Dienstag, 11. Dezember 2007

Margherita oder: Der Wal

Ich schließe meine Augen, flüstert Arthur, um zu sehen.

Eigentlich müsste er sagen: um etwas anderes zu sehen. Denn wir gehen, so schnell wir können, die Kastanienallee entlang – eine Straße, die mein Freund inbrünstig hasst. Arthur möchte lieber gar nichts sehen, als die Kastanienallee zu erblicken, und deshalb hat er die Augen geschlossen, während er neben mir läuft und einen Pizzakarton vor sich her trägt. Es regnet, es stürmt in Berlin, wir bringen Charlotte eine Pizza. Beinahe wäre uns diese Rettungsmission sogar verwehrt geblieben: Jenes unglückliche Ereignis im Quatro Stagione all’Inferno, über das ich an dieser Stelle lieber schweigen möchte, welches gleichwohl als „Sardellen-Zwischenfall“ in die Gastronomiegeschichte eingehen wird, hätte Arthur um Haaresbreite seinen Job gekostet. Tims Vater schien zunächst Blutrache nehmen zu wollen. Einzig Sophies charmanter Überzeugungskraft ist es zu verdanken, dass mein Freund weiter als Pizzabäcker arbeiten darf. Nicht nur im Quatro Stagione all’Inferno, sondern überhaupt, wo auch immer auf dieser Welt Pizzateig ausgerollt und Tomatensoße angerührt wird. Heute mittag durfte Arthur schließlich mit Tims Segen seine ganz spezielle Pizza backen. Charlottes Pizza. Er hat gleichsam um sein Leben gebacken. Nach einer uferlosen Diskussion mit Sophie, Aaron, Tim und schließlich sogar Tims Vater und mir sowie der per Telefon zugeschalteten Lulu, deren neuer Liebhaber Sailor sich im Hintergrund auch noch einmischen musste, entschied er sich für eine schlichte Margherita. Etwas Rosmarin, etwas Basilikum. Mozzarella. Olivenöl. Sonst nichts. Und mit dieser wohlschmeckenden Kreation will mein verlassener Freund nun Charlotte überzeugen, dass sie den Fehler ihres Lebens begangen hat, als sie ihm – Arthur – riet, sich in ihrem Wald nicht mehr blicken zu lassen.

„Ich habe nachgedacht“, murmelt er und hält sich in seiner Blindheit an meinem Arm fest. „Wenn Charlotte diese Pizza nicht isst, müssen wir flüchten. Wir können hier nicht bleiben.“

„Wo willst du denn hin?“

„Ich weiß es noch nicht. Aber es gibt ein paar Ideen. Deshalb schließe ich ja ständig meine Augen, um mir ein neues Leben vorzustellen.“ Arthur stolpert, doch ich stütze ihn. „Wenn dieses bislang namenlose Kind auf die Welt kommt und tatsächlich ‚Clara’ getauft wird, ist dies jedenfalls nicht mehr meine Welt.“

„Charlotte will doch sowieso wegziehen.“

„Nach Paris vielleicht. Das ist ja praktisch um die Ecke. Nein, meine Tochter Clara und ich auf einem Kontinent – das funktioniert nicht.“

„Deshalb gehst du jetzt zu Charlotte, erzählst ihr von Klara und machst sie auf die Problematik aufmerksam. Sie kann den Namen ja ändern. Das Kind ist noch nicht mal geboren. Und wir fliegen noch vor Weihnachten nach Norwegen.“

„Norwegen.“ Mein Freund bleibt stehen, in einer Pfütze vor dem Prater. Die Straßenbahn quietscht. „Das wäre immerhin ein Anfang. Ein Ausgangspunkt. Wenn Charlotte diese Pizza nicht isst, mich nicht zurück will und unsere Tochter an Heiligabend ‚Clara’ getauft wird, werde ich pünktlich zu eben diesem Weihnachtsfest in See stechen. Ich habe im Netz bereits einige Stellenangebote entdeckt. Die suchen ständig junge, gut ausgebildete Leute auf ihren Walfängern.“

Walfängern?

„Klar. Glaubst du, ich fahre fast bis zum Polarkreis, um mich über Europas Scheiß-Kulturhauptstadt 2008 zu informieren?“

„Du willst ernsthaft auf einem Walfänger anheuern?“

„Was Besseres als diesen Pizzaofen finde ich überall.“

Ich muss lachen: „Ich glaube, auf so einem Schiff geht es nicht ganz so romantisch zu, wie du dir das vorstellst. Das sind heute schwimmende Fabriken. Die nehmen die gefangenen Wale sofort aus, total automatisiert, und entfernen alle ökonomisch interessanten Teile. Dabei fließt allerdings immer noch eine Menge archaisches Blut.“

„Blut muss fließen. Ist Tims Kneipe etwa romantisch? War der Sardellen-Zwischenfall romantisch? Ist eine Existenz als Pizzabäcker ohne Charlotte mit einer Tochter, die rein zufällig genauso heißt wie die Liebe meines Lebens, die übrigens rein zufällig genauso heißt wie Adolf Hitlers Mutter, romantisch?“

„Vielleicht nicht. Doch findest du es legitim, dich an den armen Walen zu rächen, nur weil du von einigen Frauen – und da schließe ich Klara Hitler ausdrücklich ein – enttäuscht wurdest?“

„Ja. Natürlich.“ Arthur öffnet die Augen. „In diesem Leben, so wie wir es erleben, bleibt einem ja gar nichts anderes übrig, als permanent von Rache zu träumen.“

„Das solltest du bei deinem Vorstellungsgespräch in Norwegen vielleicht nicht erwähnen. Ich fürchte, auf diesen hochmodernen Walfängern können sie besessene Fanatiker wie dich nicht gebrauchen. Dir wäre es immerhin zuzutrauen, so ein Schiff samt Mannschaft in deine Gewalt zu bringen und es einem völlig deplazierten privaten Rachedurst zuliebe in den Untergang zu reißen.“

„Nennt mich Captain Arthur Ahab.“

„Arthur Atta Ahab.“

„Arthur Adolf Atta Ahab. Auf hoher See zeigt sich, was für ein Mensch du bist. Salzwasser wirkt in dieser Hinsicht wie Absinth. Mein Gott, stell’ dir vor, Charlotte betrügt mich in Paris mit diesem Ari.“

Ich zucke mit den Schultern: „Lieber Ari Delon als sein Vater. Außerdem ist es technisch unmöglich, dass Charlotte dich betrügt, da sie sich ja von dir getrennt hat.“

„Nein.“ Mein Freund holt tief Luft. „Für jedes Stück dieser Pizza, das Charlotte nicht isst, wird ein Wal sterben. Und zwar qualvoll.“

Ich kenne Charlottes Wohnung nicht, sie ist erst seit März in dieser Gegend ansässig und hat mich nie eingeladen. Arthur indes hält die Augen nun geöffnet. Wenigstens das Haus, gelegen in einer Seitenstraße, sollten wir also finden – obwohl es mir mehr als zweifelhaft erscheint, dass die schöne, hochschwangere Charlotte die Tür aufmacht und spontanen Appetit auf eine Margherita verspürt.

„Was hat es eigentlich mit dieser Sophie auf sich?“ frage ich Arthur, während der Regen auf uns niederpeitscht.

„Sophie ist die Zwillingsschwester von Aarons Ex- beziehungsweise Wieder-Freundin Nathalie. Die du ja aus dem Paradise kennst.“

„Was?“

„Warum rufst du sie nicht einfach an? Vielleicht kommt sie wirklich mit nach Stavanger. Ich kann dich sowieso nicht die ganze Zeit entertainen, weil ich ja bei den verschiedenen Walfangunternehmen vorsprechen muss.“

„Und was trägt Sophie immer in dieser riesigen Tasche mit sich herum?“

„Keine Ahnung. Eine Harpune vielleicht. Ruf’ sie an, Aaron hat sicher nichts dagegen. Übrigens hab’ ich wieder eine Email bekommen, obwohl die Annonce mit der postmodernen Frau schon lange nicht mehr erscheint.“

„Von derselben Person?“

„Ich nehme es stark an. Wieder nur ein Satz: Watching you watch others move – then sometimes someone cracks down.”

„Ein Cabaret Voltaire-Zitat.“

„Nicht schlecht. Es klingt beinahe wie eine Drohung. Aber sobald ich auf dem Schiff bin, ist es mit diesen Emails sowieso vorbei.“

Ich mache mir schon meine Gedanken, wer hinter den mysteriösen Nachrichten stecken könnte. Zunächst hatte ich ja Charlotte im Verdacht, doch die plagen zur Zeit wahrlich andere Sorgen. Ich selbst bin es auch nicht. Seit Arthur und ich ständig nach Schlüsseln, Frauen oder Erinnerungen suchen, komme ich praktisch gar nicht mehr zum Schreiben. Eines ist augenfällig: Ganz gleich, wie viele Hinweise wir erhalten – die postmoderne Frau ist uns immer ein paar Pottwallängen voraus.

Mein Freund wirkt jetzt nervös: „Meinst du nicht, ich hätte vielleicht eine etwas weniger minimalistische Pizza backen sollen?“

„Ihre Schönheit liegt in ihrer Einfachheit“, sage ich. „Eine Margherita ist beinahe unberührt und bietet somit unendlich viel Potential. Im Guten wie im Schlechten.“

„Ein unberührtes Pizzaparadies. Wir könnten natürlich auch nach Tahiti gehen, wie Nicos Sohn.“

„Ari wurde dort beinahe mit einer Harpune getötet, vergiss das nicht.“ Ich schüttele den Kopf. „Und Melville saß auf Tahiti im Knast. Das ist ein gefährliches Pflaster.“

„Melville saß doch auch schon auf diesem Dach in Jerusalem, wo wir Lizzy getroffen haben.“

„Richtig. Aber er verbrachte darüber hinaus einige Zeit in einem Südseegefängnis, nachdem er auf dem Walfänger desertiert hatte. Also bevor er Moby Dick geschrieben hat. Im übrigen teile ich mir lieber eine Zelle auf Tahiti mit einem nüchternen Kannibalen als ein Jerusalemer Dach mit einer besoffenen Christin, die ständig vom Goldenen Kalb erzählt.“

„Allerdings.“ Arthur lächelt beinahe so entrückt wie Lizzy. „Tahiti muss tatsächlich ein Paradies sein. Die Menschen Polynesiens kennen vom Leben nichts anderes als seine Süße. Für sie heißt Leben Singen und Lieben.“

„Genau, deshalb ist Gauguin auch singend an der Syphillis verreckt.“

Wir sprachen vorhin schon darüber, über Gauguin und die Syphillis, als wir uns bei Starbuck’s am Hackeschen Markt in zwei großen Ohrensesseln ausstreckten und Espresso tranken. Naturgemäß hatten wir den Kaffee nicht bei Starbuck’s – das könnten wir uns gar nicht leisten –, sondern beim Bäcker nebenan gekauft, doch letzterer bietet nur ein paar Stehtische und nicht jene bequemen Ohrensessel wie man sie in fast jeder Filiale der beliebten Kaffeerösterei in allen denkbaren Variationen findet. Arthur und ich lasen Zeitung.

„Rimbaud war Waffenhändler“, sagte ich nach der Lektüre eines längeren Feuilletonparagraphen. „Wie Charlottes Vater.“

„Charlottes Vater ist kein Waffenhändler. Das heißt, er hat sein Geld sicherlich auch in dieser Branche angelegt, klar, aber ich würde ihn jetzt nicht als reinen Waffenhändler bezeichnen.“

„Rimbaud war ja ebenfalls kein reiner Waffenhändler.“

Wie Melvilles Captain Ahab, dem einst der weiße Wal das linke Bein abriss, konnte auch Arthur Rimbaud im Anschluss an seine abessinische Handelskarriere nur noch ein einzelnes Bein vorweisen – allerdings ohne Prothese aus dem Kieferknochen eines Pottwals. Für Blutrache blieb zudem keine Zeit mehr, denn kurz darauf verstarb der dichtende Waffenschieber. Das war 1891, im selben Jahr also, in dem auch Herman Melville sein namenloses Ende fand – so namenlos, dass der New York Times-Nachruf Henry Melville gedachte und Moby Dick jahrzehntelang den Status einer drittrangigen meeresbiologischen Abhandlung innehatte.

„1891“, erzählte ich Arthur und legte meinen Kopf zurück, „fährt der Maler Paul Gauguin, wie Rimbaud ein gewohnheitsmäßiger Absintheur, erstmals nach Tahiti. Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies.“

Die Südsee kommt dem Paradies aber auch nicht viel näher als das heimische Paris. Gauguin sieht nur ärmliche Wellblechhütten und von Missionaren korrumpierte Polynesier in westlichen Kleidern. Von Unschuld und idyllischer Naturerotik keine Spur. Doch Gaugin malt ein anderes Tahiti, jene Welt, die er mit geschlossenen Augen sieht, das erträumte Paradies. Er hüllt die ernüchternde Realität in leuchtende Farben. Das ist das offene Geheimnis dieser Bilder. Der Maler lässt sich später auf einer Insel namens Hiva Oa nieder. Er baut sich eigenhändig eine traditionelle Maori-Hütte, die er mit einer Vierzehnjährigen, Modell und Mutter seines Kindes, teilt. Mit Ausnahme der Kirche besitzt im Dorf allein Paul Gauguin einen Brunnen, alle anderen holen ihr Wasser direkt von der Quelle.

„Diesen Brunnen hat man nun ausgegraben“, sagte ich und nippte an meinem Espresso. „Diesen Brunnen und seinen Müll.“

Die neuen Besitzer der Hütte warfen nämlich jenen Teil von Gauguins Nachlass, der sich nicht verscherbeln ließ, in den Brunnen, den niemand mehr brauchte – unter anderem unzählige leere Absinthflaschen.

„Ein Absinthbrunnen, aus dem Leben entspringt“, bemerkte Arthur. „Wie wundervoll.“

Doch nicht nur Flaschen und enorme 35-Liter-Weinkanister fanden sich in diesem Erdloch, sondern auch allerlei Haushaltsgegenstände sowie Spritzen und Behälter, die ursprünglich Morphium enthielten. Zur Linderung der syphillitischen Torturen. Und ein Parfümflacon, irgendein Pariser Duft, mit dem Gauguin sich bis kurz vor Schluss die Inselmädchen gefügig machte.

Eigentlich begann mein Freund schon bei Starbuck’s, von Flucht zu reden.

„Wenn ich einen Wunsch frei hätte“, sagte er, „würde ich gerne mit dem Flugzeug abstürzen und unversehrt überleben. Ich wäre fortan unbesiegbar. An eben so einem Ort wie Hiva Oa, wo ich in Ruhe mein Löwenkostüm tragen und die Liebesbriefe in meinem Schuhkarton sichten und ordnen könnte. Wo ständig neue Dinge passieren – Dinge, die man nicht versteht.“

„Wie in Berlin?“ fragte ich.

„Nein, denn anders als hier wäre es kein Problem, sie nicht zu verstehen. Im Gegenteil. Wir müssten nicht mehr ständig Detektiv spielen. Es wird wirklich Zeit für einen Plan B.“

Ich nickte und sank dabei tiefer in meinen unfassbar weichen Starbuck’s-Ohrensessel.

„Stop!“ ruft Arthur, da ich noch nun ebenfalls mit geschlossenen Augen Paul Gauguin und seinem Absinthbrunnen nachsinne. Er bleibt stehen. „Das ist Charlottes Haus. Wenn sie die Pizza nicht will, weiß ich auch nicht mehr, was ich machen soll. Vielleicht schneide ich mir ein Ohr ab. Gib mir deine Hand!“

„Wieso?“

„Mach’ schon. Los. Also, falls meine Freundin mich endgültig verlassen und im Schlaf der Unvernunft ausgerechnet an Weihnachten – exakt hundert Jahre nach Klara Hitlers Tod – ein Wesen namens ‚Clara’ gebären sollte, erkläre ich hiermit, dass wir dann flüchten. Wir flüchten uns in den ewigen Absinthrausch und in eine andere, verwegenere und bessere Welt.“

Ich schaue ihn an, strecke zögernd meine Hand aus: „Ich kann dir da jetzt wirklich keine feste Zusage geben.“

In diesem Augenblick verlässt ein junger Mann Charlottes Haus. Er trägt, glaube ich, einen Kamelhaarmantel und eine dieser lächerlichen skandinavischen Wollmützen, die man am Kinn zubinden kann, und schaut uns eine Spur zu lange an.

„Wer war das?“ frage ich, während der Sturm immer stärker und der Regen zu Hagel wird.

„Ich weiß nicht.“ Arthur wirkt leicht verstört. „Ich kenne ihn, doch ich weiß nicht, woher.“

„Vielleicht von Greenpeace. Du musst da jetzt hochgehen.“

„Ja.“

„Alles in Ordnung?“

Ich mustere meinen traurigen, durchnässten Freund: Ein Walfänger sieht anders aus. In diesem Zustand würde er nicht mal eine Sardelle fangen. Wäre ich Charlotte Sevigny, würde ich möglicherweise die Tür einen Spalt weit öffnen und durch diesen Spalt hindurch ein, zwei Stücke Margherita essen.

„Nein“, sagt Arthur und reicht mir den Pappkarton. „Gar nichts ist in Ordnung. Dieses Leben ist eine Zumutung. Der Himmel fällt uns auf den Kopf. Die Südsee ist weit und die Pizza ist kalt.“

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