Freitag, 27. Juli 2007

Irgendwie geht die Welt aus dem Leim.Teil I


Ein Anflug eines Katers bei sehr, sehr großer Hitze ist wirklich eine feine Sache. Man ist dann gewissermaßen bewegungsunfähig, nicht rastlos, wie wir es sonst immer sind, und fühlt sich trotzdem gar nicht mal so schlecht. Ein fast perfekter Zustand, finde ich. Erholsam und anregend zugleich, beflügelt er jedes noch so banale Gespräch. Und so sitzen mein Freund Arthur und ich, abgesehen von einer kleinen Anti-Terror-Unterbrechung, seit ein paar Stunden regungslos auf der Terrasse des YMCA. Diese Dependance des sympathischen Christlichen Vereins Junger Männer ist das erhabenste Gebäude Jerusalems – außerhalb der Altstadt jedenfalls. Sein sandfarbener Turm, Mittelstück dreier orientalisch anmutender Bögen und wohl ikonisch zu nennen, ist von überall aus zu sehen. Die Zimmerpreise sind entsprechend unchristlich. Was für eine Enttäuschung – das fröhliche Lied der Village People entpuppt sich als Lügengeschichte:

„Young man, there's a place you can go. Young man, when you're short on your dough.“

Von wegen. Das YMCA Jerusalem ist leider kein schwuler Jugendclub, sondern ein Luxushotel wie jedes andere. Doch hier auf der Terrasse kann man für wenig Geld den ganzen Tag im Schatten sitzen und die heilige Hektik mal hinter sich lassen.

Eine Plakette zitiert aus General Allenbys Eröffnungsrede:

„Here is a place whose atmosphere is peace, where political and religious jealousies can be forgotten and international unity fostered and developed.“

Verblüffend ist, wie recht er hatte, damals in den Dreißigern, bevor das eigentliche Balagan, die uferlose Unordnung, erst so richtig in Gang kam. Nirgendwo in Jerusalem ist es so friedlich wie hier. Bedient werden wir von gelackten, unfassbar servilen Christen arabischer Provenienz, die alle fünf Minuten nach dem Rechten sehen und uns bei jedem Satz mit „Sir“ anreden. Reizende Menschen. Am Trinkgeld werden wir sicher nicht sparen.

Ein perfekter Kater-Tag, wie gesagt, es könnte ewig so weitergehen. Arthur und ich haben uns gegenseitig aus der Jerusalem Post vorgelesen, der deprimierendsten Zeitung dieser Erde.

„Irgendwie geht die Welt aus dem Leim“, hat Arthur Müller dazu bemerkt, und ich glaube, es war irgendein Zitat.

Doch all die ernsten Themen und schlechten Nachrichten haben auch etwas Reinigendes an sich, so dekadent das klingen mag. Von Pete und Paris und Posh ist in dieser Zeitung jedenfalls niemals die Rede, vermutlich sind solche untoten Gestalten der Redaktion gänzlich unbekannt. Themen wie Pendlerpauschale, Leitkultur oder Blutdoping sucht man im Inhaltsverzeichnis ebenfalls vergeblich. Dafür widmet sich selbst die Jerusalem Post dem – so steht zu hoffen – wirklich allerletzten Harry Potter-Band, dessen Erscheinen am Shabbat hierzulande einen Skandal auslöste. Einige Ultraorthodoxe, so erzählte man uns, wollten angesichts dieses Sakrilegs öffentlich das Romanende ausplaudern, was ich naturgemäß nur unterstützen kann und mit allen Mitteln unterstützen werde.

Nach der Presseschau fragte mich Arthur unvermittelt nach den fünf besten Alben der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, und das ist wirklich eine schwere Frage, denn es gibt in der Geschichte der Popmusik keine fürchterlichere, keine lähmendere, kurzum: keine deprimierende Phase, nicht mal in den wahrlich deprimierenden Siebzigern. Wir haben lange überlegt. Als Arthur zu meinem Entsetzen gerade die Traveling Wilburys auf Platz fünf gesetzt hatte, kam zum Glück eine Terrorwarnung dazwischen. Der koptische Kellner bat uns sehr freundlich, sofort die Terrasse zu räumen, es sei ein verdächtiges Fahrzeug entdeckt worden. So etwas lässt uns völlig kalt.

„Wir lassen uns die Popmusik auch von den Taliban nicht verbieten“, bemerkte Arthur energisch.

Mein Freund und ich setzten das Spiel einfach drinnen fort – ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Nun ist die Gefahr endlich gebannt, falscher Alarm, alles friedlich, „All is well!“ – so der Kellner – und wir befinden uns wieder im Freien, umgeben von vermögenden Ralph Lauren-Amerikanern, wie sich das gehört. Arthur hat mir soeben bei einer Flasche San Pellegrino gestanden, dass er in jungen Jahren mal in Anne Frank verliebt war. Und zwar so richtig verliebt.

„Um ehrlich zu sein, auch wenn das geschmacklos ist, ich finde sie immer noch attraktiv“, sagt er jetzt. Ich hoffe, uns hört niemand zu. „Stell dir Anne Frank mal als erwachsene Frau vor. So mit 27 ungefähr.“

„Themawechsel“, sage ich.

Ich frage ihn, was Charlotte, die zukünftige Mutter der kleinen Dimona, ihm geschrieben hätte. Wir haben den Morgen im Internet-Café verbracht. Ich hatte Post aus Tel Aviv, von Sarah, einer hochgradig antisemitischen israelischen Semitin, mit der ich in Berlin mal die Nacht durchmachen durfte. Und auch den Tag danach. Das war im Sommer vor zwei Jahren. Nun will sie mich nächste Woche in ihrer Heimatstadt treffen, ganz zwanglos, und ich kann nicht verhehlen, ich freue mich sehr. Arthur ist, glaube ich, ein bisschen eifersüchtig, doch das geschieht ihm mehr als recht. Seinen Schuhkarton hat er diesmal nicht dabei, er lagert noch im Kofferraum. Einen Ausdruck von Charlottes Email kann er allerdings problemlos präsentieren. Er hat ihre Nachricht – ich schwöre es – extra in diesem Café ausgedruckt, um sie so schnell wie möglich in seine Schuhkartonsammlung eingliedern zu können. Die besten, die klügsten, die schönsten meiner Freunde – alle vom Wahnsinn befallen. Womöglich bald davon zerstört. Ausnahmslos. Und Arthur steht unangefochten auf Platz eins dieser rein privaten Wahnsinns-Hitparade. Er ist geradezu auf diese Chartposition abonniert. Während er jetzt aus der Email vorliest, wird mir einmal mehr bewusst, dass sich daran auch so schnell nichts ändern wird.

„Ich liebe dich nicht, aber ich hasse dich auch nicht“, trägt er gelassen vor. „Damit bringt sie unsere Beziehung wohl ganz gut auf den Punkt. Ich hätte es nicht besser sagen können.“

„Vielleicht ändert sich das ja mit dem Kind“, sage ich.

„Das Kind hat einen Namen“, bemerkt mein Freund beleidigt.

„Verzeihung. Vielleicht ändert sich das ja mit Dimona.“

„Du meinst, dann hassen wir uns nur noch?“

Fuck off“, sage ich, „lass uns lieber wieder von deinem feuchten Traum Anne Frank sprechen.“

„Zusammenfassend muss ich feststellen“, konstatiert Arthur, „dass Charlotte vielleicht nicht gerade die allerpostmodernste, wenngleich beileibe auch keine prämoderne Frau ist. Doch die Beziehung, die wir führen, ist in jedem Fall postmodern. Überdurchschnittlich postmodern, würde ich sagen. Und Dimona wird unsere postmoderne Prinzessin. Hör dir das an, meine Freundin schreibt: ‚Ich habe keine Ahnung, was Du in Israel machst, und ich will es gar nicht wissen – aber Du hast auch keine Ahnung, was ich in Berlin mache, und wahrscheinlich willst Du es auch gar nicht wissen.’ Immer diese Dialektik.“

„Aber stimmt das denn nicht?“ frage ich.

„Es kann sein“, sagt Arthur, „es kann aber auch nicht sein“.

Er will das gerade näher ausführen, als plötzlich – wie aus dem Nichts – eine Dame an unseren Tisch tritt. Sehr schlank, sehr elegant und recht betagt. Es ist etwa drei Uhr am Nachmittag.

„Guten Tag, meine Herren“, sagt sie leise auf Englisch. „Mein Name ist Delphine Nussbaum. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

All was well.

[Wer ist Delphine Nussbaum? Was werden Arthur und ich mit dieser fremden Dame noch alles erleben? Und schaffen es die Traveling Wilburys wirklich unter die Top Five der besten Alben der zweiten Achtzigerjahrehälfte? Antworten auf diese und andere Fragen gibt’s – vielleicht – im nächsten Post.]

Dienstag, 24. Juli 2007

Dead Letter Office

„Ich fürchte, ich bin am Jerusalem-Syndrom erkrankt“, sagt Arthur und fasst sich an den Kopf.

Ich muss ihn enttäuschen: Das ist unmöglich. Nicht nur, weil Arthur bekanntlich ein durch und durch gottloser Mensch ist. Hätte ihn diese seltsame Seuche befallen, erkläre ich ihm, wüsste er ja nichts davon, allein ich, sein objektiver Begleiter, könnte die Krankheit bei ihm diagnostizieren. Er, Arthur, würde sich einfach zum Messias ausrufen. Vielleicht auch zur Jungfrau Maria. Und eifrig die nahende Apokalypse verkünden. Der Reiseführer nennt sogar Zahlen: Zwischen 50 und 200 Touristen werden jährlich vom so genannten Jerusalem-Syndrom befallen. Sie tragen Togen, predigen vor Passanten und halten handbemalte Schilder mit Botschaften in die Höhe, wie man das auch aus New York-Filmen kennt. In sehr ernsten Fällen, die aber leider bereits aufgetreten sind, zünden sie sogar Moscheen an. Üblicherweise dauert dieser Zustand eine Woche an – dann sind die Erkrankten geheilt und schämen sich in Grund und Boden. Mir würde es, denke ich, ähnlich gehen.

"Oh, life is bigger. It's bigger than you and you are not me."

Wir stehen wieder auf dem Dach unseres Hotels, des ältesten Hotels Jerusalems, wo schon Mark Twain und ein großer amerikanischer Romantiker – Herman Melville – residierten. Die Abenddämmerung ist stets die allerfeinste Stunde. Wenn die Muezzin singen und die Kuppel von al-Aqsa in der Sonne glänzt, kann sich sogar mein Freund der Magie des Ortes nicht erwehren. Ansonsten ist er, wie bereits angedeutet, eher kritisch eingestellt. In einer Stadt, die sich in erster Linie dem Glauben verschrieben hat, muss sich ein Ungläubiger wie Arthur einfach fremd fühlen. Mir geht es ja nicht anders. Wir beide gehören nach Tel Aviv. Dort pilgern die Menschen am Shabbat zum Strand, nicht zur Klagemauer. Während ich den verdichteten Schaulauf der Haredim, Bible Belt-Christen und Gotteskrieger jedoch mit heidnisch-staunenden Augen betrachte, scheint Arthur bisweilen ernsthaft darunter zu leiden. Er hat ein paar schlechte Erfahrungen gemacht, muss man wissen. Heute kann man ihn getrost als ultraorthodoxen Atheisten bezeichnen.

Arthurs Haltung zur Religion erinnert mich – wenigstens auf diesem poetisch beseelten Dach – an eine Melville-Erzählung: „Bartleby, the Scrivener“. Jener Bartleby erledigt Schreibarbeiten für einen Wall Street-Notar, weigert sich aber konsequent, irgendwelche andersgearteten Aufträge auszuführen. Und zwar immer mit den Worten: „I prefer not to.“ Sie sind sein sanftmütiges Mantra, das jedoch letztlich keinen Widerspruch duldet. Am Ende verweigert Bartleby sogar die Nahrungsaufnahme, verendet elendig im Knast. Der Schreiber ist die einsamste Figur der Literaturgeschichte. Da bin ich mir absolut sicher. Ein einsamerer Mensch als Melvilles Anwaltsgehilfe ist schlicht nicht vorstellbar.

Wenn mein Freund Arthur nun von Religion spricht – und das tut er in diesen biblischen Gefilden recht häufig – schwingt immer auch Bartlebys ziviler Ungehorsam mit: „I prefer not to.“ Im Unterschied zur passiv-schweigsamen Résistance des Schreibers vertritt mein Freund seine Ansichten überaus eloquent. Vor allem mit Christen treibt er mitunter ein perfides Spiel. Gerade etwa, in diesem Augenblick, spricht Arthur mit einer jungen Frau aus Oklahoma, Lizzy, die schon zum zwölften Mal in Jerusalem und vermutlich zum tausendsten Mal auf diesem Dach ist und uns bei Dänenbier einen historischen Crash-Kurs erteilt. Lizzy weiß alles über diese Stadt.

„Was meinst du“, fragt Arthur sie scheinbar ganz ernsthaft, „wie hat Moses sich gefühlt, als er damals vom Berg Horeb hinabstieg, die Gebotstafel im Arm, und das Volk um dieses goldene Kalb tanzen sah?“

Mir wäre der Name des Bergs wohl nicht bekannt gewesen. Doch Arthur – wie ich hier immer wieder mit Verblüffung feststelle – kennt das Alte Testament genau. Die Episode vom goldenen Kalb gehört erklärtermaßen zu seinen Favoriten, es ist ja auch eine ziemlich gute Story, eine ziemlich witzige noch dazu.

„Meinst du nicht, Moses hat sich ganz schön geärgert?“ will er von Oklahoma-Lizzy wissen.

Und Lizzy schaut ihm tief in die Augen, dann mir, die Pupillen wässrig und entrückt, und klärt uns mit trübseliger Stimme auf: „Ich sage euch: In diesem Moment war sein Herz gebrochen. Moses hat sich davon nie wieder erholt.“

„Dieses Kalb“, sagt Arthur noch, „war ja aus den Ohrringen der Frauen gefertigt worden. Das macht es natürlich noch schlimmer.“

Lizzy nickt bloß gedankenverloren.

„Wieso macht es das noch schlimmer?“ frage ich.

„Scheiße, ich habe wirklich das Jerusalem-Syndrom“, entgegnet Arthur.

Wir müssten sofort – so mein Freund – auf den Ölberg steigen, das wäre in dieser Nacht unsere einzige Rettung, und am besten nähmen wir Bier mit, sehr viel Bier, ansonsten sähe er schwarz, und ich sage:

„Wenn wir auf den Ölberg steigen, dann ohne Bier, damit Du mal merkst, wie sich das anfühlt, unbetäubt und nackt“, und Arthur stimmt mir schweren Herzens zu.


"Every whisper of every waking hour I'm choosing my confessions."

Acht Stunden später, an der Klagemauer, sind wir naturgemäß trotzdem betrunken. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Vielleicht sollte man diese hochheilige Stätte des Judentums nicht in einem derart derangierten Zustand aufsuchen, blau wie Sinatra und seine Spießgesellen. Doch wir wissen uns immerhin zu benehmen. Zudem fällt auf: Alle wirken irgendwie betrunken – die ultraorthodoxen Haredim in ihrer religiösen Ekstase erwecken sogar noch einen wesentlich trunkeneren Eindruck als Arthur und ich. In weite Tücher gehüllt, betend und monoton singend, tanzen sie sich hier in einen Rausch. Keiner nimmt von uns Notiz. Fraglos ist das alles eher ungewohnt, doch ich muss sagen: Ich schätze diesen Ort – jedenfalls zu so später Stunde. Heute morgen war es viel zu grell, zu voll, zu laut. Die IKEA-Plastikstühle vor der Mauer erschienen uns wie der grässlichste aller Stilbrüche. Doch um drei Uhr nachts sitze ich gerne hier. Selbst Arthur geht es, glaube ich, nicht anders. Ansonsten hätte mich mein ewig rastloser Freund schon längst zum Gehen aufgefordert. „Nenne drei Künstler, die einen Song mit dem Titel ‚Wailing Wall’ aufgenommen haben“, sagt er jetzt. „David Bowie. The Cure“, antworte ich rasch. Ein drittes Beispiel fällt mir nicht ein, Arthur aber auch nicht, obwohl er zaghaft Pink Floyd ins Spiel bringt. Doch nicht alle Mauern sind gleich Klagemauern. Vom Ölberg aus konnten wir kurz zuvor einen Blick auf die andere Mauer erhaschen. Weiß und rostbraun windet sich der neue Hochsicherheitszaun entlang der Grenze zum Westjordanland. Man sieht ihn immer nur aus der Ferne, wirklich nahe sind wir dieser Mauer bislang nicht gekommen.

Aber Arthur und ich müssen jetzt zunächst noch etwas nachholen, was uns heute morgen nicht gelingen wollte. Ich bekenne: Uns ist nichts eingefallen. Was schreibt man Gott, wenn man mal die Gelegenheit dazu hat? Wir haben minutenlang nachgedacht, bei unserem ersten Besuch an der Klagemauer, überlegt, was wir auf unsere kleinen Klagemauer-Zettel schreiben, die man dann irgendwo in die Klagemauer steckt – Gebete und Wünsche und wohl auch Klagen –, doch uns fiel einfach nichts ein. Das ist nun anders. Befeuert vom Bier bringen wir beide etwas zu Papier. Arthur will mir nicht sagen, was er soeben notiert hat, ich halte mich ebenfalls sehr bedeckt. Selbst hier wird nichts verraten. Bei meinem Freund kann ich nur spekulieren. Es ist gewiss nicht unwahrscheinlich, dass er sich erneut die allergröbste Blasphemie zuschulden kommen lässt und die – zum Glück hypothetische – Veröffentlichung seiner Nachricht eine Art jüdische Fatwa, einen Flächenbrand ungekannten Ausmaßes zur Folge hätte. Vielleicht steht auf seinem Zettel: „Wer das liest, ist doof“. Oder: „God is a DJ“. Oder ähnlich Unsagbares. Vielleicht aber auch nicht. Selbst wenn es so abgeschmackt und so brechreizerregend wie ein Chris de Burgh-Song klingen mag: In solchen Momenten sind wir immer ganz allein. Ganz gleich, ob man an Gott glaubt, ob der Ort einem heilig ist oder nicht, man ist allein mit diesem weißen Zettel. Ein Augenblick so schwer wie tausend Jahre Einsamkeit – wie Bartlebys Einsamkeit, die mir jetzt plötzlich wieder im Kopf herumspukt. Melvilles Geschichte erzählt ja ebenfalls von Mauern. Sozialen und realen Mauern. Sie spielt an der Wall Street, in einem von Wolkenkratzern umstellten, lichtlosen Büro. Die ganze Welt scheint nur aus Mauern zu bestehen. Zum Schluss verendet Bartleby in vollkommener Isolation hinter Gefängniswänden, die nicht zufällig „The Tombs“ – die Gräber – genannt werden.

Fast unaussprechlich traurig auch der mögliche Ursprung von Bartlebys Einsamkeit, deren Leitmelodie „I prefer not to“ ist: Glaubt man den Gerüchten, hat sich der Schreiber geradezu mit diesem Virus infiziert. An seinem früheren Arbeitsplatz, der einen unübersetzbaren Namen trägt. Ich spreche vom Dead Letter Office. Einer Art Fegefeuer für falsch oder unzureichend adressierte Briefe. Die Angestellten dieser Einrichtung sind einzig damit beschäftigt, jene irrlichternde Post nach Wertgegenständen zu untersuchen. Dann werden sie den Flammen übergeben – natürlich ohne jemals ihr Ziel zu erreichen. 57 Millionen Mal im Jahr, laut Statistik. Melville schreibt: „On errands of life, these letters speed to death.“ Wer im Büro der toten Briefe arbeitet, wie Bartleby, dem wird die Hoffnung ausgetrieben. Bei der Klagemauer, auf die wir nun zusteuern, ist das anders. Es kommt nur darauf an, ob du glaubst, dass dein Brief den Empfänger erreicht. Oder eben nicht. Keine Ahnung, was mit all diesen Zetteln, den zahllosen Briefchen an Gott in den Mauerritzen, eigentlich geschieht. Man müsste mal bei der Touristeninformation nachfragen. Möglicherweise werden sie schon aus Platzgründen regelmäßig abgeerntet und verbrannt. Für Arthur und mich, soviel steht fest, ist die Klagemauer ein Dead Letter Office.

Dead Letter Office?“ sagt Arthur. „Das ist eine Platte von R. E. M. – nur mit Outtakes.“

Er summt jetzt „Losing my Religion“ vor sich hin. Ich schaue ihn an. Irgend etwas stimmt nicht. Ich kann mir nicht helfen, aber hier ist mein Verdacht: Vielleicht hat mein heillos besoffener Freund heute nacht gar nicht Gott beleidigt, obwohl er ganz sicher noch immer nicht an ihn glaubt. Vielleicht hat er nur einen einzigen Namen – Klara, natürlich – auf seinem Zettel notiert. Vielleicht verspricht er sich etwas davon, vielleicht weiß er es selbst nicht, vielleicht ist er verrückt geworden und tatsächlich am Jerusalem-Syndrom erkrankt, während er nun auf die Mauer zuwankt und in seinem Taumel irgendwie komisch wirkt – komisch und fremd und verzweifelt zugleich.

"I thought that I heard you laughing. I thought that I heard you sing.
I think I thought I saw you try."

Freitag, 20. Juli 2007

Jesus Christus' Konzept der Liebe

„Bei dieser Hitze! Das ist doch menschenverachtend!“

Arthur kann es noch immer nicht fassen. Aber die Wahrheit ist: Wir wurden angehalten, kurz hinter Eilat. An einer Art Mini-Checkpoint. Von einem Herrn mit Maschinenpistole. Sehr freundlich bat dieser Gentleman meinen barbrüstigen Freund, der gerade den Fahrtwind so genossen hatte, doch bitte auf der Stelle sein Hemd wieder anzuziehen. Nacktfahren verstoße gegen das Gesetz, selbst bei 42 Grad im Schatten, da man ohne Oberbekleidung nicht angemessen gegen plötzliche, mitunter wie aus dem Nichts auftretende Insektenstiche gefeit sei. Ich hingegen, der Beifahrer, dürfe gerne mein T-Shirt ausziehen, das sei schließlich völlig ungefährlich, ich würde ja ohnehin nur aus dem Fenster und bisweilen auf die Straßenkarte schauen. Seitdem ist Arthur irgendwie wütend auf mich, glaube ich, er schimpft auch auf den Staate Israel an sich, der ihn zunehmend an Deutschland erinnere, wie er nun ständig betont.

Ich bin ebenfalls verärgert, allerdings nicht wegen Arthur. Das Problem ist sein Cousin. Er heißt Konrad und war schon immer ein Idiot. Wir sollten ihn besuchen, in seinem Wüstenkibbuz, wo es natürlich nie regnet und das Wasser deshalb aus 400 Metern Tiefe ans Tageslicht gepumpt werden muss. Ein nicht unerheblicher Aufwand, wie man sich vorstellen kann. Konrad baut dort Oliven an, zumindest behauptet er das, ich persönlich kann mir diesen Nichtsnutz kaum bei einer derart sinnvollen Tätigkeit vorstellen. Der Mann ist doch meschugge. Unser Plan war gleichwohl, ein paar Tage bei ihm zu wohnen und in entspannter Manier Früchte zu pflücken. Pfirsiche und Aprikosen. Doch als Arthur und ich den trostlosen Kibbuz endlich gefunden hatten, war Konrad gar nicht da. Er sei nach Jerusalem gefahren, zur Gay Pride Parade, erklärte uns eine fabelhaft schöne alte Dame mit Pionierglanz in den Augen. Leider käme er keinesfalls vor dem nächsten Shabbat zurück – frühestens in einer Woche.

Während Arthur also vor Wut kocht, da er ein Hemd tragen muss und ich nicht, bin ich erbost, weil wir nun erneut in Be’er Sheva übernachten müssen – einer der hässlichsten Städte der Welt, wie gesagt, vielleicht sogar die hässlichste überhaupt. Selbst die Studenten, die hier so massenhaft studieren, meiden das Zentrum und feiern ihre Studentenpartys lieber außerhalb, in unmittelbarer Umgebung ihrer Studentenwohnheime, nach Beendigung ihrer täglichen Studien, versteht sich. Zu weit für uns.

„Ich kann nicht glauben, dass wir schon wieder in dieser Stadt sind“, sage ich. „Ich will zurück nach Tel Aviv.“

Arthur zitiert recht zusammenhanglos Ben Gurion, der erklärt haben soll, Israel müsse die Wüste erobern, sie besiedeln und urbar machen, andernfalls würde sich die gefräßige Wüste eben Israel einverleiben. Entweder – oder. Das gleiche gelte, so Arthur, für uns beide und Be’er Sheva.

„Klar“, entgegne ich, „dann verbringen wir eben einen weiteren vergnügten Abend in der Altstadt.“

Die Straßen der düsteren Negev-Metropole wirken heute noch verlassener. In Eilat wie in Tel Aviv ist immer Tag. In Be’er Sheva regiert die Nacht. Wie im nordschwedischen Januar, wenngleich bei deutlich höherer Außentemperatur. Als Arthur gerade das Auto abschließt, entdeckt er plötzlich einen gefalteten Zettel unter dem Scheibenwischer. Beim Lesen hellt sich seine Miene auf.

„Es ist ein Liebesbrief“, sagt er bewegt.

„Von wem?“

„Hör erst mal zu“, erwidert mein Freund: „Dear stranger“, trägt er mit mangelhafter Aussprache vor, „how are you? I just had to send you a note to tell you how much I love you and care about you. I saw you yesterday as you were talking with your friends. I waited all day, hoping you would want to talk with me also. You never came. Oh, yes, it hurts me—but I still love you very much.”

Wie nett. So einen Brief bekommt man nicht alle Tage.

Arthur grinst anzüglich und fährt fort:

„I saw you fall asleep last night and longed to touch your brow, so I spilled moonlight upon your pillow and face. You awakened late and rushed off to work. My tears were in the rain.”

„Das reicht”, sage ich.

Kamele – und Kamele gibt es hier in der Wüste zuhauf, so zahlreich wie Hunde in unserer Heimatstadt – können bis zu vierzehn Tage ohne einen einzigen Drink überleben. Ich nicht. Und Arthur im Normalfall auch nicht. Wir wollten gerade eine Bar suchen, meinetwegen sogar eine Carlsberg-Bar. Doch mein Freund wird jetzt pathetisch:

„My love for you is deeper than the ocean and bigger than the biggest want or need in your head. I want you to meet my Father.”

„Das ist krank”, sage ich. „Beim ersten Date?”

„I want you to meet my Father. He wants to help you, too. My Father is that way, you know. And I will always love you.” „Wie Whitney Houston”, ergänzt er noch.

„Dolly Parton”, verbessere ich ihn. „Der Song ist eigentlich von Dolly Parton.“

„Rate mal, wer der Absender ist”, sagt Arthur.

Ich kann es mir denken. Wir reisen ja nicht umsonst durchs so genannte Heilige Land. Diesen Zettel, welcher mit großer Wahrscheinlichkeit im Mittleren Westen Amerikas millionenfach gedruckt wurde und nun hinter jüdischen Scheibenwischern klemmt, müssen wir seit Jerusalem herumkutschiert haben. Arthur öffnet noch mal den Kofferraum und holt seinen Schuhkarton hervor.

„Ein Liebesbrief ist ein Liebesbrief“, sagt er. „Egal, von wem er verfasst worden ist.“

Zugegeben, der Stil sei wenig postmodern, ein prämodernerer Ansatz praktisch gar nicht vorstellbar, gleichwohl beanspruche auch dieser Brief einen würdigen Platz im großen, puzzleartigen Gesamtpanorama der Liebe und gehöre daher in den Schuhkarton und nicht in den Papierkorb.

„Von mir aus kannst Du den Brief auch beantworten“, sage ich.

Arthur denkt kurz darüber nach. In seiner Absolutheit und Unbedingtheit ist dieser himmlische Liebesbrief ja tatsächlich nicht ganz unromantisch, obgleich das angesichts des Absenders pervers klingen mag. Romantischer als „Lady in Red“ ist das Pamphlet allemal. Und passionierter, es hat zweifellos mehr Sexappeal.

Aber heute abend bin ich genervt. Erbarmen. Mein Freund erzählt einfach zu viele Liebesgeschichten, selbst wenn sie blasphemisch sind und vom Erlöser handeln – nur, um nicht seine eigene erzählen zu müssen. Ich kann ihn verstehen. Das ist der Blues, und der Blues hört niemals auf, wenn man ihn einmal hat. Damals muss Arthur irgendwie falsch abgebogen sein. Doch vielleicht sollten wir dann und wann auch über andere Dinge reden. Zum Beispiel über den Nahostkonflikt. Der stellt ebenfalls ein nicht zu unterschätzendes Problem dar, ein unausmeßbares Balagan, jenseits von blöden blauen Blumen und postmodernsten Frauen. Das ständige Nachdenken, Faseln und Philosophieren über ein Thema, das man eigentlich aus seinem Hirn verbannen sollte, macht doch alles nur noch schlimmer. Shut the fuck up and dance. Such dir ein Supermodel auf Speed. Ruf deine schwangere Freundin an. Derlei Gedanken gehen mir durch den Kopf, während Arthur und ich durch die finsteren, fußgängerfeindlichen Straßen streifen und einmal mehr über die Liebe streiten, ab und zu rauscht ein Auto vorbei, ansonsten ist Be'er Sheva tot.

Mittwoch, 18. Juli 2007

Arthur Müllers Konzept der Liebe

"Wir werden alt, mein Bester", sagt Arthur, "dreckige, fette, gewissenlose, alte Männer."

Ich nicke. Im hedonistischen Eilat gibt es exakt eine Jahreszeit, eine Lebensform, die sonst nur in Nordamerika vorkommt: Spring Break. Den Begriff könnte man wohlwollend mit „Frühlingserwachen“ übersetzen. Und der Frühling gehört nun mal der Jugend. Wer zuhause kein MTV empfängt, kann sich ebenso gut in eine Strandbar am Roten Meer setzen. So wie Arthur und ich. Wir würden ja gerne miteinander reden, es gibt – wie immer – einiges zu besprechen, doch der penetrante Eilat-Soundtrack (R’n’B-Eintopf gewürzt mit einer Messerspitze Oriental Pop) übertönt selbst die Schreie der fünf Argentinierinnen am Nebentisch. Sie sind viele gefühlte Dekaden jünger als wir und werden momentan von einer Horde Heranwachsender belagert. Soldaten auf Fronturlaub. Es scheint sich um eine Sondereinheit der Israel Defense Forces zu handeln, sie tragen allesamt die Haare stoppelkurz. Das ist untypisch. In der gesamten westlichen Welt, wozu wir den Judenstaat jetzt mal zählen wollen, existiert keine schlampigere Armee als die IDF. Gemeint ist gewiss nicht die Kriegsführung, wohl aber die alltägliche, lässige Oberfläche. Soldatinnen mit Lipgloss, langen Fingernägeln und aufblitzenden Arschgeweihen sind Legion, ihre männlichen Kameraden verzichten gerne mal auf die Morgenrasur. Alle kauen entweder Kaugummi oder rauchen oder rauchen beim Kaugummikauen. Eine Teenager-Armee. Und genauso sieht sie auch aus. Das balzende Platoon auf den Loungemöbeln nebenan macht da schon einen professionelleren Eindruck, vielleicht sind es Air Force-Piloten. Und deren Motto, soviel haben wir durch einen aufschlussreichen Lehrfilm im Luftwaffenmuseum gelernt, lautet: „Results without Apologies“. Das verpflichtet natürlich. Die sich noch zierenden Argentinierinnen, so scheint es, wollen ebenso erobert werden wie einst die Höhen von Golan.

"Her name is Rio and she dances on the sand.
Just like that river twisting through a dusty land."

Arthur, der heute aus irgendeinem Grund ein Störtebeker-T-Shirt trägt, nutzt ein paar stille Sekunden, um mir rasch eine Notiz aus der Sun vorzutragen. Das Meistermannequin Kate Moss, steht dort zu lesen, hat alle Liebesbriefe ihres blässlichen Musiker-Freundes den Flammen übergeben. Sie sollen lichterloh gebrannt haben. Dass mir Arthur ausgerechnet diese Meldung vorliest, ist kein Zufall. Denn mein Freund ist nicht Kate Moss. Er pflegt einen anderen, innovativeren Umgang mit den Ergüssen seiner Verflossenen. Briefe, Postkarten und ausgedruckte Emails seiner unzähligen Ex-Freundinnen bewahrt er nicht nur ewig auf, sondern trägt sie immerzu mit sich herum. Das meine ich ganz wörtlich. Selbst hier in Israel nimmt sein persönlicher Liebesroman in mindestens dreihundert Kapiteln einen guten Teil unseres Marschgepäcks ein. Dazu gehören sogar Textnachrichten, die er mit rührender Akribie von seinem Handy-Display in ein rotes Büchlein überträgt. Mitunter liest er mir daraus vor. Der Hintergrund dieser speziellen Vergangenheitsbewältigung ist vordergründig folgender: Arthur befindet sich, wie er jeder Kneipenbekanntschaft freimütig berichtet, zeit seines Lebens auf der Suche nach der perfekten postmodernen Frau. Leider steht dieses Vorhaben der zentralen These meines Freundes, nach der genuin postmoderne Frauen – zumindest für ihn – gar nicht existieren, unversöhnlich gegenüber.

„Alle Frauen, die ich treffe, sind höchstens ein klein bisschen postmodern“, klagt er immer. „Die meisten würde ich sogar als prämodern bezeichnen.“

Unklar bleibt, was Arthur damit meint. Ich vermute, es hat etwas mit Ironie zu tun. Mit Popmusik und Spielen ohne Grenzen. Vor allem aber versteht die Frauenwelt Arthurs Humor nicht. Was kaum verwunderlich ist – selbst ich, sein bester Freund, verstehe ihn ja manchmal nicht. Außerdem ist sein Humor nihilistisch. Das mag nicht jeder. Doch Arthur hält diese Problematik für eine grundlegende, wenngleich keinesfalls naturgegebene Fehlentwicklung im Verhältnis der Geschlechter.

„Ich will wieder ich sein, zumindest in dem, was ich sage, auch wenn es unmoralisch ist“, lamentiert er sogar hier am Strand. „So wie ich es mit Dir sein kann. Wie soll ich denn jemals mit einer Frau glücklich werden, wenn nichts, was ich sage, so stehenbleibt, wie ich es eben gesagt habe? Alles muss immer erläutert und gerechtfertigt werden. Niemand versteht mich. Das macht mich ganz krank.“

Die Kampfpiloten singen jetzt ein wüstes Lied, die Damen zeigen sich befremdet.

„Dir geht es doch ebenso“, fährt Arthur deutlich lauter fort, „Du traust Dich nur nicht, es auszusprechen.“

Ich protestiere, das ist nicht wahr, er schüttelt traurig den Kopf. Natürlich wird Arthur mir nun wieder sein Projekt erläutern, ich weiß nicht, zum wievielten Mal: Sein von Briefen berstender Schuhkarton, der ihn überall hin begleitet, hat demzufolge nichts mit Sentimentalität zu tun. Es ist eine Sammlung verlorener Illusionen. In Arthurs Händen wird dieser Adidas-Karton – wie eigentlich alles andere auch – zu einem, nun ja, postmodernen Spielzeug.

„Wenn es die eine Frau nicht gibt, wenn keine auch nur über, sagen wir, 65 % meiner Witze lachen kann, und zwar begründet und nicht bloß aus Höflichkeit, bleibt als einzige Möglichkeit, die Frauen deines Lebens in ihrer Akkumulation zu betrachten. Alle zusammen werden dann eine. Und jede bezieht sich ständig auf die jeweils anderen.“

Arthurs Liebeschronik ist, nüchtern betrachtet, der Versuch, die postmoderne Frau golemgleich zu erschaffen. Sie wird gewissermaßen täglich neu aus der vorhandenen Zeichenmenge zusammengesetzt. Hauptsächlich in Arthurs Kopf, versteht sich, sowie in all seinen wirren, phantastischen Erzählungen. Ich frage ihn, ob er denn selber gerne Teil eines derartigen Schuhkarton-Experiments wäre, nicht mehr als eines unter vielen Puzzleteilen, die in ihrer Gesamtheit den perfekten Mann ergäben.

„Das würde mir nichts ausmachen“, entgegnet er, „es wäre sogar eine große Ehre.“

Ich glaube ihm kein Wort. Sein Schuhkarton ist nur Requisite in einer Farce ohne Hoffnung. Weil mein Freund gerade einen Cheeseburger verdrückt hat und sofort danach zur Verdauung ins Rote Meer gesprungen ist, kann ich es ja schnell verraten: Falls alle meine Beobachtungen und Erkenntnisse zutreffen, hat er die postmoderne, genauer: die postmodernste Frau längst getroffen. Vor Jahren schon. Es handelt sich nicht um die zukünftige Mutter der kleinen Dimona, sondern um eine mythische femme fatale, die mir nur einmal begegnet ist, da ich damals ganz woanders wohnte. Zudem war ich an jenem Abend sehr berauscht und kann mich kaum an sie erinnern. Sie existiert also exklusiv in Arthurs Erzählungen – und er erzählt nicht viel von ihr. Ich weiß nur: Sie hieß Klara. Die alte Geschichte. Erst wollte sie ihn. Dann wieder nicht. Dann ein bisschen. Und dann gar nicht mehr. Sie hat ihm niemals einen Liebesbrief geschrieben. Und Arthur war ihr – das vermute ich jedenfalls, auch wenn es schier unglaublich klingen mag – einfach nicht postmodern genug.

Das ist schon ziemlich tragisch. Arthur Müllers Schuhkarton-Konzept der Liebe ist daher ein Betrug. Es verstellt virtuos den Blick auf seinen wahren Charakter. Im Gegensatz zum Riesenarschloch Chris de Burgh und den vermeintlichen New Romantics von Duran Duran ist Arthur wirklich ein Romantiker. Noch mehr als Pete, der Eigenblut verspritzende William-Blake-on-Crack. Noch mehr als ich, obwohl er mir immer wieder vorwirft, durch mein beständiges Romantisieren das Eigentliche nicht zu sehen oder bewußt zu kaschieren. Die postmodernste Frau ist Arthurs blaue Blume. Niemand, der ihn nicht ganz genau kennt, würde auf diese Idee verfallen. Er selbst würde niemals sein wahres Wesen enthüllen. Doch ich weiß, dass es so ist. Klaras Motto, könnte man sagen, war ebenfalls „Results without Apologies“. Und deshalb trägt Arthur jetzt diesen Schuhkarton mit sich herum.

"Her name is Rio she don't need to understand.
And I might find her if I'm looking like I can."

Am Nebentisch scheint die Gefechtslage noch immer unklar, einige Jetpiloten halten inzwischen die argentinische Couch besetzt. Die Flagge, welche die Grenze zu Jordanien markiert, wirkt selbst aus der Ferne noch gigantisch. Ein Statement. Vergesst niemals unser kleines Königreich, euren einstigen Erzfeind, nicht mal am durch und durch eskapistischen Strand von Eilat. Wahrscheinlich musste zur Produktion dieser Fahne eigens eine spezielle Fabrik gebaut werden. Oder tausend jordanische Frauenhände durften tausend Tage weben. Schwerfällig steigt mein Freund aus dem Wasser. Er setzt sich neben mich in den Designersessel, seine Haut trocknet binnen Sekunden. Und dann erzählt mir Arthur, über Christina Aguileras „Dirty“ hinweg, von einem Theaterstück, dass er vor kurzem in Berlin gesehen hat. Es stammt aus Belgien oder Holland, spielt teilweise in Eilat und enthält eine bemerkenswerte Szene:

Ein Mann befindet sich in der relativ heiklen Lage, seiner todkranken Frau, welche er seit langem nicht mehr anfaßt, eröffnen zu müssen, dass er sich, während sie, die Naturkundlerin, beruflich die Negev-Wüste erforschte, regelmäßig in den Bordellen Eilats verwöhnen ließ. Der entscheidende Aspekt, der seiner Gattin nicht gefallen kann, ist dabei gar nicht so sehr sein Geständnis, einer russischen Prostituierten im Affekt ein Auge ausgestochen zu haben, sondern schlicht die Frequenz der Bordellbesuche. Auf ihre bohrenden, vielfach wiederholten und immer hysterischer werdenden Nachfragen hin stellt sich heraus, dass ihr Ehemann jahrelang nicht einmal, nicht dreimal und auch nicht fünfmal pro Woche bei den Huren lag. Sondern siebenmal. 364 Tage im Jahr. Zum Versöhnungsfest Jom Kippur bleibt der Puff nämlich geschlossen.

„Das muss dann immer ein ziemlich komischer Tag für ihn gewesen sein“, meint Arthur und streicht sich über seinen dreckigen, fetten, alten Männerbauch.

Sonntag, 15. Juli 2007

Chris de Burghs Konzept der Liebe

There's nobody here. It's just you and me.

„Das ist ja wie in Tempelhof“, sagt Arthur und deutet durch das Autofenster auf den Flughafen. Ein kühner Vergleich. Gewagter noch als Kassel vs. Be’er-Sheva. Denn von Tempelhofer Dimensionen kann hier in Eilat, am südlichsten Ende der Wüste, wahrhaftig nicht die Rede sein. Auch was Gestaltung und Geschichte angeht, drängt sich die Nähe zur „Mutter aller Flughäfen“ (Sir Norman Foster) naturgemäß nicht gerade auf. Eilat ist bloß ein Beach-Resort am Roten Meer. Ein Sündenbabel im Gelobten Land, Dorn im Fleische der Ultraorthodoxen. Die Nachbarn Ägypten und Jordanien nehmen diesen äußersten Zipfel des Staatsgebiets gleichsam in den geographischen Schwitzkasten. Doch Eilat wächst und wächst, wie ein mal gut-, mal bösartiger Tumor, bleibt konsequent der Erholung und dem Amüsement verpflichtet. Kein Zweifel, der ganze Ort ist kleiner als Berlins Zentralflughafen, worauf ich Arthur auch hinweise. Im Verhältnis, insistiert mein Freund, sei Eilats Airport aber sogar größer als der einstige preußische Exzerzierplatz. Und überdies viel zentraler. Start- und Landebahnen wurden hier tatsächlich, äußerst behutsam, fast direkt an der Meerespromenade platziert. Alle zehn oder zwanzig Minuten verdunkelt sich der Strand, die Sonnenbadenden liegen für einen Augenblick im Schatten. Einflugschneise Eilat Beach. Im Unterschied zum eher massiven Tempelhof wirkt dieser Ferienflughafen indes leicht, gleicht einem Provisorium. Ein Wüsten-Airport eben.

Während Arthur und ich noch diskutieren, schreien wir beide unwillkürlich auf. Diesmal geht der ohnehin schon wenig progressive Radiosender, dem wir seit Stunden ausgeliefert sind, eindeutig zu weit: „Lady in Red“ von Chris de Burgh. Mit Verlaub, das tut ja weh. Wir werden richtig wütend, und es ist keine spielerische Wut, sondern ein geradezu heiliger Zorn, der da von uns Besitz ergreift. Es müsse, sagt Arthur, doch mal irgend jemand etwas tun. Endlich etwas unternehmen gegen diesen widerwärtigen, über und über behaarten Gnom, der einzig in Deutschland – und, wie wir jetzt leider erfahren müssen, in Israel – noch seine schmierigen Balladen verkaufe und bei jedem einzelnen wunderkerzenilluminierten Auftritt stets mit der gleichen aufgesetzten Glut und Inbrunst von seiner „Lady in Red“ schmachte. Ich stimme Arthur sofort zu. Doch was soll man da schon machen. Wie soll man denn praktisch etwas gegen Chris de Burgh unternehmen? Im alltäglichen Leben scheint es einfacher, der Klimakatastrophe wenigstens nicht Vorschub zu leisten, als dem Lied von der „Lady in Red“ zu entgehen. Mit Abstand am unangenehmsten, da sind wir uns einig, ist jene Textstelle wo dieser irische Aushilfsromantiker seiner Tanzpartnerin ein „You were amazing“ ins Ohr haucht. Da könnte ich mich jedes Mal sofort erbrechen.

„Nicht mal in Tel Aviv kann man so viel Humus essen, wie man an dieser Stelle kotzen will“, sage ich zu meinem Freund.

Arthur muss sofort an unseren Lieblingstaxifahrer denken, welcher die üppige Körbchengröße der israelischen Frauen emphatisch auf ihren Humus-Konsum zurückführte. Bereits in frühester Kindheit, so der Taxifahrer, würden sie mittels einer ausgeklügelten Strategie geradezu mit Humus gemästet, müssten immer und immer wieder, Tag ein, Tag aus, Humus essen, nichts als Humus, Humus, Humus – aus einem einzigen, gewichtigen Grund:

„Humus makes big tits. Big big big tits.“

Chris de Burgh beschwört jetzt aber nicht die Brüste der rotgewandten Dame, sondern ganz allgemein „a feeling of complete and utter love“. Corporate love, denkt man mit Schaudern, industriell gefertigte Gefühle. Emotionale Pornographie. Von diesem Punkt ist es nicht weit bis zur Massenproduktion von Hass, Verderben und Vernichtung. Es bleibt festzuhalten: Die Tiraden sämtlicher Hassprediger der Region sind uns sympathischer, sprechen unsere Herzen leidenschaftlicher und direkter an als Chris de Burghs Konzept der Liebe.

„Ich möchte lieber von Charly Manson geliebt werden, als von Chris de Burgh“, resümiert Arthur sehr treffend.

Der Abend dämmert bereits. Jenseits des Grenzzauns, auf der jordanischen Seite, stellen sie Licht für Licht die Nachtbeleuchtung an – unzählige hell strahlende Lampen, fast wie zur Weihnachtszeit, als wollte das Königreich den besser situierten Nachbarn wenigstens auf diesem Felde übertrumpfen. Die Berge sind von einem matten roten Schimmer überzogen.

„Wir dürfen uns diesen Abend von Chris de Burgh nicht kaputtmachen lassen“, sagt Arthur entschieden.

Doch unsere gerade noch so euphorische Stimmung ist fürs erste ruiniert.

Donnerstag, 12. Juli 2007

Wir brauchen Abstand

Musik aus der Mitte des Landes: Der Rapper Abstand MC und seine sensationelle documenta-Single "Kassel braucht keine Kunst". Ein Balagan Blues Music Post ausnahmsweise ohne Arthur und mich...

Gaza heißt jetzt Hamastan und in Afghanistan blüht der Klatschmohn. In Kassel blüht gar nichts, zumindest kein Mohn. Gerade mal gut dreißig rote Pflänzchen schmücken inzwischen den Friedrichsplatz. Vom weiten Feld, das die documenta12-Eröffnung zu einem floralen Fest der Sinne machen sollte, keine Spur. Immerhin, eine ehemalige Bewohnerin der West Bank ist trotz mühseligster Anreise erschienen: Der Künstler Peter Friedel hat extra zur documenta eine ausgestopfte Giraffe aus Qalqiliyah im Westjordanland einfliegen lassen. Hier von einem logistischen Albtraum zu sprechen, wäre gewiss untertrieben. Die Presse schreibt vom „staatenlosen Tier“ – doch sind nicht alle Tiere staatenlos? Dieses heißt jedenfalls nicht Blondie, sondern Brownie, und starb bei einem israelischen Angriff auf ein Hamas-Camp. An Herzversagen, wie gerne vermerkt wird. Natürlich will der Künstler trotz dieser herzerweichenden Symbolik keinesfalls Partei ergreifen in Nahost. Es zähle die ästhetische Erfahrung, sagt Friedel, als greifbares Kontrastprogramm zur medialen Bilderflut. Die documenta12: ein Möglichkeitsraum. Das fordert schon die künstlerische Leitung. Offen, gestaltbar und geschwisterlich geteilt von Kunst und Publikum.
Kassel, 2007: "Das Jahr des Untergangs."

Am Rande der diesjährigen Kasseler Schau tritt nun – durch die Hintertür – ein Nachwuchskünstler ins Rampenlicht, der, bei allem, was er tut, Partei ergreift. Und dies auf furiose Weise. Die Rede ist von Abstand MC. Vertreten auf dem inoffiziellen documenta12-Soundtrack Klangdokument A, macht dieser junge Rapper seinem Namen alle Ehre. Mit jedem einzelnen, hasserfüllten Wort geht er auf Abstand zur Welt. Vor allem distanziert er sich in radikaler Manier von der Institution documenta und der Kunstsphäre an sich. Abstands Underground-Hit „Kassel braucht keine Kunst“ ist eine Sensation. Der richtige Song zur richtigen Zeit. So wie David Hasselhof einst mit seinem Lied „(I’ve been) Looking for Freedom“ den Fall der Berliner Mauer nicht unwesentlich beschleunigte, könnte auch Abstand MCs Anti-documenta-Attacke einiges zum Fall dieser dekadenten Leistungsschau der Kunst beitragen. Man muss ihm nur zuhören. Ganz ähnlich wie die 1001 durch Kassel irrenden Importchinesen oder Brokenhearted Brownie bilden Abstand und sein Werk eine Art soziale Plastik in der Fremde. Mit dem Unterschied, dass der Nachwuchsrapper in Kassel ja zuhause ist; er stammt laut Selbstauskunft aus einem der Problemviertel des Nordens. Doch seine Heimatstadt ist ihm – in einer fundamental modernen Erfahrung – fremd geworden: „Eigentlich ist unsere Stadt ein schönes Ghetto, doch alle fünf Jahre denkt die Welt, hier wird man froh...“ Aus diesen Worten klingt trauernde Liebe. Millionen, klagt Abstand, die sonst möglicherweise den Jugendklubs von Kassel-Nord zugute kämen, fließen stattdessen in postmoderne Plantagenhäuser und Giraffentransporte aus Kriesengebieten. Auffällig ist: Im Hip Hop als Master Narrative unserer Epoche manifestiert sich – wie in den meisten Jugendbewegungen – die Dekontextualisierung schwarzer amerikanischer Kultur. So auch in der stolzen Kasseler Unterschicht, die Abstand wie kein zweiter zu seiner programmatischen Heimat erklärt. Und auch hier, in der geographischen Mitte Deutschlands, entpuppt sich das wohl nicht zufällig gewählte Genre als ein durchweg antiintegrationistisches. Der MC will nicht dazugehören. Aber noch viel weniger will er, dass die anderen zu ihm gehören, seinen ästhetischen Erfahrungsraum okkupieren. Bereits im Intro erklärt Abstand das documenta-Jahr 2007 in Endzeitdiktion zum „Jahr des Untergangs“. Seine „Message“ richtet sich nicht zuletzt an „das schwule Studenten- und Künstlerpack“. Derlei Invektiven mögen auf den ersten Blick befremdlich klingen, dekonstruieren aber den klassischen documenta-Rundgang auf brutal-effektive Weise: in einem virtuosen Amoklauf, der erst dann Halt macht, wenn es in Kassel eben keine Kunst und keinen Geist mehr gibt. Während der diesjährige Ausstellungsleiter Roger M. Buergel lediglich damit kokettiert, dass „wir angesichts der zeitgenössischen Kunst zunächst alle Idioten“ seien, trifft dies auf Abstand wirklich zu. Er ist ein Idiot. Er versteht nichts von Kunst. Und er schämt sich nicht dafür. Seine Prioritäten setzt der Nachwuchsrapper ohne Zweifel woanders: „Eure Weiber tragen Schwarz und ne Brille, doch wenn MC Abstand kommt, ist sein dicker Schwanz ihr letzter Wille.“ Abstand stellt, frei von ermüdender postmoderner Selbstironie, seine verbale Inkontinenz gegen Buergels Vorstellung der Moderne als „Schlüsselerfahrung radikaler Kontingenz“. Und Abstands Botschaft ist viel wirkungsvoller. Was würde der MC wohl auf die „leitmotivische“ documenta-Frage antworten, ob die Moderne „unsere Antike“ sei? Bereits in der Formulierung schwingt jenes Höchstmaß an Ausgrenzung mit, welches für ihn und seinesgleichen alle fünf Jahre unerträglich wird. “Wenn mich das Leben fickt, fick ich halt zurück!”, könnte Abstand, gemäß seiner Website, entgegnen – und damit eine wesentlich existentiellere und für ihn durchaus leitmotivische Frage beantworten. Wir müssen uns Abstand, naturgemäß, als Antithese zu Roger M. Buergel vorstellen. Wo dieser nach „intellektuellem Eros“ lechzt, ist des Rappers Eros offenkundig pornographisch und antiintellektuell geprägt. Sein Song ist auch als Drohung zu verstehen: „Heute abend feiern wir in deinem Museum ein Gelage“, kündigt er schon mal freimütig an. Wahrscheinlich wird es nicht bei diesem einen Abend, diesem einen Gelage bleiben, denkt der Zuhörer mit Schaudern und, vielleicht, klammheimlicher Freude. Ob Abstand „authentisch“ ist, spielt da keine Rolle. Seine Performanz schlägt Buergels jedenfalls um Längen (und zwar nicht nur in phallischer Hinsicht). Der junge MC verwirklicht dabei mit seiner innovativen Weiterführung US-amerikanischer Gangsta Rap-Traditionen – seiner ganz persönlichen „Antike“ – durchaus das Ausstellungskonzept der „Migration der Form“. Wieso, ist man geneigt zu fragen, wurde Abstand dann nicht eingeladen zur zwölften großen Kunstbetriebsfeier? Kein documenta-Manifest vermag dies auch nur ansatzweise zu beantworten, obgleich penetrant von „demokratischen Handlungsspielräumen“ die Rede ist. Vielleicht sollten wir den Kuratoren dankbar sein. Denn Abstands ureigener Kunstbegriff entwickelt sich Tag für Tag auf der Straße – nicht in „Unis, Schulen oder ähnlichen Kulturpuffs“. Dass der Rapper sich im Refrain wiederholt als „Kunstfaschist“ ausgibt, erhält da fast einen ironischen Beiklang: Die „Kunstfaschisten“, das sind in diesem Fall ja wohl eindeutig die anderen.

Wie zahlreich die Mohnblumen am Ende des Tages auch blühen mögen – ob Kassel Kunst braucht oder nicht, können wir an dieser Stelle schwerlich abschließend beurteilen. Eines ist sicher: Kassel ist nicht Hamastan. Kassel ist auch nicht Kabul. Kassel braucht Abstand. Wir alle brauchen Abstand, um wieder ein klein bisschen schärfer sehen zu können. Abstand MC ermutigt uns zu diesem Schritt zurück, der für die Kunstwelt in ihrer Gesamtheit zugleich ein Schritt nach vorn sein kann. Allein dafür gebührt dem zornigen Lokalhelden aus Kassel-Nord unser unbedingter Respekt.

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Donnerstag, 5. Juli 2007

Dimona

Mein Freund Arthur wird im Dezember zum ersten Mal Vater. Da mittels avanciertester Technologien das Geschlecht des Kindes bereits als bekannt vorausgesetzt werden darf, hat er sich auch schon einen Namen ausgedacht: Dimona. Ich weiß nicht, wie er darauf kommt, möglicherweise spielt Hölderlin eine Rolle oder sogar ein Computerspiel. Ob die Mutter des Mädchens mit seiner Namenswahl einverstanden ist, sei ebenfalls dahingestellt. Doch Arthur ist fest entschlossen: Dimona – oder eben gar kein Name.

Als ich ihn nun auf unserer Fahrt entlang der jordanischen Grenze darauf hinweise, dass Dimona zugleich der Name einer israelischen Kleinstadt in der Negev-Wüste ist und dass sich 13 km östlich dieses Ortes jene mythenumwobene „Chocolate Factory“ befindet, die gemeinhin als Brutstätte des israelischen Atomwaffenprogramms gilt, ist Arthur zunächst entsetzt. Dies hätte er wohl kaum im Sinn gehabt. Dann könne er seine Tochter ja gleich „Force de Frappe“ nennen, bemerkt der frankophile Arthur bitter. Ein paar Minuten Schweigen, nur Arab-Pop im Autoradio. Urplötzlich hellt sich seine Miene auf.

„Dimona, das ist gut“, murmelt Arthur, „das ist wirklich gut.“

Noch besser ist: Wir schauen auf die Karte, Dimona liegt gar nicht so weit von hier. Mein Freund und ich rasen also durchs wüste Land, der heiße Wind verbrennt uns die Gesichter. Links und rechts „Firing Zones“ des Militärs. Am Straßenrand grasen Kamele im Staub. Noch bevor wir die Reißbrett-Siedlung erreichen, entdecken mein Beifahrer und ich schon ein weißes, unbewegliches Objekt am Himmel – ein Aufklärungsflugzeug. Mit Sicherheit werden wir längst gefilmt, abgehört und erkennungsdienstlich geprüft. Arthur dreht die Musik lauter. Dann etwas außerhalb die ersten Schilder:

„DO NOT STOP. 10 km.“ Und: „NO PHOTOGRAPHY“.

Das betreffende Gelände hat man, vorsichtig gesagt, weiträumig umzäunt. Am Horizont ist gleich einer Fata Morgana die Silhouette der „Chocalate Factory“ zu erkennen. Der offizielle Codename jener Fabrik, die, wie der seit dieser Woche wieder inhaftierte Jahrhundertverräter Mordechai Vanunu 1986 einer nicht all zu verblüfften Öffentlichkeit mitteilte, gar keine Textilien (und erst recht keine Schokolade) produziert. Sondern Atomwaffen.

„Das hätte ich dir auch so sagen können“, sagt Arthur. „Ohne zehn Jahre da zu arbeiten. Eine angemessen gesicherte Schokoladenfabrik in der Wüste hätte allerdings auch ihren Reiz.“

Ich erzähle ihm, dass Mordechai nach seiner Entlassung nicht nur in Australien zum Christentum konvertierte, sondern kurz darauf von einer vermutlich recht attraktiven Mossad-Agentin (Deckname „Cindy“) nach Rom gelockt und schließlich verhaftet wurde. Geheimprozess. 18 Jahre. Langweilig ist Mordechais Geschichte nicht – Dimona indes schon. Man kann ja gar nichts sehen. Natürlich nicht. Der Ort lebt allein von der eigenen, durch Spionageromantik entfesselten Vorstellungskraft. Wir sind das einzige Auto auf dieser Straße, fahren schnurgerade am Nato-Draht entlang. Es bleibt zu erahnen, was sich unterirdisch hier so abspielt. Zwei schöne Strahlenschutzanzüge wären jetzt wohl nicht die allermisslungenste Kleiderwahl. Irgendwann endet selbst dieser Zaun, man darf wieder anhalten und in den Staub pissen. Dimona, verborgen im Wüstensand, existiert wirklich nicht. Oder: Es existiert in der Wirklichkeit ebenso sichtbar wie in den offiziellen Regierungsakten. Arthur wird seiner Tochter aber trotzdem diesen Namen geben.

„Dimona Müller soll sie heißen und nicht anders“, sagt er mit feierlicher Stimme.

Mittwoch, 4. Juli 2007

Jakob, der Lügner

When there's nothing left to burn, you have to set yourself on fire.

Independence Day. Wie schön. Heute Nacht erinnert die Heilige Stadt an Tijuana, Mexico. Zumindest jenseits der geweihten Mauern. Es sind allerdings keine kalifornischen College-Kids, die hier auf den Tischen tanzen, Karaoke singen und sich paaren. Sie kommen aus New York und aus New Jersey, werden mit klimatisierten Bussen durchs Land gekarrt. Birthright Israel nennt sich das. Viele tragen Kippas und manche sogar Schläfenlocken. JER-USA-LEM-Shirts. Nicht nur die Frauen sind geschminkt – es gibt auch einen Gay-Bus, erzählt ein eher unorthodoxer Teilnehmer dieser Wallfahrt meinem Freund Arthur und mir. Die örtlichen Bars widmen sich ganz den Bedürfnissen der jungen Leute. Genau wie in "T. J." gibt es zu jedem Bier gratis einen dreifachen Tequila, die aufmerksamen Russinnen füllen gerne nach. Musikalisch scheint man sich dem ehrwürdigen Alter Jerusalems angepasst zu haben. Der DJ spielt „Summer of ’69“ und „Born in the USA“. Ein paar Israelis sind ebenfalls unterwegs: Das Mädchen, das dort in flirrender Schönheit über den Tanzboden schwebt, trägt jedenfalls eine IDF-Uniform – wenn auch ohne M-16. Ihr Gewehr, das sie (laut Vorschrift) niemals irgendwo zurücklassen darf, befindet sich vierfach gesichert an einem geheimen Ort. Behauptet sie jedenfalls.

Etwas abseits, doch mitten im trunkenen Transitverkehr, steht ein junger Mann. Vor einem monumentalen Bankgebäude, in welchem sich – rein architektonisch – schon mal der Dritte Tempel materialisiert, spricht er jeden einzelnen Passanten an, auf Hebräisch und Englisch zugleich. Er verteilt grellgelbe Aufkleber, die uns bereits aufgefallen sind, an Parkuhren und Laternen. In Unkenntnis des fremden Alphabets fragen mein stets neugieriger Freund Arthur und ich Eric – so stellt der junge Aktivist sich vor – nach der Bedeutung seiner Botschaft.

„Jakob, der Lügner“, sagt Eric.

Klar, das erklärt ja alles.

„Mittelmäßiges Buch, schlechter Film", bemerkt Arthur.

Doch Eric nimmt sich gerne fünf Minuten Zeit für uns, unterbricht seine Kampagne, um deren Hintergründe zu erläutern. Also, sein Bruder hätte bei eben jener Tempel-Bank in einen Aktienfonds investiert. 10.000 Shekel – der Gegenwert von etwa 500 Bier/Tequila-Kombinationen in Jerusalem, Mexico. Aus irgendeinem Grund (hier wird die Darstellung ein wenig vage) sei dieses Geld nun verschwunden. Und die alleinige Schuld trage – Jakob, der so genannte Geldberater seines Bruders. Die mächtige Bank versuche selbstverständlich, diese Fehlentwicklung zu vertuschen. Aber Erik und sein Bruder würden kämpfen, notfalls jahrelang, bis die Summe wieder auf dem Konto seines Bruders und Jakob, der Lügner, von seinem Posten entbunden sei. Darum hätte er, Erik, zehntausend Aufkleber drucken lassen. In neongelb. Für jeden Shekel einen. Er gibt uns gleich mal fünfzig davon mit. Naturgemäß werden wir seinen Kampf unterstützen.

Montag, 2. Juli 2007

Allenby Street

CAN YOU FEEL THE ENERGY? Die Schicksalsfrage in Jerusalem. Ich weiß nicht, wer eigentlich damit angefangen hat. Lonely Planet? Ein Taxifahrer? Ein Prediger aus Oklahoma? Längst ist die heilige Energie zur Routine erstarrt – wie J. C., Erlöser, in den Andenkenhöhlen der Via Dolorosa. Jeder glaubt, sie zu verspüren. Und wer rein gar nichts fühlt, der lügt einfach. Mal ganz ehrlich: Mein Freund Arthur, der Blasphemiker, hat recht. Das von jedem Idioten so andächtig beschworene Kraftfeld dieser Stadt ist ein negatives. Die alten Gassen sind finster und drohen dich zu verschlucken. Jedes Loch eine Falltür ins Bodenlose. Die Energie Jerusalems entlädt sich in Muezzingesängen, messianischen Mienen und Ekstasetänzen an der Klagemauer. In nächtlichen Maschinengewehrsalven und Sirenengeheul aus dem Hinterland. Selbst die Stadtmauern leuchten irgendwie düstern in der Abendsonne.

Tel Aviv aber ist hell. Hell, neu und modern. The White City. Die klaren Formen der Bauhäuser im Zentrum, jedes für sich sexy in seiner Kleinwüchsigkeit. Hier fragt keiner nach der Energie – sie ist einfach da und überall zu spüren. Und sie ist positiv. Abend für Abend: Allenby Street, unsere Schritte werden schneller. Ganz automatisch, Arthur geht es genauso wie mir. Wir laufen nicht davon, wie in Jerusalem. Es ist einfach unmöglich, dem Puls dieser Straße und ihrer Menschen zu widerstehen. Sogar die Straßennamen sind hier schön, egal nach welchem General sie nun benannt sein mögen. Allenby Street führt zur Lilienblum Street. Dort suchen wir das Glück. Hinter dem Schild „Libros en Español“ verbirgt sich ein Geheimnis, heißt es. Vielleicht ein andermal. Jetzt aber füllt der Kioskbesitzer zwei große Becher zur Hälfte mit brennendem Schnaps, kippt bonbonfarbenes, schmelzendes Wassereis darauf. Zwei Strohhalme. Ein Kennerlächeln. „This is beautiful“, sagt er.

Sonntag, 1. Juli 2007

Balagan. Zur Einführung


What is a balagan? A balagan is a mess. If I spill a bag of sugar, I make a mess. If I am eating a hot dog and get mustard round my mouth, that is a mess. If I am too lazy to tidy up, I wind up with a mess. My desk is a mess.

But a balagan is more than a mess. A balagan is a mess that verges on the uncontrollable. It is chaos, disorder, the throwing up of your hands, because what the hell can you or anybody do about this balagan? Can it ever be made to bend under the rules of logic? You feel helpless, you feel overwhelmed, but sometimes the state of everything being a balagan becomes so normal that you start to fear and distrust the harmony of its opposite.

[Linda Grant, The People on the Street]

Balagan Blues wird ein Lied davon singen. Viele Lieder. Sie werden sich dem Balagan, der größten anzunehmenden unkontrollierbaren Unordnung ergeben, es erforschen und dagegen rebellieren. Jeder Versuch eines Ordnungssystems bleibt dabei jedoch Spiel, Illusion; die gewissenhafte, gnadenlos romantisierende und subjektive Sichtung des vorliegenden Materials (also z. B.: Future, Love, Sex, Sound etc.) vergrößert lediglich das Balagan -- und macht es noch unkontrollierbarer. Bei jedem einzelnen Blues klingt zugleich Nietzsche mit, der gut vernehmbar raunt, dass man das Chaos auch in sich tragen könnte, sollte, muss. Zumindest wenn man mit der Absicht spielt, eines fernen Tages vielleicht mal einen, nun ja, tanzenden Stern zu gebären. Und wer tut das nicht. Das Wort Balagan ist kaum zufällig im Hebräischen heimisch geworden. Mein Balagan Blues Blog setzt auch darum dort ein, wo das Chaos so grausam, so herrlich und, vor allem, so alltäglich ist, dass es mitunter die ganze Milchstraße in den Tanzbeinen zuckt: in Israel. Danach geht's um den Rest der Welt. Gleich morgen brechen wir auf. Mein durchaus chaotischer Freund Arthur und ich sitzen längst auf gepackten Koffern. Schnell noch mal durchatmen. Die Reise beginnt.