Mittwoch, 28. November 2007

Liebesbrief


Lieber Arthur,

nach der Lektüre kannst Du auch diesen Brief in Deinem postmodernen Schuhkarton ablegen, denn trotz allem ist es ein Liebesbrief. Der letzte. Jedenfalls von mir. Du rufst jeden Tag zwanzig Mal an, doch ich nehme nicht ab. Ich will nicht telefonieren. Mit niemandem, nicht mal mit Lulu. Und schon gar nicht mit Dir. Sie hat mir natürlich erzählt, dass Du nach mir suchst – sogar im Aquarium und wahrscheinlich auch an Orten, die ich gar nicht kenne. Aber das ist sinnlos. Wirklich. Es ergibt keinen Sinn, jemanden zu suchen, der nicht gefunden werden will. Und ich will nicht gefunden werden. Ich verstecke mich, ich verkrieche mich wie eine Schlange in ihrer Höhle, weil ich es nicht ertragen kann, Dich zu sehen. Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, wir hätten uns das alles gegenseitig erspart. Ich wünschte, ich würde Dich nicht lieben.

Seit Wochen schlafe ich nicht mehr. Doch obwohl ich immer gern neben Dir gelegen habe, weiß ich jetzt, dass es mir nicht gut tut. Ich dachte, was sich so gut anfühlt, muss auch gut sein – aber das ist falsch. Das Leben mit Dir macht mich allmählich krank. Chronisch krank. Du weißt, ich brauche das Alleinsein, jedenfalls manchmal, ich brauche die Freiheit, die ich auch Dir zugestehe. Das ist nicht das Problem. Ich könnte sogar damit leben, dass Du regelmäßig flüchtest, panisch flüchtest, wenn ich Dich lieber bei mir hätte. In einem Tretboot auf der Spree, zum Beispiel. Eine Stimme, die spätestens seit Deinem spurlosen Verschwinden ins Gelobte Land immer lauter geworden ist und auf die ich nun hören muss, sagt mir jedoch, dass Du mich gerade dann alleine lassen wirst, wenn es wirklich zählt. Wenn Du da sein musst. Für mich und unsere gemeinsame Tochter. Deshalb ist es besser, wir bereiten dem Ganzen ein Ende, bevor es überhaupt dazu kommen kann.

Ich weiß nicht mal genau, was ich Dir eigentlich vorwerfen soll. Dein regelmäßiges Arschlochverhalten kann es nicht sein, daran bin ich ja gewöhnt. Deshalb trenne ich mich nicht von Dir. Mein Problem ist: Ich weiß nicht, was mit Dir los ist. Doch ich weiß, Du wirst es mir nicht sagen, niemals, und ich habe keine Lust, Detektiv zu spielen. Das geheimgehaltene Denken ist das Entscheidende. Ich glaube, auch in diesem Fall. Was mir wirklich wehtut, ist die Erkenntnis, dass ich mir von Anfang an (oder zumindest ein paar Wochen nach unserer ersten Begegnung im Flugzeug) gesagt habe: Diesen Mann will ich kennen lernen. Wirklich und wahrhaftig kennen lernen. Zwei Jahre später lautet mein Resümee: Das Projekt ist gescheitert. Erbärmlich gescheitert. Mein größter Vorwurf an Dich ist vielleicht: Du wolltest mich nie kennen lernen. Du hast es nicht mal richtig versucht. Und Du weißt bis heute nicht, wer ich bin.

Die Schuldfrage spielt eigentlich keine Rolle. Womöglich sind wir beide a pair of star-crossed lovers, wie Shakespeare das nennt, wobei die dabei freigesetzte Verzweiflung seltsamerweise nur auf meiner Seite zu finden ist. Du suchst immer nach Intensität, nach Feuer und heißem Blut, und offenbar erfülle ich Deine Ansprüche einfach nicht. Das ist traurig, aber kaum zu ändern. Es stört mich nicht mal, dass Du mit Anfang dreißig immer nur vom allerintensivsten Leben redest und keine Ahnung hast, was Du mit diesem Leben eigentlich machen willst. Damit bist Du ja nicht alleine – schau Dich mal in meiner Straße um. Es stört mich auch keinesfalls, dass Du mir mittlerweile 7000 Euro schuldest und trotzdem nur spazieren gehst und Abend für Abend nach Schnaps riechst. Behalte das Geld. Was mich stört, was mich um den Verstand bringt, ist vielmehr, dass Du Dir die Grundmisere unserer Beziehung niemals eingestehst und meine Qualen damit ins Unerträgliche verlängerst. Deshalb erledige ich das jetzt für uns beide: Ich will zu viel von Dir. Du willst zu viel vom Leben. Und nicht mal, wenn ich Dir alles gebe, was ich habe, ist es genug. So können wir nicht weitermachen. Ich kann so auf keinen Fall weitermachen. Darum dieser Abschiedsbrief.

Falls es Dich interessiert: Ich habe meinen Job gekündigt. Angesichts meines in Kürze beginnenden Mutterschaftsurlaubs bei vollen Agenturbezügen, der damit ausfällt, war es vermutlich die dümmste Entscheidung meines Lebens. Doch sie fühlt sich wie die beste an. Vielleicht ziehe ich weg aus Berlin. Ich will erst mal so wenig wie möglich mit Dir zu tun haben, aber natürlich werde ich Dir unsere Tochter nicht vorenthalten. Sei froh, dass Du mir nicht gegenübertreten musst: Ich bin fetter als jemals zuvor, habe neun Kilo zugenommen, wenigstens kotze ich nicht mehr ständig. La grossesse en enfer. Das Kind hat die Augenlider wieder geöffnet, man kann es sehen. Ich würde Dir sogar ein Bild schicken, doch ich verachte Familienalbumsonografie. Als ich nach unserem netten Racletteabend, während Du schliefest, mit Deinem besten Freund zu „Candle in the Wind“ tanzte, hat er mir besoffen ein Geheimnis verraten: Du willst das Baby „Dimona“ nennen. Vergiss es. Ich hatte erst „Anna“ ausgesucht, aber Du kennst ja das Schicksal meiner Heldin – darauf können wir verzichten. Lulu hat „Nico“ vorgeschlagen, die andere Heldin, was auch kaum besser ist. Ich habe mich nun für „Clara“ entschieden, ohne bestimmten Grund. Es gibt wenig Schlimmeres als prätentiöse Kindernamen wie Deinen, die irgendwelchen Vorbildern nacheifern. Außerdem funktioniert „Clara“ gleichermaßen im Deutschen wie im Französischen. Du solltest das erfahren, denke ich, kannst aber nichts mehr daran ändern.

Du hast mich oft gefragt, was ich eigentlich immer im Wald mache, Arthur. Erstens war ich ständig in der verfluchten Agentur und nur ein paar Mal jährlich „im Wald“. Und zweitens hätte Dich die Antwort ohnehin nicht interessiert. Wenn Dir auch nur irgend etwas an mir liegt, höre gut zu, denn jetzt sage ich Dir: Falls ich jemals wieder aus meinem Wochenbett aufstehen sollte, um einen Waldspaziergang zu machen, will ich einen Menschen auf keinen Fall in diesem Wald treffen: Dich.

Adieu.

Charlotte

Freitag, 23. November 2007

Heroes


I wish we could swim like dolphins.

Mittwoch, 21. November 2007

Charlottes Welt IV [Der Friedhof der Namenlosen]

Wir sind alle Detektive, sagt David Lynch. Sobald es dunkel wird, fragen wir uns: Was ist da? Was ist dort? Wir suchen nach Hinweisen, bis wir etwas finden. Am Ende der Straße, am Ende der Reise. Und langsam öffnet sich die Welt.

Oder der Wald. Die Teufelsseechaussee am Teufelsberg, der finstere Pfad durch den Wald.

Arthur stöhnt auf: „Ich kann nicht glauben, dass wir schon wieder hier sind. Unsere Suche ist ein einziges logistisches Debakel. Wir hätten das an Halloween erledigen sollen.“

„Du hast mir nie erzählt, wo dieser Friedhof sich befindet.“

„Mitten im Grunewald. Du hättest ja mal auf die Karte schauen können. Ein kleiner blauer Stern mitten im Wald.“

„Es wird bald Nacht.“

Irgendwie scheint unsere Suche auf mysteriöse Weise fast immer im Dunklen zu verlaufen. Der Schlüsselbund ist immerhin gefunden, wir vermissen jetzt nur noch Charlotte – diese allerdings sehr. Tim, der depressive Pizzabäcker, hat Arthur einen Tag Aufschub gewährt, bevor mein Freund dann sein neues Handwerk erlernen darf. Und genau wie an Halloween – allerdings ohne Tequila und Löwenkostüm – spazieren wir die Teufelsseechaussee entlang, am Trümmerberg vorbei, steuern geradewegs aufs Waldesinnere zu. Dort befindet sich der Friedhof der Namenlosen, der einstige Selbstmörderfriedhof Berlins, wo Nico begraben liegt und von Charlotte mitunter besucht wird. Der Wald ist nass und kalt, Arthur und ich sind leider völlig nüchtern. Die weißen Kuppeln der Abhörstation zeichnen sich in einiger Entfernung auf dem Gipfel ab.

The killer awoke before dawn, he put his boots on.
He took a face from the ancient gallery
. And he walked on down the hall.

„Ich plane ein Zweitstudium“, sagt Arthur. „an der David-Lynch-Universität auf dem Teufelsberg. Es ist exakt die Uni, von der ich immer geträumt habe.“

„Wenn es wirklich eine David-Lynch-Akademie wäre. Aber was dort entsteht, scheint mir deiner eher unangepassten Persönlichkeit nicht ganz zu entsprechen.“

„Die Sache mit dem Meditationszentrum ist doch bloß ein Trick. Ein typischer Lynch-Kunstgriff. In Wirklichkeit wird es nur um den Meister und seinen Kosmos gehen, eine ganzheitliche Lynch-Erfahrung.“ Meinen Freund ergreift nun ein beinahe religiöser Eifer: „Wie das Haus in Lost Highway wird David auch diese verfallene Abhörstation eigenhändig einrichten und neu designen. Alles wird nach seinen ästhetischen Prinzipien gestaltet sein. Wie ein Traum, in rot und schwarz, mit verborgenen Kammern und brennendem Feuer. Starlet-Tränen, verlaufener Lidschatten. Roy Orbison-Songs aus unsichtbaren Lautsprechern. Der Sternenhimmel über dem Teufelsberg.“

„Und Isabella Rossellini wird in den Unterrichtspausen feinsten Espresso servieren. Ohne dabei zu lächeln, natürlich.“

„Überall geheimnisvolle Gegenstände. Schlüssel ohne Schloss. Entstellte Menschen. Abgeschnittene Ohren. Fratzen und Visionen.“

„Wie finanziert er diese Stiftung eigentlich?“

„Mit Gucci-Werbespots. Das heißt, jedes japanische fashion victim kauft mit der neuesten Gucci-Tasche auch ein kleines Stück unseres Traums: die David-Lynch-Universität zu Berlin. Wenn irgend jemand diesen Horchposten wieder in Gang setzen kann, dann ja wohl dieser Mann. Wir würden wahrhaftig unbesiegbar sein. Wie ich es früher war.“

„Auch für die Wildschweine hätte er sicher Verwendung.“

Arthur und ich könnten noch stundenlang über die Akademie unserer Träume reden, doch wir kommen nun an einen schwarzen Tümpel, den Teufelssee am Fuß des Berges, in welchem – Charlotte zufolge – ein Schatz vergraben liegt. Wenn er sein Löwenkostüm trüge, so Arthur, würde er jetzt sofort schwimmen gehen und nach diesem Schatz tauchen, aber ohne den Schutzpelz sei er einfach nicht er selbst. Zudem hätte er sich ja bereits in der Spree ein fürchterliches Ekzem zugezogen, das immer noch nicht verheilt sei. Ich zeige auf einen Stein. Dort liegen, ordentlich gefaltet, eine Hose und eine Jacke, daneben ein Paar schlammige Motorradstiefel. Die Lufttemperatur beträgt etwa fünf Grad.

„Da!“ ruft mein Freund.

Wir trauen unseren Augen nicht: Ein älterer Herr, etwas verwildert, badend. Der Mann hat uns jetzt wohl bemerkt, er schwimmt aufs Ufer zu. Als er sich aus dem flachen Gewässer erhebt, sehen wir, dass er vollständig nackt ist, ein weißer, drahtiger Körper in der Abenddämmerung. Arthur winkt ihm zu, ohne irgendeine Reaktion zu erhalten. Der einsame Schwimmer klettert an Land. Dabei scheint er sich seiner Nacktheit in keiner Weise zu schämen. Er scheint auch nicht zu frieren. Dieser Mann könnte sechzig sein, aber auch doppelt so alt – zumal er dieses Stahlbad vermutlich jeden Abend durchwatet.

„Guten Abend“, grüßt Arthur freundlich. „Haben Sie in diesem See vielleicht irgendwo einen Schatz entdeckt?“

Der Nackte schaut uns nur verächtlich an, wie unerwünschte Eindringlinge in intimstes Territorium. Er sagt: nichts. Ich sehe: eine handgroße gezackte Narbe, die sich über seine ganze rechte Wange zieht.

„Pardon, wir wollten nicht stören“, entschuldige ich mich, während der Fremde sich langsam und mit großer Sorgfalt ankleidet, ohne Arthur und mich eines weiteren Blickes zu würdigen. „Lass uns weitergehen.“

Mein Freund zuckt mit den Achseln. Wir kehren zurück auf den Hauptweg, der vom Scheinwerferlicht eines sich nähernden Fahrzeugs schwach erleuchtet wird.

„Was für ein Freak.“

„Noch ein Narbengesicht“, bemerke ich.

„Hast du mein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche bemerkt? Ein Löwe. Der Teufelssee enthüllt unser wahres Wesen. Hey, hier dürfen doch gar keine Autos fahren.“

Gleichwohl hält in diesem Augenblick eine schwere Limousine mit verdunkelten Scheiben in etwa zwanzig Metern Entfernung. Ein Fenster wird heruntergekurbelt. Der kaum zu erkennende Beifahrer schaut heraus, auf den Teufelssee und auf uns. Vielleicht täusche ich mich, aber offenbar hält er ein Fernglas in den Händen. Reifenquietschen. Das Auto wendet und fährt davon, in die Richtung, aus der es gekommen ist.

„Was spielt sich hier eigentlich ab?“

Ich drehe mich noch mal um, das Narbengesicht ist verschwunden.

„Wir brauchen eine Fackel“, sagt Arthur. „Wie sollen wir sonst diesen Friedhof finden? Im übrigen ist mir das Narbengesicht aus dem Teufelssee immer noch lieber als meine gleichnamige Bekanntschaft. Ich habe letzte Nacht von ihr geträumt.“

„Gab es in diesem Traum vielleicht irgend welche Hinweise auf die Identität dieser Frau?“

„Das nicht. Aber ich kann mich nun, glaube ich, klarer an sie erinnern. Wobei ich nicht weiß, ob ich mich nur an den Traum erinnere oder tatsächlich an jene verlorene Nacht.“

„Der Louche-Effekt.“

Arthur seufzt: „Im Traum habe ich das Narbengesicht sogar geküsst. Und jetzt trage ich das unbestimmte Gefühl auf den Lippen, es auch im realen Leben geküsst zu haben.“

„Du hast sie geküsst?“

„Ich weiß nicht. Wirklich nicht. Da ist eine Art Nachgeschmack, der nicht verschwindet. Vielleicht ist es aber auch der Absinthgeschmack. Alles, was ich ganz genau weiß, ist folgendes: Ich will dieses Gesicht niemals wieder sehen. Niemals.“

„Womöglich wird sie schon sehr bald wieder neben dir sitzen – als Kommilitonin an der David-Lynch-Universität zu Berlin.“

„In diesem Fall könnte ich für nichts garantieren. Selbst ein Lynchmord käme dann in Betracht. Dämonen gilt es zu vertreiben.“

„Ich weiß nicht, ob ich jetzt wirklich noch tiefer in diesen Wald eindringen will.“

Aber, das ist ja nichts Neues, die Suche muss weitergehen, notfalls mit Taschenlampe. Ob wir Charlotte nun finden oder nicht, wir werden es wenigstens versucht haben. Und so folgen wir dem Pfad, den wir wohl besser nicht verlassen sollten, sonst wären wir verloren. Im Unterschied zum Teufelsberg und zum Aquarium verbinden mich mit dem Friedhof Grunewald-Forst, wie er offiziell heißt – Charlotte spricht aber immer vom „Friedhof der Namenlosen“ –, keinerlei Kindheitserinnerungen. Natürlich nicht. Welche Kinder spielen schon auf Begräbnisstätten. Selbst heute meide ich Friedhöfe, wo ich nur kann, sogar so genannte Prominentengräber. Auf unserer letzten gemeinsamen Reise durch Nordengland musste Arthur Ian Curtis allein beehren, ich trank lieber Starkbier und schaute ein Premier League-Spiel.

He went into the room where his sister lived, and...
then he
paid a visit to his brother,
and then he
walked on down the hall, and...

Doch heute bin ich gut vorbereitet: Ähnlich wie in Wien, nahe der Donauquelle, gibt es auch in Berlin einen Namenlosenfriedhof. Nicht weit davon entfernt, in der Bucht von Schildhorn, macht die Havel einen Knick, weshalb dort immer wieder Wasserleichen angespült wurden – Selbstmörder zumeist. Ganz gleich, wo man sich desperat in die Havel stürzte, eine unterirdische Strömung sorgte mit verblüffender Zuverlässigkeit dafür, dass die eigene Wasserleiche in der Schildhorner Bucht landete. Da die christlichen Kirchen diesen Menschen und ihren Familien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein offizielles Begräbnis verweigerten, musste die Forstverwaltung sich ihrer annehmen. Man beschloss also, die Toten, die keiner haben wollte, auf einer Waldlichtung zu bestatten, nahe der verfluchten Bucht. Nachdem sich diese Praxis herumgesprochen hatte, begruben einzelne Angehörige ihre Lieben einfach eigenhändig im Wald. Und manche Selbstmörder wählten mit Bedacht einen Ort in der Nähe der Lichtung für ihren Abschied aus, um ihren Familien nicht auch noch Probleme mit den Betonköpfen von der Friedhofsverwaltung zu bescheren. Doch die meisten Leichen blieben namenlos. Allmählich wurde der Namenlosenfriedhof zu einer festen Institution, es entstand ein kirchenferner Begräbnisplatz, der erst um 1928 herum eine feste Begrenzungsmauer erhielt. Nach dem zweiten Weltkrieg fanden dort nicht mehr allein Selbstmörder ihre letzte Ruhe, sondern auch Menschen, die sich diesen idyllischen Bestattungsort zu Lebzeiten selbst ausgesucht hatten. Einer dieser Menschen war Nico. Nico alias Christa Päffgen, als The Velvet Undergrounds Femme Fatale von Anfang an dem Morbiden nicht abgeneigt. Schon bei jener gleichsam in Andy Warhols Labor gezüchteten Kunstband zählte immer nur Pop, glitzernd und hell. Doch diese Helle von Velvet Underground hatte rein gar nichts mit Hoffnung und Utopien zu tun. Der Traum, den sie träumten, glich dem letzten Rest Amphetamin auf einem blinden Spiegel im Dämmerlicht des anbrechenden Tages. Und Nico schminkte sich mit Hilfe dieses Spiegels. Noch viele Jahre nach La Dolce Vita, nach Velvet Underground, klang Christa Päffgen, aufgewachsen im Spreewald, wie man sich Hildegard von Bingen auf Speed vorstellt. So seltsam sich das anhören mag: In ihrem Timbre hört man immer den Rhein – und den Tod.

„Wenn Nico schon mit 18 wusste, dass sie auf dem Namenlosenfriedhof begraben werden wollte“, frage ich, „heißt das, sie wusste schon mit 18, dass sie sich umbringen würde?“

„Sie hat sich ja nicht umgebracht. Nico ist vom Fahrrad gefallen, auf Ibiza. Herzschlag. Sie war die einzige, die ihren zwischenzeitlichen Lover Lou Reed zum Schweigen gebracht hat – mit dem Satz: ‚I cannot make love to Jews anymore.’“

„Minna Braun liegt auch auf diesem Friedhof.“

Minna Braun ist ein, vorsichtig gesagt, spezieller Fall. Eine junge Krankenschwester, die kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges leblos nahe der Havelchaussee aufgefunden wurde. Selbstmord durch Schlafmittel, sagte der Arzt. Selbstmord aus Liebeskummer, sagten ihre Freundinnen. Man brachte Minna also zum Selbstmörderfriedhof und legte sie dort in einen Sarg. Als am nächsten Tag ein Kriminalbeamter die Leiche des Mädchens untersuchen wollte, konnte er ein gewisses Erstaunen nicht verbergen: Minnas Kehlkopf bewegte sich – offenbar war das Mittel nicht hoch genug dosiert gewesen. 24 Stunden später erwachte die Scheintote im Krankenhaus aus ihrem Starrkrampf.

„Ganz Berlin“, erzähle ich, „war nach diesem Ereignis in höchstem Maße beunruhigt. Die alte Debatte: ‚Wie vermeide ich es, lebendig begraben zu werden?’ erlebte eine Renaissance. Särge mit Glasfenstern kamen in Mode.“

„Und Minna?“

„Minna Braun verdoppelte drei Jahre später die Dosis. Diesmal erfolgreich. Wieder Liebeskummer.“

„War es der selbe Mann?“

„Das weiß ich nicht. Ich fürchte fast, es war ein anderer. Sind wir gleich da?“

Arthur wirkt leicht verstört: „Wie vermeidet man es denn nun, lebendig begraben zu werden? Ich will auf keinen Fall einen gläsernen Sarg!“

Seit der befremdlichen Begegnung am Teufelssee ist uns kein Mensch mehr über den Weg gelaufen. Selbst die Wildschweine halten sich bedeckt. Das Laub raschelt, die Zweige knacken, wir folgen dem düsteren Pfad.

„Ich gebe zu“, sagt mein Freund, „dass wir vielleicht ein wenig spät dran sind. Möglicherweise hätten wir nicht bis halb zwei schlafen sollen. Charlotte war zwar mit zwölf in Nico verliebt – ich bin also gewissermaßen Nicos Nachfolger –, aber es erscheint mir eher unwahrscheinlich, dass wir sie jetzt an diesem Grab finden werden. Ah, da geht’s nach rechts.“

„Wir wollten doch niemals vom Weg abkommen.“

Ein in der Finsternis kaum zu entzifferndes Holzschild bestätigt allerdings den Führungsanspruch meines Freundes. Nach etwa dreihundert Metern erreichen wir das Friedhofstor.

Arthur lacht: „Hast du gelesen, dass Lulu einen neuen Freund hat? Delirious Dirt, Folge 173. Und im Gegensatz zu dir erfindet sie nie irgend etwas dazu.“

„Was ist mit dem Herzschrittmacher passiert?“

„Vielleicht das gleiche wie mit Minna Braun. Der neue heißt Sailor. Lulu und Sailor.“

„Ein Matrose?“ Ich spucke aus. „Was ist mit dir? Hast du zuhause irgendwelche Liebesbriefe vorgefunden?“

„Abgesehen vom Inhalt meines Schuhkartons? Nein. Nur Rechnungen. Und eine tote Maus hinter dem Herd. Natürlich nichts von Charlotte. Vielleicht hat sie mir eine Nachricht auf Nicos Grab hinterlassen.“

„Isabella Rossellini hat sich von David Lynch getrennt, nachdem sie eine tote Maus im gemeinsamen Kühlschrank gefunden hatte.“

„Für organische Strukturen gibt es wohl kaum einen besseren Aufbewahrungsort.“

Der Friedhof der Namenlosen ist nicht viel größer als ein Basketballfeld und völlig überwuchert. Keine auffälligen Monumente oder Grabschmuck, die meisten Toten hier liegen nicht nur unter der Erde, sondern werden zudem noch von schweren Tannen bedeckt. Und selbst auf einem Friedhof läuft irgendwann die Zeit ab: Viele Gräber zieren Plastikfähnchen mit der Aufschrift: „Nutzungsdauer abgelaufen. Bitte bei der Friedhofsverwaltung melden“.

„Russen“, sage ich und deute auf die fünf Andreaskreuze mit kyrillischen Buchstaben, „die vor der Oktoberrevolution geflohen waren. Sie waren so erschüttert vom Tod ihres geliebten Zaren, dass sie in Berlin sofort in die Havel sprangen.“

„Keine Ahnung, wo Nico liegt. Ich habe auf dem Friedhof Montparnasse mal stundenlang nach Beckett gesucht, ohne ihn jemals zu finden. Als wäre Beckett auch ein Namenloser. Für Gainsbourg brauchte ich nur zwei Minuten.“

Ich schiebe etwas Laub beiseite, um eine Inschrift zu lesen: Er lebte nur für uns.

„Das möchte ich nicht auf meinem Grabstein stehen haben“, sagt Arthur.

Ich möchte ihm gerade raten, sich in dieser Hinsicht nicht allzu sehr zu sorgen, doch plötzlich zucke ich zusammen: „Da drüben steht Charlotte“, flüstere ich.

„Was?“

„Da! Da hinten. Am anderen Ende.“ Ich stoße ihn an.

Es ist nicht leicht, in der Finsternis viel mehr als Schatten und Konturen auszumachen. Aber die völlig regungslose Frau, die jetzt auch mein Begleiter bemerkt, hat – wie Charlotte – langes blondes Haar und ungefähr deren Größe. Sie kehrt uns den Rücken zu.

„Das ist sie nicht“, sagt Arthur.

„Ich weiß nicht. Du kennst sie besser als ich.“

„Ich kenne sie offenbar überhaupt nicht. Lass uns da rüber gehen.“

Wir stolpern, so gut es geht, zwischen den Gräbern hindurch. Ich frage mich, ob dieser Friedhof jemals schließt.

„Das kann sie nicht sein“, zischt mein Freund ein zweites Mal.

Als wir nur noch wenige Grabsteine von dieser Frau entfernt sind, wird deutlich, dass es sich in der Tat nicht um Charlotte handeln kann. Die Dame auf dem Friedhof ist älter, ihre Haare sind blonder und länger. Außerdem ist sie in eine Art Sackkleid gehüllt, wie es Charlotte auch im achten Monat niemals anziehen würde. Sie sieht eher aus wie –

„Nico“, sagt Arthur leise.

„Kurz vor ihrem Tod.“

Jetzt hat die Fremde uns bemerkt, spätestens jetzt, und dreht sich langsam um. Sie schaut uns an mit einem völlig leeren, zugleich wissenden Blick. Ihr Make-up ist verlaufen wie nach drei durchtanzten Nächten und gibt ihrem eigentlich hübschen Gesicht ein beinahe fratzenhaftes Aussehen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie weint, in jedem Fall blutet sie aus der Nase. Nicos Haar schimmert silberblond in der Nacht. Keiner von uns dreien sagt ein Wort, Arthur und ich halten Abstand. Die Namenlose bückt sich, geht auf die Knie und entzündet mit einem Streichholz ein Licht, das eine Heiligenfigur von innen beleuchtet. Auch die in den Grabstein gemeißelten Buchstaben sind nun zu erkennen:

Margarete Päffgen
1910-1970

NICO
Christa Päffgen
1938-1980

Klein wie ein Kindergrab. Als wäre sie die Friedhofsgärtnerin und würde bloß die Blumen gießen, nimmt die Frau nun eine Weinflasche und gießt deren Inhalt über die letzte Ruhestätte von Nico und ihrer Mutter. Dann steht sie wieder auf, schaut noch mal auf das Grab und auf Arthur und mich und bewegt sich sehr langsam, mit schleppenden Schritten, Richtung Friedhofstor. Wir starren der Doppelgängerin hinterher, bis sie im Wald verschwunden ist.

„Das war wohl nicht Charlotte“, sage ich dann.

„Charlotte hätte niemals den guten Wein verschüttet. Sie hätte natürlich Bionade genommen. Schau mal, es ist die Heilige Theresia, die da jetzt leuchtet.“

„Und eine blaue Rose.“

„Diese Rose ist eindeutig schwarz.“

Blumen und Zettel, drei Weinflaschen und eine Handvoll Zigaretten bedecken das Grab, Spritzbesteck ist keines zu sehen, in einer Tanne hängt dafür ein Mango-Oberteil. Kieselsteine, wie man sie auf jüdischen Gräbern platziert – obgleich Lou Reed dereinst sicher woanders liegen wird. Doch im Vergleich zu Père Lachaise, wo Jim Morrison in einer wahren Hippie-Hölle seinen letzten Rausch ausschläft, wirkt Nicos Grunewald-Grab fast unberührt – so wie sie selbst, bei allen amourösen Exzessen, ewig unberührbar blieb.

And he came to a door...and he looked inside
Father, yes son, I want to kill you
Mother... I want to... fuck you.

Arthur kniet jetzt ebenfalls nieder und angelt sich ein zusammengerolltes Stück Papier. Nach kurzer Lektüre verzieht er angeekelt das Gesicht:

„Warum müssen diese Fan-Gedichte immer so peinlich und so abgeschmackt sein? Das hat Nico nicht verdient. Das hat nicht mal Jim Morrison verdient. Für mein eigenes Grab würde ich testamentarisch ein Poesie-Verbot erlassen. Weinflaschen, okay. Von mir aus kann jeder, der will, auf mein Grab pissen – aber bitte keine Gedichte.“

„Niemand würde dir ein Gedicht schreiben.“

„Doch. Du.“

„Mir fällt gerade auf“, sage ich und knie neben ihm nieder, „dass ‚The End’ ja nicht nur ein Doors-Song, sondern vor allem auch ein Nico-Song ist. Dieses Zitat – ‚Can you picture what will be, so limitless and free?’ –, was die potentiell postmoderne Frau dir geschickt hat, könnte sich also ebenso gut auf Nico beziehen.“

„Aha. Und wie hilft uns das jetzt weiter?“

„Es ging mir nur so durch den Kopf. Als Detektiv darf man keinen Hinweis unbeachtet lassen. Nicos Version von ‚The End’ in der Kathedrale von Reims ist jedenfalls bis heute unerreicht.“

„Zumal sie beinahe auch das Ende dieser Kathedrale bedeutet hätte. Das Bootleg der Live-Übertragung des französischen Rundfunks war jahrelang Charlottes Lieblingsplatte. Sie hat mich selten so beeindruckt wie bei unserem zweiten Treffen, als sie mir davon erzählte.“

Reims, Dezember 1974. Weihnachtszeit. Nico hat gerade das Album The End veröffenlicht, welches unter anderem das dreistrophige „Deutschlandlied“ enthält und von der Plattenfirma mit dem Slogan „Warum Selbstmord machen, wenn Sie diese Platte kaufen können?“ beworben wird. In Frankreich äußerst populär, gestalten sie und ihr Höllenharmonium nun das Vorprogramm der Berliner Avantgardisten von Tangerine Dream. Die riesige Kathedrale – akustisch der feuchte Albtraum eines jeden Sängers – ist nicht nur komplett ausverkauft, sondern völlig überbucht. Mehr als 6000 Menschen quetschen sich in den Zuschauerraum. Während der Show ist es darum unmöglich, die Kirche zu verlassen. Naturgemäß existieren innerhalb der Kathedralenmauern keine Toiletten, was dazu führt, dass einige Konzertbesucher in die Taufbecken urinieren. Und Nico steht einsam und entrückt auf der Bühne vor dem Altar. Sie verliert sich völlig in diesem Lied – „The End“, inklusive der, vorgetragen von einer Frau, eher bizarr anmutenden Ödipuspassage – und lässt Jim Morrison wie einen Schuljungen aussehen. Wie Nicos Harmonium kommt bei ihr auch dieser Song direkt aus einer grellen, kalten Hölle. Ein blinder Spiegel im Dämmerlicht des anbrechenden Tages. Lange vor Ian Curtis, der verkündet: „Love Will Tear Us Apart“, meint sie es eben genau so: Dieser Song ist das Ende. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Und obwohl sicher auch noch das eine oder andere Chagall-Fenster zu Bruch geht, hören die meisten Menschen Christa Päffgen aus dem Spreewald andächtig zu – in der Kathedrale von Reims, wo von jeher Frankreichs Könige gekrönt wurden.

„Am nächsten Tag verbot die katholische Kirche alle weiteren Popkonzerte auf Kirchengrund. Die Kathedrale von Reims wurde extra neu geweiht.“

„Charlotte hat immer gesagt, dass sie an diesem Abend überhaupt zum ersten Mal geweiht wurde.“ Noch immer knien wir vor Nicos Grab. Arthur entzündet tatsächlich die Kerze im Bauch der Heiligen Theresa, welche der Herbstwind ausgeblasen hat. „Ich muss sie unbedingt sehen“, sagt er leise.

„Komm!“ Ich klopfe meinem Freund auf die Schulter. „Ich hab’ genug von diesem Wald. Lass uns zu dir fahren. Vielleicht ist ja heute ein Brief von ihr gekommen. Dann wirst du wieder unbesiegbar sein.“

Wir springen auf, hüpfen wie Hürdenläufer über die Grabsteine, dem Ausgang zu, und folgen dem finsteren Pfad in der anderen Richtung.

Montag, 19. November 2007

Berlin leuchtet


"Wir haben heute den Teufelsberg gekauft."

Zweiter Teil: http://www.youtube.com/watch?v=Z_5VPd93Ytk


Samstag, 17. November 2007

Inland Empire

Balagan Blues streckt – zumindest für heute – die Waffen. Wir können hier auch nichts mehr ausrichten. Das allgegenwärtige Balagan ist schlicht und einfach zu groß geworden. Es folgt der Beweis, aus dem Berliner Tagesspiegel vom 15. 11. 2007:

David Lynch baut Uni auf dem Teufelsberg

Ab Februar 2008 wird Hollywood-Regisseur David Lynch Besitzer des Teufelsbergs sein. Dort will er die "Universität des unbesiegbaren Deutschland" errichten. Vor der Grundsteinlegung kam es in der Urania zum Eklat.

BERLIN - Als der Regisseur bereits am Dienstag in der Urania sein Projekt vorstellte, kam es zu obskuren Szenen. Er und der Guru Roja Emanuel Schiffgens präsentierten das Modell des geplanten Gebäudes auf dem ehemaligen Horchposten der US-Streitkräfte. Ein "Deutscher mit weißem Umhang und goldener Krone kam auf die Bühne und nannte sich Raja von Deutschland", berichtet ein Augenzeuge. "Dieser Typ war der Oberguru und wir sollten alle gemeinsam dreimal sagen: 'Deutschland ist unbesiegbar'. Das hatte irgendwie was von Sekte." Das Publikum reagierte mit lautstarken Unmutsäußerungen wie Buh- und "Das hat Hitler auch gesagt"-Rufen. Als Antwort wurde darauf verwiesen, dass dieser lediglich nicht die richtigen technischen Mittel gehabt habe, was die Emotionen endgültig hochkochen ließ. Auch bei der am Mittwoch folgenden symbolischen Grundsteinlegung war der Guru Roja Emanuel Schiffgens anwesend. Im Rahmen einer nächtlichen Zeremonie zeichnete David Lynch Symbole des indischen Gurus Maharishi Mahesh Yogi auf die Grundsteine. Dieser soll eine spezielle Entspannungsmethode entwickelt haben, die in der Universität in Meditationskursen vermittelt werden soll. Die geplante Hochschule in Berlin soll Studenten Abschlüsse in traditionellen akademischen Disziplinen wie zum Beispiel Naturwissenschaften anbieten. Gleichzeitig sollen vor allem auch Meditationstechniken gelehrt werden, um den Lernenden mehr Souveränität und Friedfertigkeit im täglichen Leben zu ermöglichen. Außerdem soll das Bewusstsein der Menschen verändert werden: Ganze Nationen sollen von Krieg und Aggressionen, von stressbedingten Krankheiten und Süchten befreit werden, heißt es in der "B.Z." Der bisherige Grundstückseigentümer Hanfried Schütte wird in der Bild-Zeitung zitiert, er habe "mit Herrn Lynch die letzten Details zum Verkauf geklärt. Jetzt ist endlich alles unter Dach und Fach. Das ganze Plateau wird Ende Februar 2008 übertragen." Da auf dem Areal Grundschulden in Millionenhöhe liegen, war der Verkauf in der Vergangenheit immer wieder gescheitert.

[Neueste Meldungen besagen allerdings, dass die Baugenehmigung wohl doch noch nicht so weit gediehen sei... – Anm. d. Red.]

Freitag, 16. November 2007

Romances sans paroles


Tom Verlaine & Jimmy Rip: Music for Experimental Film

Mittwoch, 14. November 2007

Der Louche-Effekt

Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Italiener ein. Dies hat, so sonderbar es scheinen mag, doch seine Berechtigung. Mag es zwischen beiden noch so wenig Berührungspunkte geben, sie sind einander ähnlich in dem einen, dass man mit ihnen – allerdings mit dem einen weniger als mit dem anderen – abgeschlossen hat. Man spricht von dem Indianer kaum anders als von dem „sterbenden Mann“, während jeder, der die Verhältnisse kennt, den Italiener zumindest als den „kranken Mann“ bezeichnen muss. Nur Tim sollte dies besser nicht hören, obwohl er sicher nicht widersprechen würde. Tim heißt der Inhaber der Pizzakneipe in meinem Haus, die Arthur und ich, wenn gerade mal kein rohes Fleisch im Kühlschrank ist, regelmäßig aufsuchen. Quatro Stagione all’Inferno lautet der Name des Lokals. Dabei ist Tim gar kein Italiener. Eher eine Promenadenmischung aus Italo-Amerikaner, Kroate und Kreuzberger. Bereits sein voller Name scheint verdächtig, ja, anrüchig: Tim Verlaine. Der Pizzabäcker hat ihn in einem haltlosen Moment geändert, urkundlich sogar – als Tribut an den von ihm verehrten Gitarristen, Television-Frontmann und Ex-Lover von Patti Smith Tom Verlaine. Nicht zu unrecht, meint Tim. Tim Verlaine wie Tom Verlaine hätten sich diese gegenseitige Ehrbezeugung beide redlich verdient. Seiner eigenen Post Punk-Band Friends of the Italian Opera seien damals in den Achtzigern zwar keine kommerziellen, wohl aber künstlerische Meriten beschieden gewesen. Und Bob Dylan, so der Wirt, der große Bob Dylan, hätte die Welt ja schließlich auch nicht als „Robert Zimmermann“ erobert. Bei seinem Namenswechsel handele es sich somit um eine legitime Distanzierung von der eigenen Vergangenheit, über die er weder heute, noch irgendwann sonst jemals sprechen werde. Unter den Stammgästen kursieren finsterste Gerüchte, doch keine Beweise.

„Bob Dylan“, sage ich, „ist ja auch kein Pizzabäcker.“

„Moment“, erwidert der heute unkostümierte Arthur. „Wenn ich schon Pizza backe, dann auf keinen Fall ironische Pizza. Sondern richtige Pizza.“

„Was soll denn bitte eine ironische Pizza sein?“

„Es geht darum, wie eine Pizza aussieht – und wie sie ist. Und den Graben dazwischen. Als Pizzabäcker will ich mich auch am Ofen verbrennen. So wie ich als Fußballer Gras fressen würde und als Prostituierte... na ja.“

Tim stöhnt auf: „Dieser Ofen ist heißer als die Hölle.“

Er zeigt uns die Brandnarben an seinen Unterarmen – und verfällt sofort wieder in die für ihn charakteristische, an eine Monet-Skulptur erinnernde Pose. Ich fürchte, dieser traurige Harlekin hat seit mehr als einer Woche nicht gelächelt. Außer unseren Plätzen ist keiner besetzt, was mit Tims wie eine Bleischicht auf den Tischen lastenden Depressionen und seiner offenen Abneigung Gästen gegenüber in Verbindung stehen könnte. Auch die Pizza schmeckt hier irgendwie depressiv. Sogar Türken und selbst Indianer backen bessere Pizza als Tim Verlaine. Doch im Quatro Stagione all’Inferno wird es womöglich schon morgen zu einer Revolution kommen. Arthur hat zwar nicht Charlotte, seine allerschönste Frau, wohl aber seinen Schlüsselbund und – noch verblüffender – einen Job gefunden. Probeweise zumindest. Nach dem Teufelsberg-Abenteuer wollten wir die große Suche fast schon aufgeben. Ich habe noch immer Fieberträume. Mein von seinem Missgeschick in der Abhöranlage gezeichneter Freund wirkte beinahe so deprimiert wie der Pizzabäcker – beim Ausziehen des blut- und schweißverschmierten Löwenkostüms riss er sich zudem fast ein Ohr ab. Und Charlotte? Charlotte ging nicht ans Telefon. Charlotte geht nicht ans Telefon. Es scheint mehr als fraglich, ob sie jemals wieder ans Telefon gehen wird. Von Arthurs Vision haben wir nur noch ein einziges Mal gesprochen.

„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, murmelte der müde Löwe. „So wie du übrigens auch.“

Nur wenig später jedoch fanden wir dann seinen Schlüsselbund wieder. Und das kam so:

Wir wollten eine Pizza essen gehen, im Quatro Stagione all’Inferno. Anschreiben lassen, versteht sich.

„Hier war ich auch“, sagte Arthur vor dem Eintreten, „in der verfluchten Nacht. Aber ich hab’ Tim schon nach dem Schlüssel gefragt. Er hat nur den Kopf geschüttelt. Ich weiß wirklich nicht, wo ich noch Geld herkriegen soll.“

Es ist ja keinesfalls so, dass er sich gar nicht bemühen würde. Selbst bei der Berliner Samenbank im Wedding, der einzigen Bank, wo Arthur überhaupt noch Zutritt hat, wollten sie die Dienste meines Freundes nicht in Anspruch nehmen. Vermutlich stellte er zu viele Fragen. Und für ein verdächtig hoch bezahltes pharmazeutisches Experiment, nach dem wir uns erkundigten, waren seine Leberwerte zu schlecht. „Wir möchten sie ja nicht auf dem Gewissen haben, junger Mann“, sagte die freundliche Krankenschwester und schenkte uns ein Pfefferminzbonbon.

Tims völlig leeres Lokal: Der Besitzer, Anfang vierzig, lichtes Haar, Amateur-Gitarrist, verharrte dort in der üblichen Starre auf einem Barhocker, die Zeitung fest fixierend, mit beiden Ellenbogen auf den Tresen gestützt. Er würdigte uns keines Blickes. Bryan Ferry, „More than this“, ein schmierig-schönes Liebeslied.

Arthur summte mit: „Das hab’ ich mal Karaoke gesungen. In Tokio. Oder war’s Bangkok? Hallo, Tim!“

„Hi, Tim!“

Keine Antwort.

„Es wurde was für dich abgegeben, Arthur“, sagte Tim Verlaine dann müde. „Hier.“

Er legte das Fundstück auf den Tisch – ein Joy Division-Schlüsselband, Arthurs Schlüsselbund, den ich seit Wochen auf dem Grund der Spree gewähnt hatte. Wir waren naturgemäß sprachlos.

„Wo hast du den denn auf einmal her?“ fragte mein Freund.

„Diese Frau hat ihn abgegeben. Die Frau, mit der du hier warst. Die mit dem Narbengesicht.“

„Scheiße.“

„Wie kommt die bitte zu deinem Schlüssel?“ wollte ich wissen.

„Sie meinte, sie wüsste auch nicht, wie der Schlüssel in ihre Tasche käme, aber es hätte vielleicht irgend was mit meinem Laden zu tun. Wenn ich diese Psychopathin mit ihrem Spazierstock noch einmal hier sehe, kriegt ihr beide Hausverbot. Die vergrault mir die Gäste.“

„Du hast keine Gäste“, sagte ich.

„Das stimmt. Und ich hab’ auch keinen Pizzabäcker mehr. Der sitzt in Untersuchungshaft.“

„Hey, Tim“, rief Arthur, nun deutlich besserer Stimmung: „Vielleicht könnte ich das ja machen.“

„Du müsstest schon sehr viele Pizzen backen, unmenschlich viele, um deine Schulden hier zu bezahlen.“

Ich fürchte, Tim ahnte nicht mal, wie eng sich die Schlinge um meinen Freund inzwischen zugezogen hat. Da er seit Wochen seinen Briefkasten nicht leeren konnte, erhält er jetzt fast stündlich Anrufe von Blutsaugern und potentiellen Schlägertypen. Selbstredend schuldet Arthur mir zudem das Geld für den Heimflug aus Israel sowie mehr als zweihundert Biere – und Charlotte in etwa den Gegenwert einer Reise zum Saturn.

„Mein Gott“, sagte Arthur, „ich wollte heute morgen schon eine Kettensäge kaufen, um endlich meine Tür zu öffnen. Bei Aldi sind die gerade im Angebot.“

„Mit einer Kettensäge“, erwiderte Tim ernst, „wird man wohl kaum eine Wohnungstür aufkriegen. Aber du kannst es ja mal versuchen.“

„Jetzt hab’ ich ja meinen Schlüssel wieder.“

„Ich glaube, er meint das Pizzabacken.“

„Ernsthaft?“

Tim nickte traurig: „Komm’ doch morgen um vier mal vorbei.“

Er öffnete die Tür, der eisige Novemberwind fuhr in den pizzaofenwarmen Raum und wehte ein paar Blätter herein.

Ich murmelte: „Seufzer gleiten die Saiten des Herbsts entlang, treffen mein Herz mit einem Schmerz dumpf und bang.“

„Ich habe meinen Schlüssel wieder“, sagte Arthur, „und ich habe einen Job.“

Während Tim an der Bar brütet und bisweilen die Musik wechselt, sitzen wir daneben, verdauen versalzene Pizza und trinken auf die glückliche Fügung. Nach Roxy Music spielt der Wirt nun wieder Television: Tom Verlaine und Richard Lloyd duellieren sich förmlich mit ihren Gitarren, wobei die Instrumente keine Pistolen sind, sondern Floretts, die präzise ins Herz treffen wie die Saitenseufzer des Herbstes. Die berühmte Live-Aufnahme aus Brüssel.

„Wenn ich wieder in meine Wohnung kann, habe ich auch endlich meinen Schuhkarton wieder. Sonst ist mir ja nicht viel geblieben.“

„Vielleicht findest du sogar neue Liebesbriefe in deinem Briefkasten.“

„Ja, vermutlich hat Charlotte einen Sammelband mit herzzerreißenden Elogen auf mich verfasst.“

„Was ist mit der postmodernen Frau? Die Email mit dem Doors-Zitat?“

Arthur zuckt mit den Schultern: „Die postmodernste Frau ist mir egal. Sie war mir schon immer egal.“

„War Scarface eigentlich sehr postmodern?“

„Ich sag’ es jetzt zum letzten Mal: Ich kann mich weder erinnern, wo und wie ich diese Dame kennen gelernt habe, noch wer sie ist. Ich war gerade aus der Spree gestiegen und geistig ein wenig angegriffen.“

„Das kann ich so nicht glauben.“

„Okay, irgendwas ist da in meinem Gedächtnis. Die Frau sehe ich schon, aber keine Narben und erst recht keinen Spazierstock. All diese Erinnerungsfragmente sind durch keinerlei Bänder verknüpft. Weißes Rauschen. Nebel. Tausend Frequenzen zugleich oder keine. So muss sich ein Alzheimer-Patient fühlen.“

„Wir müssen dir unbedingt auf die Sprünge helfen. Wer weiß, vielleicht finden wir dann auch Charlotte.“ Ich winke Tim. „Womöglich haben wir im Paradise einfach nur das falsche Getränk gewählt. Ramazotti kann es nicht gewesen sein. Was hast du in jener Nacht noch getrunken?“

Arthur überlegt: „Bier. Bier. Und Bier. Whiskey, glaube ich.“

„Und eine halbe Flasche Absinth“, wirft Tim plötzlich ein.

„Was?“

„Klar. Zusammen mit deiner Begleitung. Eine Runde nach der anderen.“

„Dann ist also gar nicht das Pulver für meinen Filmriss verantwortlich, sondern der Absinth! Oder vielmehr: für diesen Film in meinem Kopf, der lauter Dinge zeigt, die gar nicht passiert sein können.“

„Natürlich“, erwidert Tim, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich hab’ das mal studiert: Absinth macht kriminell, führt zu Wahnsinn, Epilepsie und Tuberkulose. Aus dem Mann macht Absinth ein wildes Biest, aus Frauen Märtyrerinnen und aus Kindern Debile. Und Familien zerstört er sowieso. Schau’ mich an. Mich und meinen Laden.“

„Wir hätten gerne zwei“, sage ich.

„Vielleicht sollten wir lieber Bionade trinken. Nachdem ich vor kurzem noch dachte, die Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem man niemals vertrieben werden kann, glaube ich jetzt, sie ist die Hölle.“

„Dann werden wir gemeinsam durch die Hölle gehen.“

„Ja, ja. Wie trinken wir ihn?“

„Auf keinen Fall das Feuerritual“, sage ich.

Noch so ein böses Souvenir: Prag, Mitte der neunziger Jahre. Schon damals war jeder einzelne Pflasterstein touristenverklebt. Diese Altstadt bringt es fertig, dass man irgendwann sogar Kafka verabscheut. Arthur und ich, Teenager auf Interrail-Tour durch den Osten, flüchteten also vor zahnlosen Huren und Auftragskillertaxifahrern in die Trabantensiedlungen an der Peripherie. Natürlich fanden wir dort ein anderes Prag, mein Freund liebt ja ohnehin den Beton. Wir tanzten in den anrüchigsten Diskotheken. Und in einem dieser Clubs tranken wir, gemeinsam mit zwei gutgelaunten Vorstadtpragerinnen, Absinth. Dabei bedienten wir uns der so genannten „tschechischen Trinkweise“, man will sich schließlich auch assimilieren. Runde um Runde legten wir ein, zwei in Wermutlikör getränkte Zuckerstücke auf einen Absinthlöffel und zündeten ihn an. Sobald der Zucker karamellisierte und Blasen warf, löschten wir die Flammen und schütteten das Ganze in den Absinth, der sich daraufhin in spektakulärer Manier entzündete. Arthur und ich konnten gar nicht genug davon bekommen. Doch zu vorgerückter grüner Stunde – Lena und Mascha schunkelten gerade zu Alphaville-Klängen – waren wir dermaßen blau, dass wir bei diesem Prozedere immer wieder einige Tropfen verschütteten. Auf den Boden. Über unsere Hände. Und plötzlich – bei „Big in Japan“ – fing meine rechte Hand Feuer. Sie stand lichterloh in Flammen, als hätte ich sie mit Benzin übergossen. Während die Tschechen rundherum hysterisch lachten, fiel ich beinahe in Ohnmacht, bis es mir endlich gelang, meine brennenden Finger zu löschen. Noch Wochen später bot diese Hand einen grauenhaften Anblick. Zum Glück wollte ich nie Pianist werden. Die Erinnerung, das steht fest, kann durchaus ein Inferno sein.

„Einmal das Feuerritual, bitte“, sagt Arthur zu Tim. „Ich werde mich sowieso noch an deinem Pizzaofen verbrennen. So spürt man wenigstens, dass man am Leben ist.“

„Kommt nicht in Frage. Ich bin nicht versichert. Hier wird nach der französischen Tradition getrunken.“

Er stellt drei Gläser des smaragdgrünen Elixiers auf den Tisch.

„Wie schön“, sage ich. „Es gibt wirklich kaum etwas Poetischeres als diese Farbe.“

„Hier sind die Löffel. Ich brauch’ jetzt auch einen.“

Tim, der zwar eine miserable Pizza fertigt, aber ansonsten im gesamten Bezirk für seinen Perfektionismus bekannt ist, besitzt tatsächlich echte Absinth-Löffel. Wir platzieren also jeweils ein Stück Würfelzucker auf dem Löffel und träufeln aus einem Pastis-Kännchen etwas Wasser darüber. Beim Umrühren im Glas trübt sich das klare Getränk sofort milchig.

„Ich liebe diesen Effekt“, sagt Arthur. „Aber er macht mir auch Angst. Etwas eigentlich relativ Klares wird plötzlich undurchsichtig und geheimnisvoll. Genau wie mein Gedächtnis. Es ist, als wären alle meine Erinnerungen aus jener Absinth-Nacht hinter einer Milchglasscheibe verborgen. Ganz ähnlich geht es mir übrigens mit der Zukunft.“

„Das offizielle Getränk für eine bessere Welt.“

„Wenn das so weitergeht, kann ich den Laden bald zumachen. Die ganze Saison war die Hölle.“

Wir stoßen an. Diesmal steht einzig meine Kehle in Flammen.

„Hast du dich damals eigentlich in ‚Tim Verlaine’ umbenannt, weil du in Patti Smith verknallt warst?“ will Arthur wissen.

„Ich war in Toms Gitarrenspiel verliebt, sonst nichts. Die Musik ist wichtiger als alles andere.“

„Und Patti“, sage ich, „hat ohnehin nur schwule französische Dichter begehrt. Und Mick Jagger.“

„Vielleicht kaufe ich diese Kettensäge trotzdem. Jetzt, wo ich mein erstes Glas Absinth getrunken habe, erscheint mir das plötzlich als eine hervorragende Idee.“

„Was macht dein Gedächtnis?“

„Ich sehe eine Art Saturn-Nebel. Einen planetarischen Saturn-Nebel. Milchig und undurchsichtig. Ein Tagebuch, das in saturnischen Versen verfasst ist, die niemand versteht. Oder zumindest auf japanisch. Keiner kennt die Übersetzung.“

„Außer dem Narbengesicht, vielleicht. Hatte sie die Narben eigentlich schon vor oder erst nach dem Absinthgenuss? Habt ihr mit dem Feuer gespielt?“

„Wenn das so weitergeht, kann ich bald zumachen“, klagt Tim.

„Ab morgen bin ich ja hier und backe Pizza.“

„Eben.“

„Wir sollten mehr Absinth trinken“, sage ich. „Und morgen gehen wir auf diesen Waldfriedhof. Den Friedhof der Namenlosen.“

Mir ist so warm wie lange nicht. Das geht mir immer so im Quatro Stagione all’Inferno, selbst ohne Grüne Fee. Auf einmal glaube ich, dass wir Charlotte finden werden.

„Das wäre der richtige Ort für mich“, sagt Tim Verlaine. „Der Friedhof der Namenlosen. Ich bin ein kranker, sterbender Mann. Wie wär’s mit einem kleinen Feuerritual?“

Sonntag, 11. November 2007

Lost in Translation


Wer Balagan Blues verrät, was dieser etwa zwanzig Jahre alte japanische Whiskey-Werbespot mit Arthur Rimbaud zu tun hat, erhält zur Belohnung ein Löwenkostüm sofern das Betriebsergebnis es zulässt.

Mittwoch, 7. November 2007

Charlottes Welt III [Der Teufelsberg, Teil 2]

„Was war das?“ flüstere ich.

Rundherum ist alles dunkel. Einige Äste ächzen im Wind.

„Keine Ahnung. Aber jetzt hört man nichts mehr.“

„Es klang wie ein Stöhnen.“

„Dieser teuflische Berg ist zaubertoll“, sagt Arthur, der nun wieder sein Kostüm trägt. „Vor allem an Halloween. Heute ist alles möglich. Aber sollte das ein Tier gewesen sein, so stehen die Chancen, dass es in der Tier-Hierarchie über mir, dem Löwen, steht, relativ gering.“

„Und wenn es kein Tier war?“

„Dann war es vermutlich Charlotte und alles wird gut.“

Ich nehme einen großen Schluck Tequila. Mein Freund und ich befinden uns noch immer auf dem Teufelsberg, an diesem mit NATO-Draht gesicherten Zaun, der die verlassene und allmählich vom Grünzeug geschluckte Abhörstation vor ungebetenen Besuchern schützt. Ich hätte nicht gedacht, dass es in Berlin so dunkel werden kann – und das bereits am frühen Abend. Die Stadt erhellt zwar den Himmel, doch hier, auf dem Gipfel, herrscht beinahe vollkommene Finsternis. Selbst Arthurs Raubtierkonturen kann ich nur schemenhaft erkennen. Von der zugewachsenen Spionageanlage sehen wir gar nichts, einzig die irgendwie arktisch anmutende weiße Kuppel ist in der Dunkelheit auszumachen.

„Komm’, wir müssen auf die andere Seite – da sind manchmal Löcher im Zaun. Geheimtipp von Aaron.“

I wasn't lookin', but somehow you found me

Als Agent des Chaos Computer Clubs und Connaisseur anachronistischer Fernmeldetechnik hat Aaron eine Fülle an Informationen über diese schattenhafte Station gesammelt und sie eines nachts im Paradise mit uns geteilt. Doch die Festplatte in meinem Kopf braucht keinen Hacker: Als ich meinen blauen Drachen – präziser: einen der 47 blauen Drachen, die ich im Laufe der Jahre verschliss, sie waren immer blau – auf dem Drachenhügel steigen ließ, war diese von der NSA, dem amerikanischen Nachrichtendienst, betriebene Spionageeinrichtung noch online. 1500 Abhörspezialisten horchten dort rund um die Uhr. Während wir Kinder mit dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gelände nur indirekt in Berührung kamen, war der Kalte Krieg also mit Händen greifbar. Meine erste Erinnerung an die Station ist ein Wandertagsausflug, der uns auf Umwegen, die von den Lehrkräften wohl nicht geplant gewesen waren, auch zu diesem Stacheldrahtdoppelzaun führte. Schäferhunde und GIs mit Maschinenpistolen, grimmige Gesichter. Nirgendwo sonst in Berlin durften amerikanische Soldaten mit scharfen Waffen patrouillieren, nur hier. Ansonsten lief der tägliche Betrieb eher unauffällig ab und die wenigsten Spione trugen Schlapphüte. Rund um den Teufelsberg waren nie Militärfahrzeuge zu sehen – heute erscheint es mir nicht unwahrscheinlich, dass die autarke Station aus der Luft versorgt wurde. Seltsame Zeiten. Der Teufelsberg erwies sich für die NSA jedenfalls als optimaler Standort, um die Staaten des Warschauer Paktes (und zweifellos auch die BRD) mit glühenden Ohren abzuhören – zumal es, wie gesagt, nur eine Himmelsrichtung gab: den Osten. Die hier stationierten Einheiten seien so erfolgreich gewesen, resümierte Aaron im Paradise seinen Bericht, dass sie die so genannte „Travis Trophy“, eine Art Meisterschale der Fernmeldeaufklärer, gleich zweimal gewinnen konnten. Ich frage mich, wo dieser Pokal heute steht, da die Anlage vergessen wurde – allerdings nicht von meinem Freund und mir. Vergeblich suchen wir Charlotte, vergeblich suchen wir Arthurs Schlüssel und sein verlorenes Kurzzeitgedächtnis – und finden stattdessen all das, was wir niemals vergessen werden.

„Erinnerst du dich, was Aaron über das Riesenrad gesagt hat?“ fragt er.

„Nein.“

Wir schleichen durchs Gebüsch, am Zaun entlang.

„Also, eines Tages bemerkten die Spione hier, dass sich gewisse Signale zu einer bestimmten Jahreszeit zwei Wochen lang viel besser empfangen ließen. Sie wussten aber nicht, warum. Irgendwann fiel einem besonders schlauen Schlapphut jedoch auf, was genau zu diesem Zeitpunkt immer stattfand: das Deutsch-Amerikanische Volksfest nämlich. Und das Riesenrad dort wirkte für einzelne Frequenzen offenbar wie eine Art Verstärker. Daraufhin blieb es dann Jahr für Jahr einfach ein bisschen länger stehen, es wurde einfach ein bisschen länger gefeiert. Das dumme Volk hat sich gefreut.“

„Das heißt, während wir in aller Unschuld mit unseren nach Himbeerkaugummi duftenden Mitschülerinnen in einer romantischen Riesenradgondel saßen, wurden wir von heimtückischen Agenten des Kalten Krieges als Resonanzkörper missbraucht?“

„Exakt. So wie ich dich missbrauchen werde, wenn du mir noch einmal auf den Schwanz trittst.“

„Pardon“, sage ich, „es ist ein bisschen dunkel hier oben. Aaron meinte auch, dass sich Amerikaner und Briten die Anlage teilten und ziemlich reibungslos zusammenarbeiteten. Nur die Toilettenfrage lösten sie unterschiedlich.“

„Die Toilettenfrage?“

„Während die Briten drei verschiedene Klos hatten – nämlich Damen, Herren und Offiziere –, mussten die Amerikaner mit zwei Varianten vorlieb nehmen.“

„Und das Ganze auf den Ruinen von Germania!“

„Das muss eine komische Gesellschaft gewesen sein, auf diesem Berggipfel. So völlig isoliert. Ich kann mir gut vorstellen, wie die Spione mit dem anbrechenden Tauwetter auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs nach und nach immer dekadenter wurden und irgendwann nur noch Telefonsex-Hotlines abhörten oder irgendwelche Bekannten. Wer weiß, was für Orgien hier im Untergrund, im Inneren des Teufelsberges stattfanden.“

Der Löwe lacht: „Wahrscheinlich haben sie ihre Station gerade noch rechtzeitig verlassen, bevor alle komplett dem Wahnsinn verfielen. Aber wäre es nicht toll, wenn wir das Ding irgendwie flott kriegen könnten, um mal ein bisschen in die Gespräche von Charlotte und Lulu reinzulauschen?“

„Willst du wirklich hören, was die über uns sagen?“

„Ja, natürlich. Beim Barte des Propheten, was bin ich schon wieder besoffen.“

Da wir nun direkt vor dem Haupteingang stehen, scheint offenkundig, dass selbst ein Korps der avanciertesten Fernmeldetechniker diese Station nicht mehr „flott kriegen“ würde. Sie ist nicht nur vergessen, sie ist verloren. Sämtliche Scheiben sind zerstört, sogar die kugelsicheren, als wäre eine Horde Tataren eingefallen. Das ganze Gelände erinnert an einen Schrottplatz.

„Du hast eine Taschenlampe dabei?“ frage ich Arthur, der den Halogenstrahl auf ein durchlöchertes Schild richtet.

„Nein, das ist ein Laternenfisch.“

Resort Teufelsberg Berlin – Fertigstellung 2002.

„Nun ja“, sage ich, „da hat sich wohl jemand ein wenig übernommen.“

„Hier sollte eine Seniorenresidenz entstehen, für Menschen im Herbst ihres Lebens – wie uns beide. Samt Spionagemuseum. Die Investoren waren nach etwa drei Tagen pleite.“

„Ich hätte ein Sanatorium für Lungenkranke eröffnet. Für pensionierte sowjetische Agentinnen mit schwarzen Augen und Schwindsucht.“

Während ich eigentlich nur darum ringe, einigermaßen die Balance zu wahren, sucht Arthur den Zaun nach einem Schlupfloch ab. Die Vandalen haben ganze Arbeit geleistet, er wird schnell fündig.

„Glaubst du wirklich, das passt mit dem Kostüm?“

Mein Freund antwortet nicht, er kriecht bereits unter dem Metallzaun hindurch. Für einen Moment scheint er festzustecken, ich breche etwas vorschnell in schadenfrohes Gelächter aus, doch letztlich gelingt es ihm irgendwie, sich zu befreien. Ich knie ebenfalls nieder. Als ich mich auf der anderen Seite der Absperrung wieder erheben will, fehlt mir plötzlich die Kraft dazu. Ich bleibe liegen, das Gesicht auf dem Boden.

„Gib’ mir den Tequila, mein Bruder, und lass’ mich hier zurück.“

„Schau’ mal, was ich gefunden habe.“

„Charlotte?“

„Negativ.“

„Eine Wehrmachtspistole?“

„Nein, jetzt komm’ schon!“

Ich raffe mich also auf, vielleicht zum letzten Mal jenseits von Eden, und folge dem Löwen mit der Taschenlampe. Arthur steht ein paar Meter entfernt, inmitten irgendwelcher Ruinen, und in den Pranken hält er eine Violine.

„Hör’ mal, sie hat noch drei Saiten. Die Geige ist zwar total kaputt und es ist auch nicht so einfach mit diesen Tatzen, aber wenn du ganz leise bist, kannst du mich zupfen hören. Welcher Zigeunerjunge die wohl verloren haben mag...“

Ich schreie auf.

„Du solltest leise sein, du Idiot“, sagt Arthur.

„Da ist irgend was über meine Füße gelaufen!“

„Meine Güte.“

Wir bewegen uns auf Zehenspitzen über das Areal. Was für ein Balagan. Lulu war hier mal auf einer illegalen Party, die, gelinde gesagt, recht ausschweifend gewesen sein muss. So sieht es auch aus. Als wäre die Station vom Evil Empire bombardiert worden, um sie für immer auszulöschen. Tatsächlich galt der Teufelsberg im Fall eines sowjetischen Luftangriffs als erstes Ziel – sämtliche entsprechenden Übungen der Roten Armee wurden stets mit den Koordinaten unseres scheinbar so friedlichen Abenteuerspielplatzes durchgeführt. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir und meinem blauen Drachen das damals irgendjemand erzählt hätte. Außerdem entbehrt die Strategie, ausgerechnet einen Trümmerberg in Schutt und Asche zu bomben, nicht einer gewissen Ironie. „Berlin baut sich aus Trümmern Berge und macht damit aus der Not eine Tugend!“ freute sich eine Wochenschau von 1947. Und heute ist hier kein Stein mehr auf dem anderen, Graffiti an jeder Wand, überall liegt Müll, rostige Fässer, Kanister und Glasflaschen. Die Ruinen des Kalten Krieges auf den Überresten des heißen. Ich frage mich, ob es jemals eine dritte Schicht geben wird.

I tried to hide from your love light

Arthur versucht vergeblich, eine Tür zu öffnen.

„Ha, siehst du! Eine Bionadeflasche! Charlotte muss hier irgendwo sein.“ Er lässt den Lichtschein über das Gelände wandern. „Vielleicht wird Dimona irgendwann auch mal so aussehen.“

„Deine Tochter?“

„Ich rede von der Chocolate Factory. Wenn die letzten Ratten das sinkende Schiff verlassen haben.“

„Ich fürchte, dieses Schiff haben sie gerade nicht verlassen.“

Das Hauptgebäude mit der futuristischen Kuppel ist frei zugänglich – hier existiert schlicht keine Tür mehr, die man absperren könnte. Wir betreten einen dunklen, bunkerartigen Raum, ich habe erhebliche Orientierungsprobleme.

„Und Charlotte ist hier wirklich regelmäßig?“

„Bestimmt nicht jede Woche. Sie arbeitet ja sowieso fast immer. Aber Charlotte mag verlassene Orte. Verlassene Orte sind weniger verlassen als von Menschen überlaufene, hat sie mal zu mir gesagt. Sie ist gern allein. Nur manchmal eben auch nicht – und ich weiß dummerweise nie, wann.“

„Im Wald ist man ja auch allein, ohne sich einsam zu fühlen.“

„Ja, aber der Wald ist für sie nicht so ein Hermann-Hesse-Hippie-Wald. Natürlich nicht. Ich schwängere prinzipiell keine Hesse-Hippie-Huren. Weißt du...“, Arthur zögert, doch ich habe den Eindruck, die Dunkelheit und das Löwenkostüm wirken bei ihm wie ein Wahrheitsserum – vom Schnaps ganz zu schweigen. „Für mich“, fährt er erstaunlich luzide fort, „ist der Wald überflüssig. Auf anderen Planeten gibt es schließlich auch keine Bäume. Ich mag eben Beton. Doch bei Charlotte stört es mich überhaupt nicht, dass sie ab und zu im Wald spazieren geht. Bei ihr ist das völlig okay. Trotzdem war es von Anfang an ziemlich schwer, in diese Einsamkeit, die sie manchmal umgibt, einzudringen. Wahrscheinlich sollte ich da auch gar nicht eindringen. Obwohl sie mir das immer vorwirft, dass ich nie irgend etwas Substantielles von mir preisgebe, ist meine Freundin bisweilen so verschlossen wie meine Wohnung zur Zeit. Es existiert einfach kein Schlüssel. Oder ich finde ihn zumindest nicht.“ Er seufzt. „Und es gab immer wieder Momente, das weiß sie auch selbst, da habe ich sie angeschaut und hatte das Gefühl, ich würde komplett durch sie hindurchsehen, als wäre sie mir völlig fremd. Ich darf sie dann auch nicht berühren, nicht mal mit der Fingerspitze. Seitdem sie schwanger ist, ist alles noch komplizierter geworden. So ein Augenblick, wo ich plötzlich in ihre Seele blicken konnte, wie Pete bei Kate, als er sie auf der Tanzfläche sah, war jedenfalls nie da.“

„Glaubst du, Kate Moss hat eine Seele?“

„Sofern sie sie noch nicht verkauft hat natürlich. Bei Klara“, lallt der Löwe in der Finsternis, „war das ganz anders. Ich musste nie darüber nachdenken. Es gab einfach keinen Zweifel. Dachte ich zumindest. Erst durch meine Vision habe ich das richtig verstanden. Love will tear us apart.“

„Noch mal: welche Vision?“

„Charlotte hingegen – das war von Anfang an Nachdenken und Überlegen, richtig harte Arbeit. Ich musste mir alles erarbeiten, nicht nur ihre Zuneigung, ihr Lächeln und ihre Blowjobs, sondern auch meine eigenen Gefühle. Obwohl Charlotte eindeutig schöner, intelligenter und phantasievoller ist als Klara. Und schwangerer. Außerdem ist sie viel netter und steht auch zu mir – meistens zumindest. Aber noch immer ist es ein Kampf, jeden Tag, und offenbar ist es niemals genug.“

Arthur holt tief Luft.

„Der Kampf muss weitergehen“, sage ich, ein wenig hilflos, „auch wenn alles untergeht und kein Mensch am Leben bleibt.“

„Allerdings. Aber dazu muss ich sie erst mal finden, verdammt.“

„Glaubst du, sie liebt dich?“

„Ich weiß es.“

Die Liebe, das weiß wohl auch Charlotte, ist ein Trümmerberg. Ein vergiftetes Paradies. Unter der pastoralen Picknickwiese liegt das Balagan begraben. Man kann endlos viele Schichten darüber auftürmen und wird das Innere aus Schutt und Asche doch nie ganz verbergen können. Es genügt, ein kleines Loch zu schaufeln, schon kommt die Wahrheit ans Tageslicht. Die Welthauptstadt Germania, eine geladene Wehrmachtspistole oder eben ein gebrochenes Löwenherz. Charlottes Traurigkeit hat nichts mit Naivität zu tun – im Gegenteil. Ich glaube, sie sieht klarer als Arthur und ich. Immer wenn ich meinen Freund fragte, warum ihn Klara damals, nach ein paar Monaten, so plötzlich verlassen hätte wie die Schlapphüte ihre Station, erwiderte er nur: „Keine Ahnung.“ Und ich fürchte, es handelt sich nicht um eine der typischen, ausweichenden Arthur-Antworten. Er hat wirklich keine Ahnung. Das ist der Kern des Problems. Und bereits ein knappes Jahr später, als ich aus Amerika zurückkehrte, war der immer noch genauso ahnungslose Arthur bereits mit Charlotte liiert.

But like heaven above me, the spy who loved me

„Das ist ja großartig!“ ruft er.

Der Lichtkegel erfasst zunächst eine Tür mit der enigmatischen Aufschrift: Military Police – Shadow Watch, dann eine Wand, an der ein Motivationsslogan prangt:

LEAD, FOLLOW OR GET THE HELL OUT OF THE WAY.

„Na, das lass’ ich mir doch nicht zweimal sagen”, bemerkt mein Freund und geht voran. Dabei zupft er den einen oder anderen heiteren Ton auf seiner Trümmergeige.

„Nicht so schnell“, sage ich.

„Psst!“

„Was?“

Ich hole Arthur ein, fasse ihn an der Schulter. Wir scheinen uns nun im Zentrum der Anlage zu befinden, jedenfalls ist dies bislang der größte Raum. Die Lampe brennt nur noch als Funzel, es ist so dunkel wie in der Tiefseeabteilung des Aquariums. Mit den Füßen bleibe ich immer wieder an Kabeln oder anderen, nicht identifizierbaren Objekten hängen. Außer dem Atem des Löwen höre ich nichts, es riecht jedoch auffällig streng.

„Da war es wieder“, flüstert er. „Dieses Geräusch.“

Wir horchen. Tatsächlich: Es ist weniger ein Stöhnen, als ein Quieken. Ich weiß nicht, ob Ratten so klingen.

„Vielleicht ist das eine Art Notruf, eine Botschaft, die der alte Commander der Station hinterlassen hat, bevor er Zyankalikapseln schluckte. Es kommt dahinten aus der Ecke. Von rechts. Pass auf, ich werde nun ganz langsam in diese Richtung leuchten.“

Es raschelt jetzt, es raschelt und quiekt. Ich trete einen Schritt zurück und Arthur richtet die Lampe auf den verdächtigen Winkel. Man kann zunächst kaum etwas erkennen, der Strahl ist viel zu schwach, doch nach und nach zeichnet sich vor meinem Auge die Gestalt einer Kreatur ab. Wir sind nicht allein. Jenes Wesen, welches dort an der Wand hockt, ist gedrungen und massiv und steht auf ziemlich kurzen Beinen. Der Kopf wirkt dafür übergroß, mit winzigen Ohren und schräg nach vorn gerichteten Augen. Zottige Borsten, aufgestellt zu einem Kamm. Die Schnauze scheint zur Stirn hin etwas eingedellt. Eine Ratte ist dies nicht.

„Ein Wildschwein“, flüstert Arthur. „Ich glaube, es hat Angst vor uns.“

„Vor dir. Es hat sicher noch nie einen Löwen gesehen.“

„Das ist ein Frischling. Er sieht genauso aus wie bei Asterix.“

„Lass uns abhauen. Die Mutter ist bestimmt nicht weit.“

Doch das Borstenvieh ist gar nicht so klein, wie es zunächst den Anschein hatte – und kommt plötzlich direkt auf uns zu.

„Scheiße, die Zähne“, zischt mein Freund.

Ich bin zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Raum gestolpert, höre noch, wie Arthur offenbar die Violine auf das Wildschwein wirft und sich mit einem lauten Knall den Kopf an einem Stahlbalken stößt. Sein Fluch muss meilenweit vernehmbar sein. Wir treffen uns erst wieder draußen am Zaun. Vom schwarzen Schwein ist nichts zu sehen.

Lead, follow or get the hell out the way“, keucht Arthur. „Hast du die Zähne bemerkt? Die schöne Geige!“

„Es hat mit den Hinterbeinen gescharrt und Urin verspritzt. Das ist immer ein schlechtes Zeichen.“

Erst auf der sicheren Seite der Absperrung können wir durchatmen.

„Wir hätten das Vieh erlegen sollen. Fällt dir auf, dass ich binnen kürzester Zeit von mehreren Kampfkatzen, einem Krokodil und nun auch noch von einem Keiler attackiert wurde?“

„Er hat dich nicht attackiert.“

„Weil ich mich zu wehren wusste. Und jetzt habe ich eine Gehirnerschütterung. Prost.“

„Zum Wohl. Ich denke, die Tataren hätten sich ganz anders gewehrt.“

Der Tequila brennt in meiner Kehle, viel ist davon nicht mehr übrig. Obwohl ich krank bin, sind meine Sinne geschärft. Die Luft duftet nach feuchtem Laub. Auch wir verlassen nun die Abhörstation, die vielleicht heimlich noch weiter empfängt, weiter sendet, auf Autopilot, bis die Welt untergeht. Wer weiß schon, was unterhalb der Ruinen noch für Strukturen existieren, was diesen Berg im Innersten zusammenhält. Womöglich sind gar nicht alle Spione geflüchtet. Arthur ritzt mit seinem Taschenmesser ein Zeichen in einen Buchenstamm.

„Das ist Rotwelsch“, murmelt er trunken. „Es bedeutet: Charlotte, du bist die allerschönste Frau! Komm endlich zurück zu mir! Ich habe meine Geige für dich geopfert, im Kampf gegen die Bestie. Nur meine Freundin beherrscht noch die Sprache der Räuber und des Waldes. Nur sie kann das verstehen.“

Die Buche blutet. Arthur tunkt seine Pranke in das tropfende Harz und streicht mir mit der klebrigen Masse über den Hals. Ich stoße ihn weg. Dabei stürze ich fast auf diesem Wurzelpfad, von überall dringen sonderbare Laute an unsere Ohren. Möglicherweise formieren sich die Wildschweine des Waldes in diesen Minuten zu einer Art Sturmtruppe. Hier in der Gegend kennt das ja jeder – die Biester sind auf gefährliche Weise assimiliert, sie verwüsten ganze Grundstücke und gehen des nachts auf der vielbefahrenen Heerstraße spazieren. Wir passieren eine Holzbrücke, die über eine kleine Schlucht führt. Während die Halloween-Kids Berlins wahrscheinlich schon von Tür zu Tür ziehen und Süßes sammeln – ein Vergnügen, welches, so steht zu befürchten, auch noch auf Arthurs Agenda steht –, sind wir allein im verzauberten Wald. Die Stadt: ein dumpfes Hintergrundrauschen.

Is keeping all my secrets safe tonight.

„Ich glaub’, wir haben uns verlaufen“, sage ich. „Die Teufelsseechaussee muss woanders sein.“

„Was ist das denn?“

Mein Freund ist wieder mal vorausgegangen. Nun macht er Halt, vor einem Felsblock, der wie ein Kriegerdenkmal mitten im Wald platziert wurde.

„Das ist der Kletterfelsen“, sage ich, ohne eine Sekunde zu zögern.

Errichtet vom Berliner Alpenverein, einer dubiosen Sekte, treffen sich hier die Hobby-Bergsteiger der Hauptstadt, um das Klettern zu üben. Der Felsen hat nicht gerade Alpenniveau, ist jedoch gar nicht so leicht zu bezwingen. Für die weniger Ambitionierten gibt es auch eine Leiter, die Arthur, der Löwe, jetzt erklimmt.

„Ich glaube, ich blute am Kopf. Unter dem Fell. Es ist ganz warm und feucht.“

„Dann komm’ da runter. Du wirst dir noch den Löwenschädel brechen.“

„Du hast keine Ahnung, wie schwer es ist, in diesem Kostüm hier hochzusteigen.“

Mein Freund klettert trotzdem weiter, die Flasche in einer Pranke. Auf der Plattform haben die beflissenen Alpinisten sogar ein kleines Gipfelkreuz aus Holz angebracht. Oben angelangt, lehnt Arthur sich dagegen und nimmt den letzten großen Schluck.

„Ich bin der König der Löwen auf dem Teufelsberg!“ brüllt er. „Ich rufe den Teufel!“

Keine Antwort. Mein Freund reißt sich die Maske herunter und richtet die Lampe auf sein Gesicht. Blut läuft ihm über beide Wangen, es vermischt sich mit dem Schweiß und gibt seinem Antlitz einen monströsen Glanz. Der Zusammenstoß mit dem Stahlbalken war wohl doch nicht so harmlos, wie es schien. Aber ein Löwe kennt keinen Schmerz, erst recht nicht nach einer halben Flasche Agavenschnaps. Arthur wirkt wesentlich besoffener als ich, der kaum noch stehen kann, vermutlich nicht mal liegen könnte.

„Ich rufe den Teufel! Zeige dich jetzt!“

„Was faselst du da?”

„Ich liebe das, was sie ist. Nicht das, was sie tut. Das habe ich nun begriffen. Nur sie kann ich dafür lieben, was sie ist. Und deshalb bin ich für immer verflucht. Und Charlotte auch.“

„Was?“

Mein Freund schwankt, er greift mit beiden Händen nach dem Kreuz und flüstert ziemlich theatralisch: „Klara. Meine Vision. In der Jewish Princess. Ich habe meine Seele an Klara verkauft!“

„Komm’ jetzt da runter!“

Doch auf einmal ist alles erleuchtet. Ein Knallen, gar nicht weit von hier. Schwefelgeruch zieht herüber. Farbige Blitze zucken am Himmel, grüne und gelbe, die Dunstglocke über der Stadt steht lichterloh in Flammen. Wie der Himmel auf CNN, denke ich, der Himmel über Bagdad. Arthur lehnt an diesem Kreuz, blutend, als trüge er das ganze Leid der Welt auf seinen Löwenschultern: „Der Feuersturm!“ ruft er immer wieder, oder: „Ein Tausend-Bomber-Angriff!“. Und selbst als mein vernebeltes Gedächtnis mich endlich nicht mehr alleine läßt und mir mitteilt, dass heute, an Halloween, gleich nebenan auf dem Maifeld am Olympiastadion, das Finale der so genannten Pyronale, der Weltmeisterschaft der Feuerwerker, stattfindet, starre ich noch wie gebannt auf dieses Licht. Das gelbe Licht: Es ist das Höllenlicht aus meinem Todestraum, am Himmel über dem Teufelsberg.