Donnerstag, 30. August 2007

A Teenage Symphony to God

Diese Schlampe! Arthur tritt gegen einen Heineken-Sonnenschirm. Wie kann ein Mensch nur zu so etwas fähig sein!

„Vielleicht hat sie Deine Traveling Wilburys-CD ja gar nicht wirklich zerstört. Möglicherweise war es nur eine Art Warnung. Außerdem braucht niemand diese Platte.“

„Sie hat achtzehnmal mit dem Hammer draufgeschlagen. Charlotte ist zu einem schwangeren Monster geworden. Und so eine nennt sich dann in ihrer Mail auch noch Pazifistin! Nach diesen Kriterien wäre ja selbst Saddam Hussein ein Pazifist.“

„Dein Gesicht sieht übrigens etwas besser aus“, sage ich. „Ein bisschen besser.“

Arthur ist noch immer schwer gezeichnet. Der Zusammenprall mit dem Tresen in der Jewish Princess hat grauenhafte Spuren hinterlassen: diverse Schrammen, eine aufgeplatzte Schläfe, die wir noch am selben Morgen nähen lassen mussten, sowie ein ziemlich blaues rechtes Auge. Eigentlich ist es eher grün-gelb. Love Will Tear Us Apart. Vorhin, in der Sheinkin Street, wollte mein eitler Freund sich zu Camouflage-Zwecken eine neue Sonnenbrille zulegen. Er hatte auch schon eine ausgewählt. Allein, die Verkäuferin zeigte sich wenig entgegenkommend: Es gäbe da offensichtlich ein kleines Problem mit seiner VISA-Karte, vielleicht eine technische Störung, sie könne da jetzt auch nichts machen. Wie Diebe zogen wir von dannen, leider ohne Beute. In jenem Moment hat Arthur, glaube ich, begriffen, dass es Zeit ist, nach Hause zu fahren. Wir suchten sofort im Anschluss ein Internet-Café auf – mein Freund, der diese Einrichtungen lieber meidet, wartete draußen und ich buchte unseren Flug. Da er Charlotte, wie man verstehen kann, nicht um Geld bitten will, musste ich für sein Ticket aufkommen. Es handele sich doch bloß um Zahlen und Figuren, sagte Arthur, das sei einfach nicht seine Welt. Aber er würde mir den Betrag schon zurückzahlen – und wenn er dafür auf den Strich gehen müsse, im arktischen Berliner Winter.

„Ich betrachte mein blaues Veilchen als Tribut an Tony Wilson“, erklärt Arthur nun, während wir die Strandpromenade von Jaffa entlang schlendern.

Es ist heute sehr stürmisch, die Wellenreiter tanzen auf der Meeresoberfläche.

„Veilchen sind immer blau“, sage ich. „Das liegt im Wesen dieser Blumenart.“

„Ich will nicht nach Berlin. Berlin ist dumpf und depressiv. In Deutschland beginnt gerade der Herbst, falls du es vergessen haben solltest.“

Doch es ist nur ein letztes Aufbäumen. Ich weiß, auch Arthur wird in dieses Flugzeug steigen. Ihm bleibt keine andere Wahl. Das Heilige Land ist erobert. Ich selber kann keinen Humus mehr sehen. Und ein kleiner Arthur-Break wäre, ehrlich gesagt, ebenfalls mal ganz reizvoll.

I may not always love you, but as long as there are stars above you

„Immerhin“, bemerkt mein Gefährte, „kehre ich als Invalide in die Heimat zurück. Das ist gut. Frauen – jedenfalls die prämodernen Frauen, und von denen sind wir ja umgeben – lieben Invaliden. Verwilderte Krüppel wie mich, die aus heißen Ländern verwundet nach Hause zurückkehren. Bei Charlotte bin ich mir da allerdings nicht so sicher. Die wird denken, ich war in einem jüdischen S/M-Club.“

„Warst du ja auch.“

„Ja, aber das ist nicht der Grund für dieses blaue Auge.“

„Behaupte einfach, es war ein Terroranschlag“, sage ich. „Hast du Charlotte eigentlich jemals von Klara erzählt?“

„Natürlich nicht. So geisteskrank bin nicht mal ich. Es gibt da ohnehin nichts zu erzählen. Ich hoffe nur, es meldet sich irgend jemand auf meine Annonce. Dann drehe ich diesen Film.“

„Ich weiß auch fast nichts über Klara.“ Irgendwie lässt mich das Thema nicht los. „Du redest nie von ihr.“

Arthur schaut mich an, monströs und sichtlich melancholisch. Nach etwa zwei Minuten sagt er folgendes: „Je mehr ich darüber nachdenke, desto deutlicher erscheinen mir Tony Wilson und sein ganzes Factory-Konzept als eine neoromantische Bewegung. Und da ging es eben nicht nur um Mode, wie bei Spandau Ballet und Adam and the Ants. Beschissene Bandnamen, übrigens.“

„Allerdings.“

„Es ging um Schein und um Substanz. Um eine Vision von neuen, noch nicht entdeckten oder längst vergessenen Welten, die beides verband.“

„Ich weiß nicht“, sage ich. „Tony Wilsons ganzes Auftreten hat auf mich nie besonders romantisch gewirkt.“

„Weil Du zu viele Frauenzeitschriften liest. Man kann auch Romantiker und Arschloch zugleich sein.“

„Schon möglich“, erwidere ich, indem ich mich nach einer fabelhaften Frau umdrehe. „Man kann auch ein normales und ein blaues Auge haben. Und noch dazu ein Arschloch sein.“

„Außerdem sind alle Wilsons Romantiker.“

„Was?“

„Klar“, sagt Arthur. „Lass uns doch mal eine kleine Liste machen. Ich habe angefangen: Tony Wilson. Jetzt bist du dran.“

Ich kann nicht mal richtig schwimmen, geschweige denn, auf Wellen reiten, doch in diesem Moment wirken die Surfer im lichtblauen Mittelmeer auf mich wie die glücklichsten Menschen der Erde. Wie Delphine springen sie lachend von Welle zu Welle. Vielleicht sollten wir doch hier bleiben. Abwarten. Überwintern. Uns lange Bärte wachsen lassen – und surfen lernen.

„Woodrow Wilson“, sage ich.

„Perfekt.“ Arthur gibt mir High-Five. „Woodrow Wilson: Idealist. Völkerbund. Nicht geschaffen für diese Welt. Der größte Romantiker unter allen amerikanischen Präsidenten.“

„Was ist mit Kennedy?“

„Gar nichts ist mit Kennedy. Jetzt bin ich wieder dran. Ich sage: George Wilson.“

„George Wilson?“

„Der Automechaniker in Fitzgeralds Great Gatsby. Der immer ausbrechen will aus seinem Elend, gemeinsam mit seiner Frau, die er abgöttisch liebt. Die Frau will aber lieber die Mätresse des reichen Polospielers sein, weil der ihr ein Schoßhündchen kauft und einen Funken Glamour in ihr Leben bringt. Als sie überfahren wird, stirbt Wilson gleich mit. Er kann gar nicht mehr weiterleben ohne seine große Liebe. Aber vorher tötet er noch Gatsby.“

„Nicht schlecht“, sage ich und überlege weiter.

„Beide sterben. Neben Gatsby, dem König, ist dieser Wilson der einzige wirkliche Romantiker in der Geschichte. Er wohnt an einem unfassbar tristen Ort namens Valley of the Ashes und will da raus. Das Manchester-Syndrom.“

You'll never need to doubt it, I'll make you so sure about it.

Mir fällt etwas ein: „Der Volleyball ‚Wilson’“, sage ich.

Arthur versteht mich nicht, was selten vorkommt.

„‚Wilson’ heißt auch der Volleyball in diesem unsäglichen Tom Hanks-Film. Tom Hanks auf einer einsamen Insel. Er spricht die ganze Zeit mit einem Ball der Firma Wilson.“

„Aber ist dieser Volleyball deshalb ein Romantiker?“ fragt mein Freund skeptisch.

„Er ist Hanks’ einziger Gesprächspartner. Im Film redet er zwei Stunden lang nur auf diesen Ball ein. Dadurch wird ‚Wilson’ – so nennt er ihn – zu einer Projektionsfläche für seine Träume und Sehnsüchte. Man kann auch romantisches Symbol und ein besonders irrwitziger Auswuchs von Product Placement in einem sein.“

„Einverstanden.“ Arthur nickt. „Postmoderne Romantik. Okay. Aber jetzt kommt der Höhepunkt.“

„Die Brüder Luke und Owen Wilson?“

„Nein. Nein, nein, nein. Ich rede von Brian Wilson.“

„Scheiße“, sage ich, „das ist gut.“

„Brian Wilson. Beach Boy ohne Beach und ohne Boy. Fast alle Surfer sind ja komplette Idioten, doch einen gewissen romantischen Appeal kann man ihrem Lebensstil nicht absprechen. Und was ist das einzige, was noch romantischer ist als dieses Leben in den Fluten?“ Arthur macht eine Pause. „Nicht zu surfen“, fährt er fort, niemals überhaupt auch nur zum Strand zu gehen, aber immer von der Sehnsucht danach zu singen. Brian Wilson musste sich von seinem Bruder Dennis erzählen lassen, wie sich Wellen eigentlich anfühlen. Dann hat er seine Songs darüber komponiert.“

„Er hat sich sogar Strandsand ins Studio kommen lassen.“

„Das war gar nicht nötig. Nur ein billiger Trick. Wichtig ist, was sich in seinem Kopf abspielte.“

Arthur klopft unwillkürlich gegen seine lädierte Stirn, zuckt zusammen.

„Und dann dieses Album“, sage ich, „Smile, das nie fertig wird, und das auch nie fertig werden darf, sonst wäre er verloren.“

„Wie nannte er es noch mal?“

Ich atme tief durch: A Teenage Symphony to God.”

„Amen“, sagt Arthur. „Dabei war er nie wirklich ein Teenager. Wahrscheinlich hatte er auch nie wirklich Sex. Doch spätestens bei Smile hatte Brian Wilson Sex mit Engeln. In aller Unschuld und in aller Schuld. Das kann man hören. Zwei Minuten metaphysischer Chorgesang genügen. Das ewig nachhallende Echo eines kosmischen Orgasmus.“ Mein Freund lächelt erstmals am heutigen Tag. „Und Sex mit Engeln“, fährt er fort, „ist per se niemals reaktionär – wie es die frühen Beach Boys-Songs vielleicht noch sind. Abgesehen davon war und ist der Mann komplett wahnsinnig, was uns aber egal sein kann. Außerdem war er bereits als Kind auf dem rechten Ohr taub und konnte deshalb niemals stereo hören. Gottes Strafe: Der Herr wusste, dass dieser kleine dicke Brian Wilson eines Tages seine Engel ficken würde.“

„Du bist auf dem rechten Auge blind.“

Es dämmert schon, wir haben nun Banana Beach erreicht, die Surfer draußen kehren langsam in die Trockenwelt zurück. Sie schälen sich aus ihren Neoprenanzügen.

„Komm“, sagt Arthur und tätschelt meinen Nacken, „wir gehen eine Bionade trinken.“

Gainsbourg Girls III: Wie Dimona einmal enden könnte...


Dienstag, 28. August 2007

Bionade vs. Bier

from: charlotte.sevigny@abc-consulting.de

to: arthurrimbaud3@gmx.li

date: 08. 28. 07 / 06. 32 p. m.

subject: Bionade vs. Bier

Lieber Arthur,

obwohl ich es nur ungern tue, muss ich eines zugeben: Es fühlt sich gut an, dass Du nicht mehr schweigst. Diese Stille tat ja schon in den Ohren weh. Nebenbei bereitet mir die Tatsache, dass Du zum Nichtmehrschweigen sogar ein Internet-Café aufsuchen musstest, besonderes Vergnügen. Die dort versammelten „Verlierer“, wie Du sie bezeichnest, werden Dich sicher als einen der ihren erkannt und mit offenen Armen aufgenommen haben. Wie schön. Ich kann mich ja zum Glück von solchen Orten fernhalten. Auf meinem kleinen Balkon mit W-Lan ist es auch heute wieder sehr idyllisch. Nur ein bisschen langweilig, wie üblich. Vorhin gab es ein gewaltiges Gewitter. Sonst ist rein gar nichts passiert. Gerade habe ich die zweite Flasche Holunder-Bionade geöffnet und die vierzehnte Zigarette nicht geraucht. Ich lese zum dritten Mal Anna Karenina. Die einzige Verliererin auf diesem Balkon bin ich. Das ist mein Leben anno 2007, meine persönliche Saison en enfer.
Immerhin: Du bist auch noch am Leben. Die kleinen Soldatinnen mit ihren „scharfen“ Waffen haben Dich offenbar bestens beschützt. Und jetzt kommst Du also nach Hause. Nicht wegen mir oder wegen Deiner Tochter. Der einzige Grund Israel zu verlassen, ist – „beinahe“ – die bloße Anwesenheit Deines Cousins Konrad in diesem Land. Du sagst es ja selbst. Konrad, der Dir überhaupt nichts getan hat und sich rührend um mich kümmert. Was meinst Du, wie ich mich fühle, wenn ich so etwas lese? Außerdem glaube ich erst an Deine Heimkehr, wenn Du vor meiner Tür stehst. Hoffentlich ohne Militär-Bikini – Du weißt, ich betrachte mich als Pazifistin. Vielleicht bin ich dann auch nicht mehr wütend, wenn ich Dich sehe. Vielleicht bin ich sogar noch viel wütender. Ich weiß es nicht. Ich weiß noch immer nicht, was eigentlich in Dir vorgeht und was ich von Dir erwarten kann. Du sagst zwar nicht, dass Du unser Kind nicht willst, das stimmt. Doch zugleich sagst Du mit keinem einzigen Wort, dass Du es willst. Nicht mal jetzt, wo sich dieses Mädchen schon ganz in Deinem Sinne entwickelt – zum „Gainsbourg Girl“, wie Du es nennst und wie Lulu es mittlerweile leider auch nennt. Meine ständigen Zweifel werden dadurch nicht weniger schmerzhaft. Was die Songauswahl betrifft, hast Du mich übrigens mal wieder unterschätzt: „Je t’aime... moi non plus“ halte selbst ich nicht für sehr originell. „Baby Alone in Babylon“, gesungen von Jane Birkin, erschien mir weitaus passender. Ich glaube, unser Baby hat sofort verstanden, worum es in diesem Lied geht. WAS DENKST DU, ARTHUR?

Du schreibst mal wieder von Intensität. Von dem ganz großen, eindrücklichen und tief empfundenen Leben, nach dem Du immer und überall suchst und das Du offenbar bei mir nicht findest. Aber irgendwie habe ich den Eindruck, es ginge da lediglich um eine Illusion von Intensität. Bier, Humus und Karaoke – mit Verlaub, verglichen damit, erscheint mir das Vaterwerden dann doch als die tiefgreifendere Erfahrung. Aber das musst Du selbst entscheiden. Ich will Dich nicht einsperren. Natürlich nicht. Du kannst von mir aus auch mit Deinem Freund zum Mond fahren. Doch mitunter sieht es für mich so aus, als würdest Du gar nichts mehr mit mir teilen wollen. Als wäre ich nur eine schwere Last, die man irgendwie durchs Leben schleppt und die man ansonsten meidet, wo man nur kann. Du fragst explizit nicht, was für eine Mutter ich sein will. Ich sage es Dir trotzdem, höre bitte ausnahmsweise einmal zu: Ich möchte nicht einfach „Charlotte Sevigny“ sein, so wie Du einfach „Arthur Müller“ sein willst. Ich möchte mich verändern. Für mich und für das Kind. Und auch für uns. Charlotte 2.0 sozusagen. Und Dir würde ich das gleiche raten, selbst wenn ich weiß, wie sehr Dich solche Ratschläge nerven. Aber es ist nun mal so. Und Dein blöder Schuhkarton geht mir auch auf die Nerven. Ich habe mich schon tausendmal entschuldigt und kann nur zum 1001. Mal sagen: Es tut mir leid, doch ich habe Deine Briefe nicht „durchwühlt“, sondern nur ein paar verschämte Blicke riskiert. Ich werde das sicher nicht wieder tun, aber es ist eben passiert. So what? Meinst Du, es macht mir Spaß, immer diese Kollektion historischer Liebesbriefe vor der Nase zu haben – selbst wenn sie vordergründig irgendeinem „postmodernen“ Projekt dient? Einem völlig lächerlichen Projekt, nebenbei gesagt. Doch das weißt Du ja selbst. Und jetzt muss ich los. Die arthurfreie Zeit genießen. Lulu und ich werden unsere Pali-Tücher umbinden und uns zu vollkommen unpostmoderner Musik betrinken. Vorher aber schnell noch ein paar Momente, in denen ich in den letzten Wochen an Dich gedacht habe. Einer davon ist erfunden – aber nicht Nummer 10:

Ich habe an Dich gedacht...

1. ...als mir endlich ein Name für das Baby eingefallen ist. Ein wirklich schöner Name. Dein Überraschungsvorschlag – vermutlich „Beck’s“ oder „Joy Division“ – ist hiermit bereits abgelehnt. Einspruch zwecklos.

2. ...als mich vorgestern im Büro eine Kollegin fragte, ob mein „Partner“ ebenfalls deutlich besser verdienen würde als ich. Ich musste erst laut lachen, verteidigte dich dann aber trotzdem: „Er ist zur Zeit mit einem Filmprojekt beschäftigt“. „Ach ja? Wie interessant. Was denn für ein Projekt?“ „Es befindet sich noch im Planungsstadium, ist aber auf jeden Fall sehr, sehr postmodern.“

3. ...als vorhin bei Edeka „My Heart Will Go On“ in einer Fahrstuhlversion lief. Ich habe kurz überlegt, ob Du wirklich an mich gedacht hast bei Deiner Performance – oder an all die kleinen „scharfen“ Jüdinnen im Publikum. Woran Dein Freund bei „Lady in Red“ gedacht hat, will ich gar nicht wissen.

4. ...als mir kürzlich vor dem Fernseher ausgerechnet bei einer Folge von „Flipper“ die Tränen kamen. Erst habe ich geweint, dann darüber gelacht, dass ich weine und dann wieder geweint, und es hörte nicht auf.

5. ...als ich im Wartezimmer beim Gynäkologen im Stern den Test „Sind Sie ein Alkoholiker?“ machte. Natürlich legte ich nicht die aktuelle Bionade-Situation zugrunde, sondern meine normale Existenz. Ergebnis: Ja, ich bin Alkoholikerin. Na gut, dachte ich – aber was zum Teufel ist dann der Vater meiner Tochter?

6. ...als mir ein wildfremder Mann auf der Straße sagte, wie schön ich sei, obwohl ich eindeutig immer mehr einem Nilpferd ähnele.

7. ...als ich beim Aufräumen eine Postkarte entdeckte, die Du mir mal nach Paris geschickt hast. Mit einem selbstverfassten Sonett, das ich bis heute nicht verstehe. Doch damals habe ich mich sehr gefreut.

8. ...als Deine Mutter hier anrief, um zu fragen, ob ich irgendeine Ahnung hätte, wo ihr Sohn sei und ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

9. ...als ich meine italienische Freundin Francesca und deren eineinhalbjährigen Sohn zum Friseur begleitete. Jede Locke, die der kleine Antonio verlor, tat der Mama praktisch körperlich weh. Und mir auch.

10. ...als ich nach Erhalt der „Enjoy the Silence“-Mail sofort Deine Traveling Wilburys-CD gesucht habe. Eine halbe Stunde lang. Und siehe da, sie befand sich in der Tat noch in meinem Besitz, versteckt in einem alten Koffer. Daraufhin klingelte ich bei meinem Nachbarn, Herrn Adler aus dem dritten Stock. Er hilft mir manchmal ein bisschen, wie Du weißt. Ich sagte: „Guten Tag, Herr Adler, könnten Sie mir vielleicht einen Hammer leihen?“ „Was will denn eine schwangere Frau mit einem Hammer?“ fragte Herr Adler freundlich, aber leicht besorgt. „Ich muss nur einen Nagel einschlagen“, sagte ich. „Nichts Besonderes.“ Herr Adler erbot sich natürlich, diese Aufgabe für mich zu übernehmen, doch ich lehnte seine Offerte ab. Ein bisschen Bewegung würde mir sogar gut tun, sagte ich. „Seien Sie bitte vorsichtig“, sagte Herr Adler und gab mir einen schönen, großen Hammer, der wirklich schwer in meinen Händen lag. Ich ging also wieder in meine Wohnung. Dort nahm ich dann die Traveling Wilburys-CD („Volume 1“) und legte sie auf den Balkonboden. Dann holte ich aus, so weit ich konnte. Ich schlug auf die CD ein. Einmal. Dreimal. Achtzehnmal. Immer wieder. Minutenlang. Bis Deine Traveling Wilburys-CD mitsamt dem dazugehörigen Cover in viele, viele kleine Teile zersplittert war. Diese kehrte ich mit dem Handfeger auf und übergab sie dem Müll. Und der Müll wurde am Montag, gegen sieben Uhr in der Frühe, von der Berliner Stadtreinigung abgeholt.

Übrigens: Bionade – und nicht Bier – ist das offizielle Getränk einer besseren Welt (http://www.stille-taten.de/). Grüß mir die „Lady in Red“.

Bisous, Charlotte

P. S.: You only tell me you love me when you’re drunk…

Freitag, 24. August 2007

Jewish Princess II

„Ich kann nicht glauben, dass wir die Jewish Princess gefunden haben! Arthur strahlt. „Du bist die schönste Jewish Princess der Welt!“

Sharon, an die diese Worte gerichtet sind, bedankt sich mit einer kleinen Verbeugung. Arthurs Euphorie ist nicht ganz unberechtigt: Nach achtstündiger Suche haben wir endlich jene Bar gefunden, die allmählich schon zu einer fixen, utopischen Idee in unseren vernebelten Köpfen geworden war: Jewish Princess. Es ist fünf Uhr morgens, wir sitzen am Tresen. Ich habe meinen Freund lange nicht so betrunken erlebt. Er redet fieberhaft auf Sharon ein, die hier Platten auflegt und immer wieder Zärtlichkeiten mit ihrer äthiopischen Freundin austauscht. Sie sei nach Tel Aviv gezogen, sagt sie, weil man hier das beste Kokain im ganzen Nahen Osten bekäme. Vielleicht war es ein Witz, doch ich habe so meine Zweifel.

„Wie lange habt ihr denn nun gesucht?“ fragt die D-Jane.

„Von außen ist die Bar wirklich sehr unscheinbar“, sage ich.

„Nur wenn man blind ist.“

„Wenn wir die Jewish Princess nicht gefunden hätten, hätte ich mich im Morgengrauen erhängt“, bemerkt mein Begleiter.

Sharon – die sich bereits mehrfach in aller Deutlichkeit vom komatösen Ex-Premier distanziert hat – setzt ihre Kopfhörer auf.

And we're changing our ways, taking different roads.

„Ich bleibe in Tel Aviv“, murmelt Arthur. „Es geht nicht anders.“

„Findest du nicht, dass es langsam reicht? Fällt dir auf, dass wir beide niemals arbeiten?“

„Wir arbeiten sehr wohl: Wir denken nach. Wir entwickeln Ideen. Wir trinken. Und wir suchen. Und wenn’s nur die Jewish Princess ist, die wir suchen.“

„Und trotzdem werden wir nächste Woche zurück nach Berlin fliegen. Da können wir dann weitersuchen. Ich will nach Hause.“

„Ich kann nicht“, sagt mein Freund. „Der point of no return ist überschritten. Charlotte wird mich massakrieren.“

Da musst du wohl durch, denke ich. Es ist wirklich eine aparte Bar, welche durchaus die Achtstundensuche rechtfertigt. Selbst auf den Toiletten wird sehr viel gelacht. Als ich vom Klo wiederkomme, flüstert Arthur gerade Sharon etwas ins Ohr. Die D-Jane nickt daraufhin.

„Was hast du sie gefragt?“ will ich wissen.

„Ich habe ihr einen Vorschlag gemacht: Let’s get lost! Wanna be my Jewish Kate Moss?“

Ich würde es ihm zutrauen, doch mein Freund steht, soviel ist klar, kurz vor dem Kollaps. Er denkt auch gar nicht mehr an seinen Schuhkarton. Seitdem uns der lachende Zwerg in der Lilienblum Street seine ganz spezielle Theorie zur postmodernen Frau an sich erläutert hat, müssen wir in mehr als zehn verschiedenen Trinklokalen gewesen sein. Und in jedem einzelnen haben wir – auf der Suche nach der verlorenen Jewish Princess – mindestens einen Tequila konsumiert. Zwar kann ich selber kaum noch auf meinem Hocker sitzen, doch verglichen mit Arthur bin ich nüchtern wie ein Mormone.

„Was meinst du, wie ging der Film weiter?“ fragt er jetzt. „Was hat die blaue Blume noch so alles angestellt?“

„Das will ich gar nicht wissen“, sage ich. „Niemals will ich wissen, auf was für Ideen diese durch und durch widerliche Blume noch gekommen ist.“

Am Anfang unserer Suche, in einer Allenby Street-Bar mit 80er-Dekor, wurde ein Film an die Wand projiziert. Titel: The Princess Has Come Of Age. Ein pornographischer Animationsfilm, dessen erste Viertelstunde folgendes erzählt: Eine Prinzessin in irgendeiner fernen Galaxie hat das heiratsfähige Alter erreicht. An Kandidaten mangelt es nicht. Doch einzig der Mann, der all ihre sexuellen Phantasien vollauf befriedigen kann, wird den Zuschlag erhalten. Und der erste Bewerber ist eben diese hundsgemeine Blume, die sich nicht lange bitten lässt und ohne zu Zögern zur Penetration schreitet. Der Prinzessin – so schien es zumindest – gefällt’s. In der Jewish Princess läuft übrigens gerade ein Werner Herzog-Film: Stroyzek, glaube ich.

„Es war keine blaue Blume, sondern eine rote“, merke ich an.

„Sie war blau.“

„Du bist blau. Ich streue eine Prise Salz auf meinen Handrücken. The Jewish Princess has come of age.”

Sprichst du von Delphine Nussbaum?” Arthur lallt, wie ich es gar nicht von ihm kenne.

„Erinnerst du dich?“ Ich klopfe ihm auf die Schulter. „Wir werden nie wieder so unschuldig wie Delphine durchs Leben schwimmen können.“

„Klara“, sagt Arthur.

„Was?“

„Die Clara Bar. Dort hat die kleine Rachel diesen großen Satz gesagt.”

„Ach so. Die Clara Bar. Die kleine Rachel hätte mir übrigens nicht erst im Breakfast Club den ziemlich großen Satz sagen müssen, dass sie mit einem zehn Jahre älteren Investmentbanker verlobt ist.“

Get a taste in my mouth, as desperation takes hold.

Während ich noch an die Frau mit den schwarzen Augen denke, die über Bowie reden konnte wie keine andere, springt Arthur plötzlich auf. Ich begreife erst, was vor sich geht, als ich ihn tanzen sehe. Es gibt hier ja gar keine Tanzfläche, doch er tanzt einsam und wie von Sinnen. Vielleicht ist es auch bloß ein epileptischer Anfall.

When routine bites hard and ambitions are low.

„Hast du dir das gewünscht?“ frage ich.

Sharon grinst: „Endlich tanzt hier mal jemand.“

Ich weiß: „Love Will Tear Us Apart“ ist Arthurs Lieblingslied. Schon immer. Keine allzu originelle Wahl, aber das ist Beethoven auch nicht – und der besitzt als Komponist ja trotzdem seine Qualitäten. Erst vorhin hat mir mein Freund erneut erzählt, wie Ian Curtis in der Nacht vor den Aufnahme-Sessions Frank Sinatra hörte. Forty Greatest Songs. Wieder und wieder. Natürlich wusste ich das längst – man muss nur genau hinhören: Why is the bedroom so cold, turned away on your side? Ein Post-Punk singt hier ganz im Stile eines Crooners, melodramatisch, aber wahr, egal, was er sonst so verbrochen hat.

„Joy Division sind die romantischste Band aller Zeiten“, sage ich, doch niemand hört mir zu.

Als der Song endet, auf diesem furiosen Schlussakkord, mit dem die Musikgeschichte eigentlich für immer vorbei sein müsste, ist Arthur schweißgebadet. Er stützt sich an der Theke ab, greift nach seinem Bier.

Sharons schöne Freundin gibt uns Tequila aus: „Fürs Tanzen.“

„Auf Tony Wilson“, sagt mein Freund. Er verschüttet die Hälfte seines Shots.

„Auf Tony Wilson“, sage ich ernst.

Da wir hier völlig aus der Zeit gefallen sind, haben Arthur und ich erst heute, durch puren Zufall, von Tonys Tod erfahren. Der Gründer des Factory-Labels, auf dem auch „Love Will Tear Us Apart“ – im selben Jahr wie Zappas „Jewish Princess“ übrigens – erschien, ist letzte Woche abgetreten. Ohne Zugabe. Am Rathaus von Manchester wehten die Flaggen auf Halbmast.

Love Will Tear Us Apart ist nicht nur der beste Popsong überhaupt. Arthurs Stimme zittert, doch er spricht jetzt erstaunlich klar: „Es ist mehr als das. Es ist die Essenz von Manchester. Das hat Peter Saville gesagt, in der F. A. Z., ausgerechnet. Und er hat verdammt recht.“

Peter Saville: Grafikdesigner, Genie, Mitbegründer von Factory Records.

Die Essenz von Manchester, hat er gesagt. Eigentlich die Essenz von Pop. Factory, Joy Division, New Order, die Haçienda, Rave. Das ganze große Gesamtkunstwerk. Und all das wurde nur möglich dank dieses einen ungeheuerlichen Opfers: Ian Curtis’ Tod. Sein Selbstmord. Verstehst du?“

Ich reiche ihm eine Serviette, denn Arthur schwitzt wirklich aus allen Poren.

„Gleich zu Beginn, bevor es überhaupt erst losgeht mit Factory und allem, steht da diese eine, gewaltige und vor allem auch gewalttätige Investition. Dank dieser Investition schafft es das Label, ein ganzes Jahrzehnt lang zu überleben, ohne je an Profit zu denken. Ians Opfer hat die Leute zusammengeschweißt und nichts Geringeres als ein modernes Wunder bewirkt.“

„Ein postmodernes Wunder.“

„Da waren keine Drogen im Spiel“, fährt mein Freund leicht manisch fort fast, als stünde er selbst unter Drogen: „Es war keine Krankheit, kein Wahnsinn und auch kein Unfall. Ian setzt sich hin. Er schreibt ‚Love Will Tear Us Apart’ und meint es genau so. Es ist die Wahrheit. Das wäre heute gar nicht mehr möglich.“

„Hat Peter Saville das alles gesagt?“ frage ich.

„Nordengland.“ Er keucht. „Die industrielle Revolution. Kapitalismus. Die jungen Romantiker überall. Das hängt alles eng zusammen. In Manchester träumten die jungen Romantiker damals noch von einem anderen Ort. Einem Ort, an den sie fliehen konnten. Wegen Ian Curtis und Tony Wilson, der sein Label ausgerechnet Factory nannte, also die ganze Industriescheiße in etwas Positives umdeutete, sind die gleichen jungen Leute in Manchester geblieben. Um den Ort zu verändern, an dem sie lebten. Nicht Duran Duran, diese Wichser, sondern die Factory-Leute sind die wahren New Romantics.“

„Was ist denn heute mit dir los? Wieso auf einmal dieses Pathos?“

„Love Will Tear Us Apart – again”, sagt Arthur Müller und stößt mal wieder mit mir an.

Jetzt bin ich ebenfalls blau wie die Nacht.

„Kann es sein, dass du – dass du eigentlich von Klara redest?“ frage ich.

Arthur schaut glasigen Blickes an mir vorbei.

Ich habe letzte Nacht dreimal von ihr geträumt, sagt er und sein Kopf schlägt mit voller Wucht gegen den Stahltresen.


Peter Saville's Alphabet of Colours

Mittwoch, 22. August 2007

Jewish Princess I

„Pappelallee“, sagt Arthur und nickt. „Vielleicht Pappelallee. Oder: Hindenburgdamm.“

Ich habe ihn gerade gefragt, welcher Berliner Straßenname auch nur annähernd so poetisch, so frei und verführerisch klänge wie ‚Lilienblum Street’, eines von mehreren Epizentren des Tel Aviver Nachtlebens.

„Aber am Hindenburgdamm gibt es keine Jewish Princess“, fügt mein Freund noch hinzu.

Wie wahr, doch selbst in Tel Aviv ist diese Bar mit größtem Potential, die uns von vielerlei Seiten empfohlen wurde, nicht leicht zu finden. Arthur und ich suchen seit Stunden. Wir haben etwa ein Dutzend Personen, Frauen zumeist, nach dem Weg gefragt, und alle haben gelacht oder die Frage entweder als raffinierte oder fadenscheinige Anmache interpretiert. Einige haben uns in die Irre geschickt.

„Wir werden die Jewish Princess niemals finden“, sage ich.

Und so sitzen wir erneut in der Lilienblum Street, Straße des ewigen Sommers, mit einigen Personen, die immer hier sitzen und, wenn es die Stimmung erlaubt, mit uns reden und trinken. Die Nacht ist noch jung. Eigentlich sollte ich Sarah treffen, doch die besucht momentan ihre Familie in Haifa, wie sie mich per Email wissen ließ. Dann eben nächste Woche, haben wir gesagt, und ich hoffe, es klappt endlich mal. Gleich neben uns trinkt der einzige Anzugträger der Stadt, ein älterer Franzose von zwergenhafter Gestalt.

Hast Du nicht langsam das Gefühl, diese Sarah könnte dich irgendwie meiden wollen? fragt Arthur.

„Was hast Du Charlotte eigentlich geschrieben?“

„Nichts Besonderes“, sagt mein Freund. „Einige angemessene Worte. Ich finde es ja in Ordnung, dass sie der Kleinen Gainsbourg vorspielt. Keine schlechte Wahl. Aber es kann nicht sein, dass meine Freundin erst meine Liebesbriefsammlung – wohlgemerkt aus den Jahren vor der Charlotte-Ära – durchstöbert und mir dann auch noch Vorwürfe macht. Daraus spricht ein gewaltiger Mangel an Postmodernität.“

An dieser Stelle mischt sich plötzlich der Franzose ein:

„Das Wesen der Frauen entspricht doch aber ganz und gar der Postmoderne“, sagt er und massiert seinen Dreitagebart.

Ich glaube, er heißt Jean.

„Wie darf ich das verstehen?“ fragt Arthur skeptisch.

„Nun ja“, erläutert unser Tischnachbar, „da die Frau ja bloß Erscheinendes ist, korreliert ihre Oberflächlichkeit und Bedeutungslosigkeit in anmutiger Weise mit der Tiefenlosigkeit und dem Bedeutungsverlust der Postmoderne.“

„So ein Quatsch“, sagt mein Freund. „Das Gegenteil ist richtig. Die meisten Frauen sind ja eben viel zu tief. Ich fordere mehr Oberfläche.“

„Ihr seid noch jung. Ihr werdet es schon irgendwann begreifen“, entgegnet der seltsame Franzose in seinem viel zu großen Anzug.

„Falls Deine Tochter wirklich ein Gainsbourg Girl wird“, versichere ich Arthur, „dann besteht an ihrem außergewöhnlich postmodernen Status eigentlich kein Zweifel. Ein Gainsbourg Girl weiß Oberfläche und Tiefe zu verbinden, wenn auch vielleicht noch nicht als Kleinkind.“

„Auch Zwerge haben mal klein angefangen“, sagt der angehende Vater.

„Serge Gainsbourg?“ Jean horcht auf.

„Kennst Du eine Bar namens Jewish Princess?“ fragt Arthur.

„Ich kenne nur den Zappa-Song.“

Wir schauen uns betreten an. Arthur und ich wussten nichts von diesem Song. Doch „Jewish Princess“, so der Franzose, sei auf dem 1979er Album Sheik Yerbouti (sprich: „Shake your Booty“) enthalten und hätte damals eine erfolglose Klage der Anti-Defamation League nach sich gezogen. Unsere mehrfach vergeblich gestellte Frage nach jener Bar erschiene bereits bei bloßer Kenntnis der ersten Zeile – „I want a nasty little Jewish Princess“ – in einem nicht völlig unproblematischen Licht. Allerdings bezweifle er, Jean, dass irgend jemand außer ihm selbst sich noch an dieses – gleichwohl vortreffliche und zweifelsohne ein Maximum an Postmodernität erreichende – Album, auf dessen Cover Zappa als Scheich posiere, erinnere. Wir sollten uns also keine Sorgen machen.

„Wir müssen diese Bar unbedingt finden“, sagt Arthur

Er winkt nach der Kellnerin.

Ich stimme ihm zu: „Du hast Recht. Die Suche muss weitergehen.“

„Immer der Nase nach, sagt der kleine Franzose und lacht.

Donnerstag, 16. August 2007

Enjoy the Silence

from: arthurrimbaud3@gmx.li

to: charlotte.sevigny@abc-consulting.de

date: 08. 16. 07 / 01: 36 a. m.

subject: ENJOY THE SILENCE!!!!!

Charlotte, Charlotte, Charlotte!

Kann ich da in Deiner letzten Mail eine gewisse gefährliche Verstimmung detektieren? Vielleicht tröstet es Dich: Auch wir werden hier Tag für Tag fetter. Mein „Freund“, dessen Namen Du offenbar nicht ausschreiben willst, so wie die Ultraorthodoxen den Namen Gottes niemals ausschreiben, und selbst ich, Dein (fremder) „Freund“ (wie in: „Paar“). Uns wachsen sogar Brüste. Humus, Humus, Humus und sehr viel dunkles Bier können schon deshalb nicht ganz koscher sein, weil diese spezielle Israel-Diät langsam, aber mit tausendprozentiger Garantie, auch einen einstmals gertenschlanken Knaben wie mich in ein dickes, fettes Speckschwein verwandelt. Ich fürchte mich schon vor den Schwangerschaftsstreifen, welche sich fraglos in einigen Monaten zeigen werden. Abgesehen von dieser frappierenden Parallelentwicklung darf ich Dich daran erinnern, dass Du bei meiner Abreise den Wunsch geäußert hattest, erst einmal nichts mehr von mir zu hören? Weil ich angeblich immer nur Dinge sage, die Du prinzipiell nicht hören willst oder schon tausendmal gehört hast und deshalb nicht mehr hören willst? Und dass ich ankündigte, meine Emails nicht regelmäßig zu lesen? Dann könnte ich ja gleich zuhause bleiben. Außerdem hasse ich, wie Du, meine Schöne, vielleicht weißt, nichts mehr als Internetcafés. Internetcafés sind für Verlierer. Zumal es ja gar keine Cafés sind, sondern großraumbüroartige Sozialstationen, in denen ungewaschene Backpacker und potentielle Egoshooter-Amokläufer wie ein Haufen Indios campieren. 24-7. Wie soll man da schreiben? Wie soll man denn da, bitte, schreiben?!? Ich kann es jedenfalls nicht. Immerhin schreibt Dir ja Konrad alias Regina Regenbogen. Glaube ihm kein Wort, er ist ein noch größerer Lügner als ich, ich schwöre es, er läuft seit Wochen vor uns davon. Die Tatsache, dass Konrad in diesem Land wohnt (und dass das Auserwählte Volk DIESEN MANN in SEINEM Land leben lässt), ist – beinahe – der einzige Grund, es auf dem schnellsten Wege zu verlassen. Ansonsten ergeht es uns in der Tat gänzlich anders als Dir auf Deinem Logenplatz in der langweiligsten Straße Berlins: Touristen gibt es hier kaum, keiner traut sich ins Kriegsgebiet, nur eine Handvoll US-Boys und Franzosen. Dafür wimmelt es von Juden. Solchen Typen wie Gainsbourg – natürlich schätze ich Deine Wahl, sie entspricht zweifelsohne meinen postmodernen (und sogar postmodernsten) Ansprüchen. Welches Lied hast Du Deiner Tochter – unserer Tochter – denn vorgespielt? „Lemon Incest“? „Nazi Rock“? Nach allem, was Du so über unsere Beziehung (Beziehung?) sagst, vermute ich eher: „Je t’aime... moi non plus“. Sehr originell. Das muss und wird sich ändern. Aber wenn sie wirklich getanzt hat, spricht das eindeutig für dieses Mädchen. Sleazy Kid. Und wenn Du fragst, was für ein Vater ich sein möchte, kann ich nur antworten: ARTHUR MÜLLER, und Arthur Müller hat sich auch schon einen Namen überlegt für unser kleines Gainsbourg Girl, der Dir bestimmt gefallen wird. Er bleibt jedoch vorerst geheim.

Ich verzichte übrigens dezidiert auf die Frage, was Du eigentlich für eine Mutter sein willst. Abgesehen davon glaube ich nicht, dass es Dir egal ist, wenn ich im Rahmen dieser kleinen Lustreise andere Mütter oder Töchter „flachlege“ (was für ein abstoßender, besagter sublimer Handlung völlig entfremdeter Ausdruck!!!). ____ höchstpersönlich ist mein Zeuge – bisher bin ich unberührt geblieben wie die Virgin fuckin’ Mary, deren „Grab“ wir hier besichtigen durften. Die Mädchen von Zion tragen sowieso alle Waffen, SCHARFE Waffen, da traue ich mich gar nicht ran, und der mich begleitende „Freund“ hat leider alle meine Annäherungsversuche abgelehnt. Vielleicht hätte Konrad ja Interesse. Irgendwie habe ich das Gefühl, Dein zunehmend fatalistisches Misstrauen könnte damit zu tun haben, dass Du meinen Schuhkarton durchwühlt hast, perfiderweise während ich einen keineswegs harmlosen Tequila-Rausch ausschlief. Aber das ist nur so ein Gedanke. Er kam mir bloß in den Sinn, weil ich gerade – genau wie an jenem Abend – ein paar (exakt: 8) dieser Agavenschnäpse getrunken habe. Anders sind Internet-„Cafés“ ja nicht zu ertragen. Und wenn Du „Kind“ gesagt hast, klang das für mich damals schon immer wie „Katze“ oder „Knut“ oder: „Schatz, lass uns doch ein rumänisches Waisenkind adoptieren, bevor es in die Hütchenspielerszene abdriftet!“ Ich sage nicht, dass ich dieses Kind nicht will. Ich stelle nur fest, dass ich auch niemals gesagt habe, dass ich es will. Außerdem erkläre ich offiziell, dass ich zurückkommen werde. Es stimmt ja, wenn ich wieder mal mit beiden Händen in die Welt hineinfahre, Du beschreibst das sehr poetisch, dann TIEF, TIEF, TIEF bis auf den Grund – und mit diesem beschissenen kleinen Judenstaat, welcher in Deinem Kopf offenbar aussieht wie Luxemburg, bin ich eben noch nicht ganz fertig. Die Ölquelle ist sozusagen noch nicht ausgebeutet. Ein, zwei Wochen vielleicht. Dann komme ich zurück. Mit Ultraschallgeschwindigkeit. Bis dahin gebe ich Dir einen Tipp: Enjoy the Silence. Genieße die Zeit ohne mich – sie wird schneller vorbei sein, als Dir lieb ist. Das ist eine Drohung. Und wenn Du denkst, ich denke nicht an Dich, dann denkst Du denkbar falsch. Als Beleg dafür folgen nun zehn ausgewählte Momente/Orte/Personen bzw. Dinge im Heiligen Land, in denen/an denen/in deren Gegenwart ICH AN DICH GEDACHT HABE. Die Reihenfolge spielt keine Rolle.

1. Die vorzügliche, leicht pikante Falafel, die mein „Freund“ und ich am 14. Juli verzehrten, nachdem wir gemeinsam mit unserem favorisierten Falafelfabrikanten Fabrice (Ben Yehuda St.) die Marseillaise angestimmt hatten.

2. Das streitende Hochzeitspaar auf der für Fototermine inflationär beliebten „Wishing Bridge“ bei Tel Aviv.

3. Der Souvenirladen des Air Force-Museums in Be’er Sheva, wo ich zehn Minuten lang mit dem Gedanken spielte, Dir einen Bikini in den (sexy) Farben der Israel Defense Forces zu kaufen und es dann doch nicht tat.

4. Die Hardcore-Christin aus Kentucky in Jerusalem, die mir erklärte, warum Empfängnisverhütung direkt in die Hölle führt.

5. Als ich in Tiberias, am See Genezareth, unter gewaltigem Jubel „My Heart Will Go On“ Karaoke gesungen habe (mein „Freund“ sang übrigens „Lady in Red“).

6. Dreißig Kleinkinder, die in einer Strandbar ein unfassbar unerträgliches Blockflötenkonzert gaben – und dafür von ihren stolzen Eltern gefeiert wurden wie sonst nur der Papst.

7. Die beiden bis zur Unkenntlichkeit zugeschminkten Russinnen, die auf unsere Frage nach einem bestimmten Club antworteten: „Sorry, we’ve got husbands and children.“

8. Der Abend, als wir – für 500 Schekel – in der Bucht von Eilat mit den Delphinen (Delfinen?) um die Wette schwammen.

9. Die Nutte am alten Busbahnhof von Tel Aviv, bei der ich mich gestern erkundigte, ob sie auch VISA akzeptieren würde, und die gar nicht mal unfreundlich antwortete: „Fuck yourself.“

10. Ein elegant verhülltes, ent- und verrücktes, erhabenes, ernstes arabisches Paar, das am Strand von Jaffa im Mondlicht tanzte.

Grüße an Lulu, das alte Luder. Große Grüße an Fräulein Müller. Küsschen von meinem „Freund“. Layla tov.

Bye bye, Bionade-Baby!

Rock’n Roll: A. M.

P. S.: J'ai bu trop de Tequila mais ça ne veut pas dire que je ne t'aime pas...

P. P. S.: Hast Du eigentlich noch meine Traveling Wilburys-CD?

Dienstag, 14. August 2007

Dolphin

U can cut off all my fins but 2 your ways I will not bend.

Das Angenehme an der Club-Szene hierzulande, sagt Arthur mit einem Seufzer der Erleichterung, ist die Tatsache, dass niemand, wirklich niemand, Pali-Tücher trägt.

Ich stimme ihm zu. Der unsägliche Kult um die Kufiya oder wie auch immer dieses Accessoire heißen mag ist ja in letzter Zeit nicht mehr auszuhalten. Ganz abgesehen von allen politischen Fragen haben wir es dabei mit einem ästhetischen Desaster ohnegleichen zu tun, einem modischen Degenerationsprozess auf ganzer Linie.

„Ricky Martin hat sogar mal ein Pali-Tuch mit der Aufschrift ‚Jerusalem is ours’ getragen“, bemerke ich. „Die einzige Entschuldigung dafür ist sein offenkundiger Analphabetismus.“

„Was für ein Idiot.“ Mein Freund ist erregt. „Schwule Latino-Popper, die in guten Teilen der arabischen Welt gesteinigt würden, tragen Pali-Tücher. Pazifisten tragen Pali-Tücher. Neonazis tragen Pali-Tücher. Und jetzt binden sich auch noch sämtliche Fashion Victims der westlichen Welt diese abstoßend hässlichen Pali-Tücher um den Hals.“

“Die Kaschmir-Variante. Für dreihundert Euro.“

„Wo soll das noch hinführen? Ist das jetzt postmodern? Dabei ist so eine Kufiya doch ein durch und durch vormodernes Kleidungsstück. Ich fürchte fast“, sagt Arthur resigniert, „sogar die postmodernste aller Frauen würde möglicherweise eine Kufiya tragen. Möglicherweise, ich bin mir nicht sicher.“

Womit wir mal wieder beim Thema wären. Arthurs Lebensthema. Wir sitzen seit geraumer Zeit in einer geschmacksicher gestalteten Bar am Mittelmeer, blicken direkt auf die schäumende Gischt. Das Publikum ist schick und schön, vielleicht ein wenig zu schick und schön, doch immerhin trägt hier niemand ein Pali-Tuch und die Bedingungen zum Trinken und Philosophieren könnten vortrefflicher kaum sein. Mein Freund Arthur hat soeben einen kurzen Text formuliert, eine Annonce, die er nach unserer Rückkehr in zwei Berliner Stadtmagazinen aufgeben möchte. Am liebsten würde er sie, glaube ich, sofort dort einreichen, um ja keine Sekunde zu verlieren.

I'll die before I let U tell me how 2 swim.

„Soll das eine Kontaktanzeige werden, oder was?“ frage ich ihn.

„Nein, natürlich nicht. Wenn ich schreibe ‚perfekte postmoderne Frau für postmodernes Projekt gesucht – postmoderne Bewerbungen erbeten’ klingt das ja wohl nicht wie eine Kontaktanzeige. Ich bin schon gespannt, wer sich meldet. Vielleicht kennen wir ja eine der Kandidatinnen.“

„Eventuell meldet sich Charlotte.“

„Das wäre doch großartig“, sagt Arthur unbewegt. „Vielleicht schickt sie mir Fotos, auf denen sie nichts als ein Pali-Tuch trägt. Dann wäre ich auf Umwegen doch noch ans Ziel gekommen und hätte die postmoderne Frau eben dort gefunden, wo ich sie am wenigsten vermute.“

„Hast Du eigentlich auf ihre Email geantwortet?“

„Nein. Was soll man darauf schon antworten. Fuck yourself? Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, für immer in Tel Aviv zu bleiben.“

„Du solltest ihr trotzdem ein paar Sätze schreiben“, sage ich.

Ich bezweifle, dass Arthur seiner wutentbrannten Freundin auch nur eine einzige Zeile schreiben wird, aber das muss er schon selbst wissen, ich bin ja schließlich nicht die Stimme der Vernunft und werde ihn keinesfalls dazu drängen, zumal in diesem Moment Debbie und Rachel lachend von der Toilette wiederkehren, ein Tablett mit gelblichen Mixgetränken balancierend. Es wäre denkbar, dass zumindest Debbie spätestens jetzt – nach diesem Toilettenbesuch – unter hoch wirksamen Drogen steht.

„Hello, friends“, ruft sie fröhlich.

Debbie muss Kellnerin sein, israelische Kellnerin – anders ist ihr positiver Zugang zur Welt kaum erklärbar. Sie kommt eigentlich aus Belgien, spricht Flämisch, Französisch, Hebräisch und Jiddisch sowie Englisch mit einem täuschend echten Brooklyn-Akzent. Vor allem spricht sie sehr, sehr viel. Debbie ist die Kronprinzessin dieser Bar, ihr Vater der Besitzer. Wir trinken ununterbrochen auf seine Kosten. Und die Bar, das muss ich noch erwähnen, trägt den Namen Clara Bar. Wenn Arthur dies irgendwie aufgefallen sein sollte – und er muss es bemerkt haben – hat er es sich jedenfalls nicht anmerken lassen. Kein Wimpernzucken. Manchmal erschreckt mich seine Coolness.

„Ich glaube ja“, sage ich noch schnell, bevor Debbie und Rachel sich setzen, „eine wirklich postmoderne Frau würde niemals auf eine Anzeige antworten.“

„Das sehe ich anders. Postmoderne Frauen begreifen das Leben als Spiel. Sie lassen sich beispielsweise von Privatdetektiven beschatten, nur um zu sehen, wie sich das anfühlt. Sie gehen als Mann verkleidet in Stripclubs. Oder strippen selber. Living la vida loca, eben. Und so eine Annonce bietet sicherlich eine Menge Möglichkeiten zum Spielen.“

„Ich finde dein Frauenbild nicht unproblematisch.“

Debbie strahlt: „Wir haben Maracuja-Margerithas mitgebracht.“

Die Bässe schwellen an und Rachel setzt sich neben mich. Sie ist bislang kaum zu Wort gekommen. Ich weiß: Ihre Familie stammt ursprünglich aus dem Irak, sie arbeitet als Musiklehrerin an einer Grundschule. Sehr grazil, tiefschwarze Augen – im großen und ganzen mag ich sie sehr. Während Debbies Wesen, das muss man leider so sagen, binnen Minuten enthüllt ist, steckt Rachel voller Überraschungen. Zumindest hoffe ich das. Mein Freund und ich kennen die beiden seit etwa fünfundvierzig Minuten. Sie wollten Arthurs Hut anprobieren. Und seitdem trinken wir eine Gratis-Maracuja-Margeritha nach der anderen.

„Danke, Debbie“, sagen wir.

„Wir müssen nachher unbedingt zusammen in den Breakfast Club gehen“, sagt sie. „Da führt kein Weg dran vorbei. Alle Wege in Tel Aviv führen schließlich zum Breakfast Club.“

„Wenn das so ist“, erwidert Arthur, „bleibt uns wohl nichts anderes übrig.“

„Diese Bar hier“, sage ich zu Rachel, „wirkt sehr neu.“

„Die Clara Bar ist ziemlich neu, antwortet nicht Rachel, sondern ihre Freundin. Ihr könnt euch ja vorstellen, wieso.“

Wir können uns einiges vorstellen, zumindest behaupten wir das immer, doch Selbstmordattentate auf Nachtclubs gehören, wenn man ehrlich ist, nicht dazu. Wer kann sich schon so etwas vorstellen. Aber dies hier, so Debbie, sei das Dolphinarium und gleich nebenan hätte sich der Dolphin befunden – jene Disco, vor der sich vor sechs Jahren ein junger Mann auf seinem vermeintlichen Weg ins Paradies selbst in die Luft sprengte und den Anteil russischer Teenager an der israelischen Bevölkerung erfolgreich dezimierte. Clubbed to Death. Dass C & A seine eigens kreierte Pali-Tuch-Kollektion wieder vom Markt nahm, kann unter diesen Umständen nicht verwundern.

„Wir feiern trotzdem weiter“, sagt Debbie, und natürlich hat sie völlig recht.

If I came back as a dolphin would U listen 2 me then?
Would U let me be your friend? Would U let me in?

Dolphin. Ausgerechnet“, bemerkt Arthur. „Meintest du nicht, Delphine stünden symbolisch für Unschuld?“

Das stimmt. Vorhin, am Banana Beach, lief noch keine House-Musik. Stattdessen: israelische Chansons, danach – zu unserem maßlosen Entsetzen – Coldplay. Und dann David Bowie. „Heroes“ sogar in der teils deutschsprachigen Version vom Christiane F.-Soundtrack. Eine unwirkliche Erfahrung – der Brite Bowie singt am Strand von Tel Aviv in leicht dadaeskem Deutsch von einem Liebespaar an der Berliner Mauer. Ein postmoderner Traum, würde Arthur wohl sagen. Seitdem haben wir über den Song nachgedacht, diese hinreißende Hymne, die ich immer eher instinktiv als intellektuell verstanden habe und auf deren Zeilen „I wish you could swim like the dolphins“ mein Freund soeben angespielt hat.

„Okay“, sagt Arthur jetzt, „dieses Liebespaar an der Berliner Mauer ist unschuldig. Wie die Delphine. Wie Liebespaare eben so sind. Außer vielleicht Bonnie and Clyde. Oder die Ceauşescus. Aber Elena Ceauşescu war ja bekanntlich auch eine Nymphomanin.

„Doch was, bitte“, frage ich, „bedeutet die deutsche Zeile ‚Und die Scham fiel auf ihre Seite’?“

Debbie kennt das Lied leider nicht. Rachel hingegen verabscheut nicht nur, wie sie vorhin kundtat, jeden einzelnen Coldplay-Song, und zwar ohne Ausnahme, sondern entpuppt sich nun überdies als glühender David Bowie-Fan.

„Es geht tatsächlich um Unschuld“, sagt sie ganz ruhig. „Um Adam und Eva im Paradies.“

„Adam und Eva?“

„Ja, Adam und Eva, König und Königin. Dieses Paar an der Mauer kann für die Dauer dieses einen Kusses einen Zustand der Unschuld und Reinheit erleben, der eigentlich längst verlorengegangen ist. Sie sind völlig schamlos. Im positiven Sinne. Die Scham fällt in diesem Fall auf die andere Seite, symbolisiert durch die Mauer. ‚We could steal time just for one day’, heißt es ja später. Sie blenden die Wirklichkeit einfach aus.”

Rachel scheint „Heroes“ recht gut zu kennen. Auf jeden Fall besser als Arthur und ich, dabei haben wir das Stück früher manchmal ganze Nächte lang gehört.

„Aber ist das nicht viel zu romantisch?“ frage ich. „Bowie singt doch auch: ‘And you, you can be mean. And I, I'll drink all the time. 'Cause we're lovers. And that is a fact.’”

“Yes, we’re lovers. And that is that”, ergänzt Arthur. Offenbar können drei von vier Personen an diesem japanisch inspirierten Tisch den kompletten Songtext auswendig.

„Klar.“ Rachel zündet sich eine Zigarette an. Sie wird jetzt richtig leidenschaftlich: „Diese beiden Liebenden sind sich der Vergeblichkeit ihres Unterfangens durchaus bewusst. Sie wissen, dass der Sündenfall bevorsteht und dass sie nie wieder so unschuldig wie Delphine durchs Leben schwimmen können. Also leugnen die beiden die Realität – was bleibt ihnen auch anderes übrig. ‚And we kissed as though nothing could fall’. Sie zelebrieren den Augenblick und werden damit zu Helden. Jedenfalls für einen Tag.“

„Dieser Ansatz beschreibt auch das Grundprinzip des israelischen Nachtlebens sehr treffend“, sage ich, noch beeindruckt von ihrer Analyse. „Jede Party kann die letzte sein. Wie damals in der so genannten Frontstadt Berlin.“

„Leider ist der Zugang zur Klagemauer ja nach Geschlechtern getrennt“, bemerkt Arthur. „Sonst könnte man sich da auch mal küssen, anstatt immer nur zu klagen. Ganz schamlos.“

Debbie trommelt auf der Tischplatte: „Hey, Freunde, gehen wir jetzt in den Breakfast Club?“

„The Breakfast Club is ours“, sage ich.

Arthur zeigt plötzlich auf einen unsichtbaren Punkt mitten im wogenden Nachtmeer, weit weg von der Clara Bar.

„Ich glaube, ich habe gerade einen Delphin gesehen“, sagt er.