würde niemals so ein Dreckszeug trinken. Das kann gar nicht sein.“

„Du weißt genau, dass ich recht habe“, sagt der Barmann milde lächelnd.

In der Tat: Aaron würde uns nicht anlügen. Er ist, in diesem auf ganzer Linie degenerierten Umfeld, ein guter Mensch geblieben – soweit das überhaupt möglich ist. Wir haben ihn einst am Tresen kennen gelernt und so manche Schnapsflasche mit ihm geleert. Irgendwann stand er dann plötzlich hinter der Bar, hat fortan keinen Tropfen mehr angerührt. Er arbeitet immer nur montags. Denn Aaron schreibt außerdem lyrische Reportagen für ein Kulturmagazin und ist, was mich wirklich beeindruckt, aktives Mitglied im Chaos Computer Club, Hamburg, wo er auch herkommt. Mir wird schon wieder schlecht. Ich halte mich mit beiden Händen an der Theke fest, damit ich nicht umfalle. Wer im Paradise stürzt, steht niemals wieder auf. Das wäre sozusagen der Sündenfall. Die nackten Füße der Tresentänzerin, welche mit klimpernden Kettchen geschmückt sind, streifen immer wieder meine Finger. Jede Berührung ist ein Elektroschock, der mich zusammenzucken lässt. Zugleich will ich die Frau anschreien, sofort damit aufzuhören und nie wieder ungefragt auf meinen Fingern zu tanzen, doch erstens kann ich nicht sprechen und zweitens kann sie weder sprechen, noch hören und eigentlich, mit Verlaub, auch nicht tanzen. Nico, immer wieder Nico. Jetzt singt sie „Heroes“.

„Auf dein Spezielles!“ Arthur erhebt sein Ramazotti-Glas, auf der Suche nach der verlorenen Zeit. „Ich dachte immer, die Erinnerung wäre das einzige Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann. Aber wahrscheinlich ist das einzige Paradies überhaupt eben das verlorene Paradies.“

„Ich kann über solche Fragen jetzt gerade nicht nachdenken.“ Der klebrige Likör wärmt mich immerhin von innen. Ich muss erneut an Lulus Bett denken, das Paradies, aus dem sie mich vertrieben hat, bevor ich mich überhaupt wohnlich einrichten konnte. „Kommt die Erinnerung schon wieder?“

„Nein. Da kommt gar nichts.“

Während die Taubstumme weiter in Zehnsekunden-Intervallen mit ihren Füßen meine Hände touchiert, begrüßt eine andere Dame – neben der Tänzerin die einzige Frau im Paradies – Arthur mit einer innigen Umarmung. Sie ist zurechtgemacht wie Debbie Harry, das aber ziemlich gut, allerdings heißt sie nicht Debbie und auch nicht Blondie, sondern Madeleine, genau wie die D-Jane im Breakfast Club.

„Geht’s dir wieder besser?“ fragt Madeleine meinen Freund.

„Ich vermute: ja.“

„Wir wollten schon den Krankenwagen rufen.“

„Vielleicht hättet ihr das tun sollen.“

„Meinen Lippenstift konnte ich danach jedenfalls nicht mehr gebrauchen. Nachdem du deine Kriegsbemalung erneuert hast.“ Sie lächelt. „Wieso trägst du denn heute ein Hemd?“

Arthur seufzt: „Kauf’ dir einfach einen neuen Lippenstift. Aaron soll ihn bei mir auf die Rechnung setzen. Hey, Aaron, habt ihr eigentlich meinen Schlüssel hier gefunden?“

Der Barmann schüttelt bedauernd den Kopf. „Aber ich gebe euch noch einen Ramazotti aus“, sagt er. „Ich muss euch was fragen.“

„Ich will auch einen“, sagt Madeleine.

„Ich hätte gern einen Apfelsaft“, krächze ich. Vergeblich.

Aaron stellt gleich die ganze Flasche dieses ekelhaft süßen, aber wirkungsvollen Getränks vor uns auf die Theke.

„Also, meine Freunde, wenn ich mich nicht völlig in euch täusche – und das passiert mir selten –, werdet ihr bald auf Reisen gehen. In meinem Auftrag.“

„Eine Reise?“ fragen Arthur und ich unisono. „Wohin?“

„Bis ans Ende der Welt, sofern ihr nichts dagegen habt. Ich hab’ schon die ganze Zeit an euch gedacht. Ihr müsst nur ein paar Seiten schreiben. Und ein paar Fotos machen.“

In diesem Moment werden wir von einem ziemlich taktlosen Araber unterbrochen, der uns wie Blutsbrüder oder wenigstens Sandkastenfreunde begrüßt und sofort danach fragt, ob wir, nun ja, was zum Ziehen für ihn hätten. Haben wir nicht. Madeleine indes verschwindet tatsächlich mit diesem Arschloch auf dem Klo.

„Ans Ende der Welt? Nach Feuerland?“ fragt Arthur.

„Nicht ganz. Aber beinahe bis zum Polarkreis. Ihr werdet nach Norwegen fliegen.“

„Was sollen wir denn in Norwegen?“

Sorgenschluchten zeichnen sich auf Arthurs Stirn ab: „Ist euch auch nur ansatzweise klar, wie viel selbst ein kleines Bier in diesem Land kostet?“

„Also, vielleicht habt ihr schon davon gehört, Stavanger – das liegt im Süden – wird nächstes Jahr Kulturhauptstadt Europas sein.“ Wie ein Laternenfisch erhellt Aarons Klarheit und Freundlichkeit diesen durch und durch finsteren Laden. „Weil dort die ganzen Ölfirmen sitzen, ist Stavanger superreich. Die schmeißen mit Geld nur so um sich, damit das ein richtiges Spektakel wird.“ Er schenkt uns nach, wir hängen andächtig an seinen Lippen. „Sie schicken mir ständig Einladungen in die Redaktion, mich dort mal umzuschauen und ein bisschen was zu schreiben. Die Vorfreude schüren und so.“

Und der Paradise-Barmann führt aus, dass er selbst keine Zeit hätte, aufgrund diverser CCC-Verpflichtungen, und uns deshalb mit Freuden diesen Auftrag zuschanzen würde, wir verstünden es ja schließlich zu reisen, das hätten wir mehrfach bewiesen, und zahlen müssten wir auch nichts.

„Drei Tage. Es gibt kein Geld, aber es kostet auch kein Geld.“

„Also praktisch wie immer“, bemerkt Arthur, „nur doppelt so gut.“

„Wir fahren nach Norwegen“, sage ich. Ich liebe es, mit meinem Freund zu reisen. „Warst du schon mal da?“

„Klar. Der halbe Elch. Erinnerst du dich? Norwegen ist wirklich ein Paradies. Herrlich unberührt. Gute Luft. Vor Gesundheit strotzende Menschen. Keine Narbengesichter.”

„Vielleicht finden wir sogar ein bisschen Öl.“

„Vielleicht fangen wir einen Wal. Oder einen Wikinger.“

Aaron lacht: „Genau deshalb hab’ ich euch ausgewählt. Weil ihr vorurteilsfrei und ohne Klischees im Kopf an solche Aufgaben rangeht. Ich kann euch noch keine hundertprozentige Zusage geben. Aber wahrscheinlich geht das klar. In drei Wochen oder so.“

„Ende November also“, sage ich. „Herrscht dort oben dann nicht ewige Nacht?“

„Wie hier“, sagt Arthur. „Im Paradise. Wie sollen wir dir nur danken, Aaron? Woher wusstest du, dass wir dringend mal wieder verreisen müssen?“

Der Barmann zuckt nur lächelnd mit den Schultern. Madeleine kommt wieder, ohne Araber, und fragt uns, ob nun wir beide, Arthur und ich, interessiert wären, sie auf die Toilette zu begleiten, doch ich ziehe meine linke Hand unter den Zehen der Tänzerin hervor und greife mit der rechten nach meinen Freund. Nach fünf Ramazottis geht es mir etwas besser und viel, viel schlechter zugleich.

„Ich muss ins Bett“, sage ich leise. „Sofort.“

Arthur reagiert ungewohnt verständnisvoll: „Na gut, dann unterbrechen wir die Suche eben für ein paar Stunden.“

Wir umarmen Aaron und Madeleine. Letztere küsst dabei Arthurs Hals.

„Du siehst gut aus“, sagt der Barmann zum Abschied zu mir. „Irgendwie frischer als sonst.“

„Danke.“

Wir winken der taubstummen Tänzerin. Die Transe winkt zurück.

„Was steht denn als nächstes auf dem Plan?“ frage ich. „Wo sind die blauen Sternchen?“

„Erst kommt der Teufelsberg, gefolgt vom Friedhof der Namenlosen.“

„Ach so, natürlich.“

„Aber damit“, Arthur grinst diabolisch, „damit warten wir bis morgen – Halloween.“

Milton, der schottische Hausdealer und Türsteher, öffnet die Pforte ins gleißende Sonnenlicht. Arthur und ich stehen auf der Straße, jenseits von Eden, diesseits des Paradieses.


[Zieht Euch warm an
das große Balagan Blues-Halloween-Special steht kurz bevor...]

Freitag, 26. Oktober 2007

Blutsbrüder

„Lass uns Abschied nehmen“, sagt Arthur. „Mein Herz fühlt mehr, als ich mit Worten sagen kann.“ Er schaut mir direkt in die Augen, sehr ernst und voller Zärtlichkeit: „Wir sind Männer, also weinen wir nicht. Und wenn ich dann tot bin und du dich den anderen Menschen widmest, von denen keiner dich so lieben wird, wie ich dich liebe, so denke zuweilen an deinen Freund und Bruder Arthur Müller, der dich jetzt segnet, weil du ihm ein Segen warst.“

„Hör’ bitte auf damit. Du bist verrückt. Was redest du da?“

Dabei frage ich mich, und die Frage lässt mich innerlich erbeben: Was ist das hier für eine Landschaft? Überall Steine und Geröll. Ein Flackern in der Abenddämmerung, als stünde der Himmel in Flammen – wie man es aus flämischen Ölgemälden kennt. Das Höllenlicht des Westens. Das letzte Licht. Es ist ein Gebirge, das ich noch nie gesehen habe und doch genau zu kennen glaube. Arthur legt mir tatsächlich die Hände auf die Stirn. Ich höre, dass er nur mit Mühe das Schluchzen unterdrücken kann und reiße ihn aus einem plötzlichen Impuls heraus mit beiden Armen an mich, indem ich weinend hervorstoße:

„Arthur, es ist ja nur eine Ahnung, ein Schatten, der vorübergeht. Du musst bei mir bleiben. Du darfst nicht fort! Wie soll ich denn ohne dich die postmoderne Frau finden?“

„Ich gehe fort“, antwortet er leise. „Folge dem Fisch. Wir laufen auf brennendem Wasser.“

Und in diesem Moment bemerke ich das Blut, das ihm aus allen Poren rinnt, als wäre mein Freund von einer Maschinengewehrsalve durchlöchert worden. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, wer ihn gemeuchelt hat, vielleicht sind einfach nur die Umstände schuld, doch mir wird klar: Er wird sterben. Deshalb sind wir hier. Ein Schmerz erfasst mich, wie ich ihn in meinem ganzen Leben nicht gefühlt habe.

Romeo loved Juliet, Juliet she felt the same
When he put his arms around her, he said "Julie, baby, you're my flame"

„Noch wird Hoffnung sein, mein Bruder“, tröste ich ihn – obwohl ich es, wenn ich ehrlich bin, besser weiß.

„Mein Bruder lege mich in seinen Schoß“, erwidert Arthur, und ich merke, dass er es ernst meint. Ich platziere also seinen blutwarmen Schädel zwischen meinen Beinen. Er röchelt und spuckt, ich spüre seinen heißen Atem. Dass das Ende so kommen musste, denke ich, in diesem düstern leuchtenden Todesgebirge. Was für ein Balagan. Und auf einmal merke ich: Wir sind gar nicht alleine. Ein paar Meter entfernt steht Pocahontas, die aussieht wie Lulu, oder umgekehrt. Pocahontas, die – ihrem Namen gemäß – immer alles durcheinander bringt. Sie schweigt, mustert uns prüfend, ist nackt bis auf die Prada-Gummistiefel. Ich will um Hilfe schreien, Pocahontas soll den Notarzt holen, wie auch immer, oder Charlotte oder Klara – vielleicht könnte Klara helfen. Doch jedes Mal, wenn ich sprechen will, bleibe ich stumm. Mir ist so übel, dass ich keine Silben formen kann. Tränen laufen über mein Gesicht. Anscheinend kann ich nur mit Arthur reden: Arthur, der stirbt wie ein verblutendes Raubtier.

„Hat mein Bruder noch einen Wunsch?“ frage ich ihn.

„Mein Bruder vergesse unsere Suche nicht. Bitte, jemand möge das Lied von der Königin des Himmels singen! Bitte!“

Ich starre auf Pocahontas’ kleine feste Brüste. Alles dreht sich, alles flackert. Ihr Blick ist spöttisch. Sie wird bestimmt nicht für uns singen. Doch ganz ohne mein Zutun ertönt schon eine Stimme aus dem Off, sie klingt nach Chris de Burgh, wenn Chris de Burgh des Deutschen mächtig wäre, und Chris de Burgh singt engelsgleich:

Madonna, ach, in deine Hände

Leg ich mein letztes, heißes Flehn:

Erbitte mir ein gläubig Ende

Und dann ein selig Auferstehn!

Ave, ave Maria!

Das Flackern rundherum erlischt. Friede kehrt ein. Am Himmel erscheint das feine, gütige Antlitz der Princess of Wales. Als der letzte Ton verklungen ist, will Arthur sprechen, doch es geht nicht mehr. Er, der immer so viel und so sinnlos und so zauberhaft geredet hat, bringt kaum noch ein Wort heraus. Ich streiche ihm durchs Haar, halte mein Ohr ganz nah an seinen Mund, und mit der letzten Anstrengung der schwindenden Kräfte flüstert er:

„Charlie, ich glaube an den Heiland. Arthur Müller ist ein Christ. Lebe wohl.“

Charlie? Wieso Charlie? Ich bin nicht Charlotte. Arthur, bitte!“

Es geht ein konvulsivisches Zittern durch seinen Körper; ein Blutstrom quillt aus Arthurs Mund. Ich küsse seine Lippen, die sich wie zarte Frauenlippen anfühlen. Mein Freund drückt nochmals meine Hände und streckt seine Glieder. Dann lösen sich seine Finger langsam von den meinigen – er ist tot. Pocahontas macht eine lockende Handbewegung, doch ich kann mich auf keinen Fall von der Stelle rühren. Meine Augen sind geschlossen. Ich will sie mit aller Kraft aufreißen, vergeblich, die Lider sind heiß, sind tränenverklebt. Als es mir endlich gelingt, fühle ich etwas Pelziges auf meinem Gesicht, eine Art Tatze. Ein schweres Gewicht drückt mich nieder, immer tiefer in den Abgrund. Es dauert mindestens zwanzig Sekunden, bis ich begreife, dass Arthur nicht tot ist und auch nicht durchlöchert, sondern durchaus vital auf mir liegt. In seinem Löwenkostüm. Fauchend. Draußen scheint es noch dunkel zu sein.

„Aufstehen!“ Er fährt mir mit der Pelzpranke übers Gesicht. „Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir müssen bei Lulu sein, bevor sie sich verstecken kann.“

Obwohl dieser fraglos epochale Albtraum zum Glück vorbei ist, kann ich nicht sprechen. Ich fühle mich kraftlos wie ein Häftling nach sechs Wochen Hungerstreik. Keine Chance, Arthur, den König der Löwen, von meinem Körper und aus meinem Bett zu werfen. Mein Kopf glüht, das Kissen ist durchnässt. Sollte ich jemals wieder so einen Fiebertraum haben, bringe ich mich um, denke ich. Oder ich leiste mir mal eine nette kleine Analyse. Oder nehme Drogen, welche Träume an sich konsequent ausblenden. Aber nie wieder so einen Traum.

„Wie spät ist es denn?“ frage ich heiser. „Ich glaube, ich bin krank. Geh’ weg.“

Arthur rollt tatsächlich vom Bett auf den Boden, die Erleichterung ist groß. Er nimmt den lächerlichen Löwenkopf ab.

„Es ist gleich sieben“, sagt er. „Wir müssen los.“

„Du willst Lulu um diese Uhrzeit aus dem Bett holen? Bist du jetzt völlig geistesgestört?“ Meine Stimme gehorcht mir noch immer nicht so recht.

Arthur schält sich nun auch aus dem unteren Teil des Kostüms, unter dem er nichts als Shorts trägt. Er wirkt ein wenig angespannt.

„Erstens bin ich schon seit drei Stunden wach und starre auf das Kate Moss-Poster an deiner Wand. Zweitens habe ich Hunger und es gibt nichts zu essen. Und drittens sollten wir uns ein Beispiel an den Bullen nehmen. Die klingeln auch immer frühmorgens, wenn sie jemanden unbedingt antreffen wollen. Falls Charlotte bei Lulu ist, wird sie jetzt auf jeden Fall da sein.“

Ich ziehe mir die Decke über das Gesicht.

„Klar“, sage ich, „sie werden uns sicher herzlich empfangen. Mit Kaffee und Croissants. Außerdem ist das da an der Wand nicht Kate Moss, sondern Charlotte.“

„Ich dachte eher an Champagner und Lachs.“

„Du kannst dir nicht vorstellen, was ich geträumt habe.“

Captain Smith and Pocahontas had a very mad affair
When her Daddy tried to kill him, she said "Daddy-O don't you dare"

Nach unserem Besuch im Aquarium folgten wir gestern pflichtbewusst dem Python-Orakel und setzten die Schlüssel- und Charlotte-Suche in Kreuzberg, in der Ankerklause fort. Dort erinnerte man sich sehr wohl an Arthur, schließlich hat er in diesem Laden schon mehr Fassbier getrunken, als in den Landwehrkanal passen würde. Die zungengepiercte Kellnerin, mit der mein Freund in jener verlorenen Nacht angeblich ein anregendes Gespräch über Gartenarchitektur geführt haben wollte, vertrat allerdings beharrlich den Standpunkt, erst vor zwei Tagen aus dem Karibik-Urlaub zurückgekehrt zu sein, wofür auch ihre bronzefarbene Gesichtshaut sprach. Außerdem, so die Kellnerin, ginge ihr Gartengestaltung wie kaum ein anderes Thema am Arsch vorbei.

„Mir eigentlich auch“, sagte Arthur. „Das ist ja das Seltsame.“

„Was hast du nur gemacht?“ fragte ich. „Alles, woran du dich erinnerst, ist niemals passiert.“

„Wir müssen also das finden, woran ich mich nicht erinnern kann.“

Der Schlüssel lag natürlich nicht im Anker. Die Schlange, das schien offenkundig, hatte uns auf eine falsche Fährte gelockt, denn auch Charlotte zeigte sich nirgends. Wir tranken also drei, vier Bier, erfreuten uns an der Jukebox und gingen dann zu Fuß zu Lulus Wohnung, dem nächsten blauen Stern auf unserer Karte, dem nächsten potentiellen Charlotte-Versteck. Doch niemand machte auf, obwohl Arthur sogar ein paar Kanalkieselsteine gegen das dunkle Fenster warf. Seinen Plan, eine gute halbe Stunde später ein weiteres Mal – diesmal, zwecks besserer Tarnung, im Löwenkostüm – an die Tür zu klopfen, konnte ich ihm erstaunlicherweise ausreden.

„Wenn sie nicht da ist, ist sie nicht da“, sagte ich. „Und wenn Charlotte dich nicht sehen will, will sie dich nicht sehen.“

„Glaubst du, Pete hätte sich davon abhalten lassen? Manchmal muss man hartnäckig sein.“

„Pete hätte sie mit Blut bespritzt.“

„Morgen früh versuchen wir es wieder.“

Nach weiteren fünf Minuten unter der Decke gelingt es mir tatsächlich, mich aus dem Bett zu erheben. Alles tut weh, innen wie außen. Ich versetze dem Löwenkostüm am Boden einen Tritt und wanke zur Dusche, Traumfetzen geistern wie ein Flackern auf der Netzhaut durch mein Hirn. Mein blutender Freund. Das düstere Gebirge. Die kleinen Kate Moss-Brüste der Häuptlingstochter Lulu-Pocahontas, die alles durcheinander bringt.

„Na also“, freut sich Arthur.

Ich habe keine Lust, aufzustehen. Ich habe keinerlei Bedürfnis, jetzt, zu dieser unchristlichen Zeit, bei der Frau zu klingeln, mit der ich einmal den Sex meines Lebens hatte, was sie aber – so steht zu fürchten – für ihre Person ein wenig anders formulieren würde. Ich bin dieser ganzen, unsternbedrohten Suche müde. Aber ich stehe auf – und ich verrate auch, wieso:

Ich will, dass Arthur und Charlotte wieder zusammenkommen. Ich will wieder Zeit mit den beiden verbringen und vielleicht ab und zu ein paar Abenteuer mit ihnen erleben. Ich will nicht, dass Charlotte, Lulu und sogar Dimona für immer aus meinem Leben verschwinden. Ich will, dass diese Geschichte wie ein verfluchter Hugh Grant-Film endet. Wie ein Chris de Burgh-, nicht wie ein Joy Division-Song. Das liegt mir irgendwie im Blut, ich kann es nicht ändern. Doch wie mein Freund Arthur am Flughafen Tempelhof erklärte: Ein sentimentaler Mensch glaubt, die Dinge blieben so, wie sie sind. Ein romantischer Mensch hingegen vertraut verzweifelt darauf, dass sie eben nicht so bleiben, wie sie sind. Inzwischen weiß ich, dass dieser elende Snob nur F. Scott Fitzgerald zitiert hat, ich habe es noch am selben Tag recherchiert. Bezogen auf Arthur und Charlotte müsste ich gleichwohl sagen: Ich will, dass die Dinge wieder so werden, wie sie waren, nur anders, also wie sie idealerweise sein könnten, woran ich nicht glaube, stehe aber trotzdem auf, obwohl ich vierzig Grad Fieber habe und mich vor Lulu Lilienblum fürchte, um – in meiner grenzenlosen Verzweiflung – alles dafür zu tun, dass die Dinge wieder so werden, wie sie niemals waren oder gar niemals sein konnten. Was für ein Balagan. Ave Maria.

„Beeil’ dich!“, ruft Arthur, während ich kochend heiß dusche – mit brennendem Wasser, sozusagen. „Es wird schon hell.“

„Hat mein Blutsbruder noch einen Wunsch?“ frage ich.

[Wird Charlotte bei Lulu sein? Oder gar Arthurs Schlüssel? Letzteres wäre nun wirklich verdächtig. Die Suche geht weiter vielleicht im nächsten Post...]

Donnerstag, 25. Oktober 2007

Dienstag, 23. Oktober 2007

Charlottes Welt II [Das Aquarium]

Nicht nur in Charlottes Welt – in unser aller Welt gibt es an sich gar keine Möglichkeit, wahrhaft verwegen zu sein, wie Arthur Müller es so gerne wäre. Wir sind gebunden an unsere Lebensbedingungen, passen uns an. Ein Fisch im Wasser hat keine Wahl – er ist das, was er ist. Ein Goldfisch im Glas oder ein Teppichhai im Berliner Aquarium. Wirklich verwegen und groß wäre es, wenn er im Sand schwimmen könnte. Wir sind Fische und ertrinken. James Dean, ausgerechnet, hat dies so oder ähnlich formuliert, und Arthur Müller sagt:

„Ich hasse Fische.“

„Ich weiß“, sage ich.

Mein Freund zuckt mit den Achseln: „Deshalb musste ich Afet und Esra ja damals verlassen. Ein Goldfisch und ich in einem Raum – das geht einfach nicht.“

„Afet hat dich verlassen.“

„Das kann man so sehen. Man kann es aber auch anders sehen. Jedenfalls habe ich Charlotte extra nach diesem Kriterium ausgewählt: Nie wieder, habe ich gesagt. Meine nächste Freundin, da war ich mir sicher, durfte keinen Fisch besitzen. Und jetzt sind wir hier.“

Nachdem Arthurs Schlüsselbund am Bahnhof Zoo nirgendwo zu entdecken war, sind wir nun wieder auf der Suche nach Charlotte, in Charlottenburg, im Zoo-Aquarium. Angesichts der Phantasieeintrittspreise, die dieses Haus verlangt, mussten wir zu einem kleinen Trick greifen. Während mein Freund die Kassiererin mit einer schlichten, doch effektiven Frage („Wo, bitte, befindet sich das Delphin-Becken?“) in heillose Verwirrung stürzte, schlich ich mich auf der anderen Seite durch den Ausgang herein. Arthur präsentierte zudem einen fünf Jahre alten Studentenausweis – und auf diese Weise haben wir letztlich einen zwar immer noch hohen, aber schon eher angemessenen Obolus entrichtet.

„Schau mal!“ ruft Arthur in der Eingangshalle. „Orson, der weiße Wels, ist wieder da.“ Auf dem selben Plakat wird zudem eine Halloween-Party angekündigt, die das Aquarium nächste Woche in ein veritables Spukhaus verwandeln dürfte.

„Da sollten wir alle zusammen hingehen“, sagt mein Freund.

„Wir haben Charlotte noch nicht mal gefunden. Und ob sie jemals wieder mit dir reden wird, steht sowieso auf einem anderen Blatt. Vielleicht ist sie ja auch wirklich verreist.“

„Sie ist auf jeden Fall in Berlin. Wir müssen sie nur aufspüren. Und was die Party angeht, so schlage ich vor: Du gehst als ultraorthodoxer Jude. Lulu als Pocahontas. Charlotte als Bionade-Flasche. Und Dimona als Gainsbourg Girl.“

„Und du?“

Arthur runzelt die Stirn: „Die Eintrittspreise sind wirklich eine bodenlose Frechheit. Meine Freundin kann von Glück sagen, dass sie diese Aktie hat.“

Erst dachte ich, mein Begleiter hätte sich einen Scherz erlaubt, doch es ist wahr: Charlotte besitzt eine der viertausend Zoo-Aktien, die den jeweiligen Anteilseignern lebenslang freien Eintritt in den Zoo respektive sogar in den Zoo und das Zoo-Aquarium ermöglichen. Ihr persönliches Exemplar ist in der zweiten Kategorie angesiedelt. Sie hat das Wertpapier naturgemäß nicht selbst erworben, sondern geerbt, von ihrem Großvater, der letztes Jahr verstarb. Zunächst war Charlotte erstaunt gewesen, zumal sie selbst der Tierwelt eher indifferent gegenübersteht und vor allem – wie ihr Freund – niemals freundschaftliche Regungen für Fische oder gar Reptilien empfand. Zum letzten Mal hatte sie das Aquarium – wie Arthur und ich – als Kind besucht, im Biologieunterricht. Doch als Charlotte vor einigen Monaten die Agentur-Atmosphäre wieder mal unerträglich erschien, ging sie in ihrer Mittagspause ein paar Schritte spazieren. Sie brauchte dringend frische Luft. Nachdem Arthurs Freundin schon fast am Aquarium vorbeigelaufen war, erinnerte sie sich der Aktie in ihrer Krokohandtasche. Spontan betrat sie das Gebäude und wurde dank ihres Sonderstatus beinahe ehrerbietig begrüßt – ihr Opa hatte als großer Förderer dieser Institution einen gewissen Eindruck hinterlassen. Es war recht leer an jenem Tag. Charlotte streifte durch die finsteren Gänge im Erdgeschoss, ziellos und ohne spezielles Interesse. Doch allmählich wurde ihr bewusst, welch herrlichen Ort sie da entdeckt hatte. Diese Tiefseewelt war ein stilles Paralleluniversum zur Agentur, mitten in der Stadt. Solange nicht gerade die Piranhas gefüttert wurden, schwammen die Fische ruhig und gleichmütig ihre endlosen Bahnen. Überall künstliche Paradiese, für jeden war etwas dabei: die Krustentiere verbargen sich in den für sie geschaffenen Höhlen, die Anakonda schmiegte sich an ihren Ast und für die Ameisen hatte man eigens einen Ameisenhaufen angelegt, in dessen Umkreis sie ungestört ihre ätzende Ameisensäure verspritzen konnten. Jene Insekten im dritten Stock sollten Charlotte auch später stets fremd bleiben. Doch die somnambule Stimmung im Erdgeschoss, die Picasso- und Kugel- und Kofferfisch und selbst die Gepunkteten Wurzelmundquallen verbreiteten, war genau das, was sie gesucht hatte. Schon bald kehrte sie zurück, immer dann, wenn ihr Chef sich mal wieder als das Arschloch erwiesen hatte, das er fraglos ist – und vermutlich auch, wenn ihr Freund sich mal wieder als das Arschloch entpuppt hatte, das er manchmal sein kann. Charlotte ging dann ins Aquarium. Sie sah: den Paarungstanz der Seepferdchen. Die Tarnung der Stabheuschrecke. Die Kletterkünste des Grünen Leguans. Den irisierenden Glanz der Achatschnecken. Die Pracht der Traumkaiserfische. Den hypnotischen Blick des Rotaugenfroschs. Sie hörte Musik, sie dachte nach.

„Charlotte denkt ohnehin sehr viel nach“, sagt Arthur, während wir den ersten dunklen Gang erkunden. „Ich könnte das gar nicht.“

„Meinst du wirklich, dass wir sie hier und heute finden?“

„Folge einfach den Sternchen auf unserer Karte. Wir dürfen nichts unversucht lassen. Obwohl hier viel zu viele Kinder sind.“

„Bei diesem Lärm würde ich auch Musik hören“, sage ich.

„Mmmh.“ Arthur leckt sich die Lippen. „Schau mal. Die Pferdekopfmakrele. In etwas zerlassener Butter könnte die mich als Mitbewohnerin durchaus überzeugen.“

„Wo ist eigentlich der Zitteraal? Der war doch immer hier gleich am Anfang des Rundgangs.“

Keine der im Aquarium ausgestellten Kreaturen hat mich früher so begeistert wie dieser Zitteraal – insbesondere natürlich wegen seines Talents, tatsächlich messbare Elektrizität zu produzieren. Über seiner Einzelvitrine befand sich eine Anzeige, auf der die aktuelle Voltzahl aufleuchtete. Nun ist der Zitteraal verschwunden.

„Je bunter der Fisch, desto dümmer“, meint Arthur. „Auch die Sägefische wurden offenbar ausquartiert. Hier geht alles den Bach runter.“

Wir passieren den wohl gelungensten Bereich, die Landschaftsbecken, an die sich auch die Hai-Abteilung anschließt. Dort ist bereits eine kleine Menschentraube versammelt. Von Arthur nach dem Grund für die wartende Menge befragt, erklärt uns ein älterer Herr, dass die Fütterung der Haie unmittelbar bevorstünde. Er selbst käme mindestens einmal pro Woche hier vorbei, um sich dieses Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Das sei schon etwas Faszinierendes. Natürlich warten wir ebenfalls.

„Hast du die Plakette bemerkt?“ fragt mich Arthur.

Im Dämmerlicht kann ich die Aufschrift nur mühsam entziffern, doch offenbar hat Monsieur Sevigny, Charlottes Opa mütterlicherseits, noch vor seinem Tod eine Patenschaft für das Haibecken übernommen, was sicher nicht ganz billig war. Und natürlich mussten es die Haie sein, und nicht etwa die Butterfische oder die Seepferdchen. Nach allem, was mir Arthur erzählt hat, dürfte jener Großvater der einzige erträgliche Mensch in Charlottes Familie gewesen sein. Schon deshalb, weil er sogar Arthur mochte. Er war ein Entdecker, ein Schmetterlingssammler und Naturforscher französisch-schweizerischer Provenienz, der sich nach erfolgreicher Vermehrung des Sevigny-Vermögens mittels undurchsichtiger Handelsgeschäfte früh zur Ruhe setzte, um sich seiner wahren Passion zu widmen. Von Ruhe konnte gleichwohl keine Rede sein, bis zum Schluss bereiste dieser Mann den Globus und schickte seiner Enkelin Ansichtskarten aus den entlegensten Erdgegenden. Ich erinnere mich, dass Monsieur Sevigny ihr zum Geburtstag mal einen Fesselballonflug schenkte. Dies wäre weiter nicht erwähnenswert, da täglich tausend Touristentölpeln am Potsdamer Platz dieselbe Ehre zuteil wird. Doch Charlottes Opa flog den Ballon eigenhändig und ohne fremde Hilfe. Sie schwärmt noch heute von diesem Erlebnis. Und immer wenn sie den Briefkasten leert, hofft sie auf eine letzte, fehlgeleitete Karte aus Tibet oder Madagaskar.

Arthur erinnert sich: „Es war nicht allzu schwer für Charles, wie ich ihn nennen durfte, meine Sympathien zu erlangen, da er, im Vergleich zum Rest des Clans, verblüffend unsadistisch war. Er fiel inmitten der Sevignys allein schon deshalb positiv auf, weil es ihm kein Vergnügen bereitete, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen.“ Er schaut mich an, traumverloren und klar: „Die Liebe ist ein Haifischbecken“, fügt er plötzlich hinzu.

„Sie sind schon ganz unruhig.“

„Die Liebe ist ein Blutbad“, sagt Arthur.

Im selben Moment geht ein Raunen durch die Menge, die ersten Fischstückchen werden von oben in das Becken geworfen. Binnen Sekundenbruchteilen hat ein Tigerhai sie verschlungen, sein Konkurrent und Kollege ist weniger erfolgreich – er knallt mit dem Kopf gegen die Scheibe. Für die Dauer eines Wimpernschlages kann man hinter dem Spezialglas seine spitzen Zähne erkennen. Der nächste Fisch, erneut schnellen zwei Haie auf ihn zu, reißen sich um die Beute. Einer ist stärker. Im Hintergrund lauert ein wenig versteckt das wohl niederträchtigste Tier der Erde: Verglichen mit der Grünen Muräne wirkt sogar die Tüpfelhyäne wie eine Lichtgestalt. Sie wartet offenkundig nur darauf, das größtmögliche Unheil anzurichten. Selbst die Haie legen sich mit ihr nicht an. Aber vielleicht tut man der Muräne da ja auch Unrecht, und sie ist eigentlich ganz nett. Wer weiß das schon.

„Ich dachte, das Wasser würde sich rot färben“, bemerkt mein Freund enttäuscht.

Doch der ältere Herr neben uns klärt ihn auf, dass er mit einer derartigen Erwartungshaltung im Kino – er spricht das Wort aus wie: Swingerclub – wohl besser aufgehoben wäre.

„War das schon alles?“ frage ich. „Diese Haie lassen sich aber billig abspeisen. Das waren maximal drei ganze Fische.“

Ich esse ja mehr als diese Haie“, erwidert Arthur. „Erst ziehen sie uns das Geld aus den Taschen, um dann ihre Hauptattraktionen verhungern zu lassen. Fische mögen zwar kein Herz haben – doch der werte Herr Zoodirektor hat auch keins.“

„Ist das da drüben nicht Charlotte?“

„Nein, das ist Kate Moss. So einen Maskenwimpelfalterfisch könnte ich mir übrigens vortrefflich mit etwas Knoblauch, Zitrone und einer Prise weißem Pfeffer vorstellen.“

Unser Gesprächspartner von eben hat diesen Satz mit angehört. Er ist entsetzt: „Junger Mann, der Maskenwimpelfalterfisch ist ein Zierfisch. Den können Sie doch nicht einfach braten.“

„Das Auge isst mit“, entgegnet Arthur und gibt mir einen sachten Stoß.

Wenig später sind wir – etwas abseits, hinter dem Haibecken – wahrhaftig auf dem Meeresgrund angelangt. Außer Arthur und mir ist niemand in diesem Raum. Wir wissen erst gar nicht, wie uns geschieht. Ich kann weder meinen Freund, noch meine eigene Hand erkennen, laufe fast gegen eine Wand. Doch sobald sich die Augen an die ewige Finsternis gewöhnt haben, zeichnen sich winzige Lichter hinter der Scheibe ab. Wie Glühwürmchen in einer Sommernacht kreuzen sie durchs Aquarium. Es sind Laternenfische, ausgestattet mit bakterienbetriebenen Leuchtorganen als Orientierungshilfe und Lichtköder für Beutetiere.

„Hätten wir auch solche eingebauten Laternen“, sagt Arthur, „wäre das Leben viel einfacher.“

„Was ist denn das für ein Lichtspalt?“ frage ich.

Nicht nur die Laternenfische illuminieren diesen Nebenraum, es fällt noch ein anderer schwacher Schein in die Tiefseewelt. Arthur tastet sich darauf zu und bekommt irgendwie die Klinke einer nur angelehnten Tür zu fassen. Er öffnet sie vorsichtig. Wir betreten eine Art Abstellkammer mit einem Fenster, durch das etwas Licht fällt, hier lagern Putzmittel, aber auch allerhand andere Materialien.

„Da ist irgend etwas Pelziges.“ Arthur lässt kurz ein Streichholz aufblitzen, während er offenbar eine Kiste durchwühlt.

„Lass uns sofort hier verschwinden. Ich glaube nicht, dass Charlotte in diesem Karton ist.“

„Charlotte vielleicht nicht“, sagt mein Freund triumphierend. „Aber schau dir das mal an. Das sind Kostüme, Tierkostüme. Wahrscheinlich für die große Halloween-Party nächste Woche.“

„Schön. Ich warte bei den Krokodilen.“

Kurz nachdem ich die Finsternis verlassen habe und wieder vor den Landschaftsbecken stehe, kriecht auch Arthur gleich einer Muräne aus der Höhle hervor. Sein Grinsen erinnert allerdings eher an einen Clownfisch.

„Hast du eigentlich noch Bier in diesem riesigen Rucksack?“ frage ich ihn. „Die Luft ist hier so trocken.“

Wir nehmen die Treppe zum ersten Stock, ins Herz des Berliner Aquariums, dem an ein Tropenhaus erinnernden Krokodilsgehege. Arthur hat sofort Schweißperlen auf der Stirn, es ist wirklich sehr warm hier. Doch zum Glück gibt es ja kühles Bier. Wir stehen ganz allein auf der Brücke, mit der man diesen Raum durchquert, es scheint, als wäre die gesamte Krokodilsfamilie kürzlich verblichen. Nur ein besonders großes und hässliches Exemplar liegt in einer Ecke im Wasser und rollt bisweilen mit den Augen.

„Sieh nur, es lächelt“, sagt Arthur.

Ich wundere mich, wie niedrig das Brückengeländer ist – jedes Kleinkind könnte es problemlos überwinden und würde daraufhin ebenso problemlos von einem Alligatorenschwanz erschlagen werden. Nirgendwo Aufsichtspersonal oder Kameras.

„Würdest du mir mal bitte deinen Schlüssel geben?“ Mein Freund hat zwei Beck’s aus seinem Rucksack geholt. „Du hast doch diesen alten Jugendstilschlüssel. Zum Öffnen.“

Ich gebe ihm meinen Schlüsselbund und widme mich dem Studium der Informationstafeln. Charlottes Opa wäre zweifellos in seinem Element: Hier hausen nicht nur müde Krokodile, sondern zudem die verschiedensten Schmetterlingsarten, vom so genannten Postboten bis hin zum Julia-Edelfalter.

„Scheiße!“ ruft Arthur plötzlich aus.

„Was?“ Ich drehe mich um.

„Der Schlüssel. Er ist runtergefallen.“

„Dann spring’ hinterher“, sage ich, denn natürlich glaube ich ihm kein Wort.

Doch Arthur reicht mir zunächst das geöffnete Bier und zieht mich dann auf die andere Seite der Brücke. Und wenn man herunterblickt, sieht man – unterhalb der Brüstung – trübes Wasser und ein paar Schlingpflanzen. Außerdem liegt dort mein Schlüsselbund, erkennbar an dem roten Schlüsselband.

„Du bist ein verdammter Idiot“, sage ich.

„Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Er ist mir irgendwie abgerutscht.“

Ich merke, dass Arthur das Lachen nur mühsam unterdrücken kann und würde ihm am liebsten ins Gesicht schlagen, doch ich sage bloß:

„Ich warte hier und du holst Hilfe. Wenn uns dieser Schlüssel auch noch abhanden kommt, sind wir beide obdachlos.“

Arthur schüttelt den Kopf: „Mach dich doch nicht lächerlich. Ich hole ihn ja schon.“

Einen Moment lang denke ich, mein Freund begäbe sich auf die Suche nach einem Aquariumsangestellten, der uns behilflich sein könnte, doch da hat er bereits ein Bein über das Brückengeländer geschwungen.

„Nein“, sage ich. „Nein, nein, nein. Auf gar keinen Fall.“

„Jetzt stell dich nicht so an. Hier ist doch niemand. Das dumme Krokodil liegt da hinten und pennt. Es dauert nur zwei Sekunden. Du solltest dir ein Beispiel an Monsieur Sevigny nehmen – der war niemals so ängstlich wie du. Meine Peitsche, bitte.“

Tatsächlich befindet sich der Schlüsselbund beinahe in Reichweite, aber allein schon die Tatsache, dass außer uns nun auch ein kleines Mädchen das Tropenhaus betreten hat, lässt mich von Arthurs Aktion entschieden Abstand nehmen. Doch was soll ich machen: Es ist wie immer. Ich könnte wegrennen. Ich könnte meinen Freund erschießen. Mich selbst erschießen. Oder eben bleiben. Das Kind schaut ihn mit großen Augen an, er lächelt zurück – und schwingt das zweite Bein über die Brüstung. Ich beobachte das Krokodil. Einmal neigt es leicht den Kopf, als witterte es den Eindringling in sein Revier. Doch das Biest verharrt weiterhin regungslos in der Ecke.

„Hab’ ihn schon!“ ruft Arthur und hält eine nasse Hand mit dem Schlüsselbund in die Höhe.

„Sehr gut. Dann kannst du das Krokodilsgehege ja jetzt verlassen.“

Während mein Freund noch die Faust in die Luft reckt, landet plötzlich ein Schmetterling auf seiner Hand. Arthur schaut ganz erstaunt, auch ich kann mich der Schönheit dieses Falters nicht entziehen. Er hat keinerlei Berührungsängste, bleibt sekundenlang auf der Menschenhand sitzen. Aufgrund meiner Tafellektüre erkenne ich sofort, dass es sich um einen Passionsblumenfalter handeln muss.

„Sonst meiden mich Schmetterlinge eher immer“, bemerkt Arthur nachdenklich.

In selben Augenblick ertönt ein greller Schrei: Das kleine Mädchen, das wir – gebannt vom leuchtenden Blau des Passionsblumenfalters – völlig vergessen hatten, hat ihn ausgestoßen und steht nun mit offenem Mund auf der Brücke.

„Arthur!“ rufe ich.

Er dreht sich um, sieht – wie ich, wie das Mädchen – das Nilkrokodil, welches sich aus dem Wasser erhebt, begleitet von monströsem Augenrollen. Zwar ist das Tier bestimmt noch zehn Meter entfernt, doch Arthur wirkt irgendwie schockgefroren, in der Bewegung erstarrt, hält er weiter die Hand mit dem Schlüsselbund und dem Schmetterling in die Höhe. Das Kind schreit ein zweites Mal auf. Ich reiche Arthur meinen Arm und ziehe ihn, der mehr wiegt als ein Rhinozeros, über das Geländer. Dabei verschütte ich mein Bier. Das Krokodil taucht wieder unter, mit Ausnahme der verschlagenen Augäpfel. Dass all dies passieren konnte, ohne dass sich irgend jemand in diesem Aquarium dafür interessiert hätte, ist mir völlig unbegreiflich.

„Jetzt ist der Passionsblumenfalter weggeflogen“, sagt Arthur. „Ich hätte ihn gerne Charlotte mitgebracht.“

„Dieser Schmetterling würde in der Berliner Luft innerhalb von dreißig Sekunden verrecken“, entgegne ich. „So wie du gerade beinahe.“

„Ach, komm. Was für ein Kasperletheater. Hier hast du deinen Schlüssel.“

Er reicht mir den feuchten, nach Krokodilswasser stinkenden Schlüsselbund. Das kleine Mädchen ist verschwunden. Es wird nun wohl seinen Eltern eine seltsame Geschichte erzählen und von diesen Eltern dafür als Lügnerin gescholten werden. So wie es mir geht, wenn ich von Arthur Müller erzähle.

„Ich habe dir das Leben gerettet“, sage ich.

„Das Leben ist ein Krokodilsgehege. Ich habe das dumpfe Gefühl, meine Freundin ist heute nicht im Aquarium. Wir schauen noch bei den Schlangen nach und suchen dann woanders weiter. Die blöden Insekten können wir uns sparen. Außerdem habe ich Wasser in den Schuhen.“

„Früher mochte ich immer die Rokokokröte am liebsten.“

„Ich mochte schon immer am liebsten Hummer.“

Es tut mir fast weh, das zu sagen, denn eigentlich habe ich das Berliner Aquarium stets sehr geschätzt – doch heute bin ich enttäuscht. Nicht nur, weil wir Charlotte nicht gefunden haben, und Esra auch nicht, weil der Zitteraal, die Sägefische und die bizarren Vergrößerungsgläser mit den aufgespießten Vogelspinnen verschwunden sind. Das Zoo-Aquarium erscheint mir immer noch als erhabener und geheimnisvoller Ort, doch sein Geheimnis ist nicht mehr so verführerisch, das Unbekannte längst nicht mehr so fremd wie damals. Natürlich nicht. Außerdem hatte ich den Bau an der Budapester Straße etwa zehn Mal so groß in Erinnerung. Man passt sich da zwangsläufig an. Wir sind Fische – und ertrinken.

Charlotte ist weiterhin nirgendwo zu sehen, nur Kinder, überall. Arthur und ich stehen vor dem Glaskasten des Königspythons. Durch das Außenfenster kann man einen Blick in den Zoo werfen: Zwei Löwen räkeln sich auf einem Kunstfelsen. Die Schlange windet sich glitschig um ihren Ast, das schwarze Zünglein schnellt ab und zu hervor.

„Charlotte hat Schlangen früher verabscheut“, sagt Arthur. „Wie Indiana Jones. Aber inzwischen ist das, glaube ich, nicht mehr so.“

„Ich habe heute einiges über deine Freundin gelernt, das ich nicht wusste.“

„Es gibt noch viel mehr, was du nicht weißt. Aber der Python weiß alles. Man kann ihn wie ein Orakel befragen. Ist im Eintrittspreis enthalten.“

„Lieber Python“, frage ich daraufhin feierlich, „was ist nur mit dem Zitteraal passiert?“

Die Schlange zeigt keinerlei Reaktion. Mein Freund klopft ein paar mal an die Scheibe.

„Es muss schon was Persönliches sein“, sagt er. „Hallo, Python! Wo ist Charlotte? Ich vermisse sie. Sehr sogar. Kannst du mir vielleicht helfen?“

Jetzt gleitet das Reptil langsam von seinem Ast in den Sand, legt sich dort nieder.

„Das ist es!“ ruft Arthur. „Der Anker!“

„Der Anker?“

„Siehst du das nicht? Die Schlange hat sich genau in der Form eines Ankers hingelegt. Charlotte ist also in der Ankerklause. Oder mein Schlüssel. Oder beide.“

„Ich kann überhaupt keinen Anker erkennen.“

The better you look, the more you see“, sagt Arthur. „Außerdem ist die Ankerklause das nächste Sternchen auf unserer Karte. Ein rotes und ein blaues Sternchen. Danach können wir dann auch gleich bei Lulu vorbeischauen. Aber erst mal muss ich jetzt dringend was essen. Ich wünschte, mein Großvater hätte mir eine Anker-Aktie vererbt.“

Draußen ist es bereits dunkel. Zum Glück gibt es gleich vis-à-vis vom Aquarium ein hervorragendes Fischrestaurant namens Roter Sand. Dort wird heute ein halber Karpfen mit zwei Beilagen zum Sonderpreis offeriert – eine Einladung, der wir nach diesem aufregenden Tag nicht widerstehen können. Während Arthur erneut versucht, Charlotte anzurufen, öffne ich seinen Rucksack, um ein Apéritif-Beck’s herauszuholen. Ein pelziges Stück Stoff quillt hervor.

„Was ist das denn?“ frage ich.

„Ein Löwenkostüm“, sagt Arthur. „Für Halloween. Aus dieser Kammer.“

„Du hast das gestohlen?“

Ein Löwe hat im Aquarium nun wirklich nichts verloren. Er steckt sein Handy wieder ein. Meinst du, ich könnte statt eines halben auch einen ganzen Karpfen bekommen?