Mittwoch, 19. Dezember 2007

Wannsee in Flammen

„Mein einziges, mein höchstes Ziel ist gesunken, ich habe nun keines mehr“, sagte Arthur, als er mir von der erkalteten Pizza erzählte. Charlotte hat die Margherita nicht gegessen. Sie hat sie einfach im durchgeweichten Pappkarton auf ihrer Fußmatte liegen lassen, wo mein verzweifelter Freund sie am nächsten Tag – ungegessen, gleichsam als Tiefkühlpizza – wieder aufhob. Arthur aß sie dann eben selbst, für seine Verhältnisse langsam und ohne großen Appetit, doch er aß auch diese kalte, verrottete Margherita bis zum letzten Bissen auf. Natürlich aß er sie auf. Und jetzt stehen wir hier am Wannsee, wir stehen schon wieder an einem Grab, einem Selbstmördergrab, und warten auf Moby Dick.

„Ich bin innerlich so wund“, stöhnt mein Gefährte, „dass mir, wenn ich die Nase aus dem Fenster stecke, das Tageslicht weh tut, das mir darauf schimmert.“

„Das könnte auch mit deinem Kokainkonsum zu tun haben.“

„Why does my heart feel so bad?“ Mein Begleiter nimmt einen kräftigen Schluck Schweizer Absinth, den wir extra für diesen Ausflug aus Tim Verlaines Kellerversteck entwendet haben. „Wusstest du, dass Moby der Ur-Ur-Großenkel von Herman Melville ist?“

„Klar, das wusste ich. Aber ich glaube kaum, dass Moby Dick heute noch kommt. Könnte es möglicherweise so was wie eine Winterpause für Ausflugsschiffe geben?“

„Verdammte Scheiße“, murmelt Arthur.

Wir hatten beinahe schon dergleichen vermutet, als wir versuchten, das Menü zu buchen, wollten es aber nicht wahrhaben. Denn der Wannsee ist ja, das kann selbst ein Blinder erkennen, nicht zugefroren. Man braucht weder einen Eisbrecher, noch einen Walfänger, um dieses Gewässer zu befahren, nur Berlins beliebtesten Ausflugsdampfer Moby Dick sowie ein Ticket für Wannsee in Flammen. Ich wollte Arthur aufheitern, zumal er übermorgen Geburtstag hat und in Kürze Vater einer Tochter namens „Clara“ wird. Das Erlebnispaket Wannsee in Flammen auf der MS Moby Dick schien genau die passende Ablenkung zu sein: ein maritimes Abenteuer auf der Südseite der Stadt. „Wir können Ihnen zwar nicht die Sterne vom Himmel holen“, hatte die Reederei behauptet, „lassen aber auf imposante Art den Himmel für unsere Gäste erstrahlen.“ Ein spektakuläres Höhenfeuerwerk sollte uns in seinen Bann ziehen: „Der Wannsee im Feuerzauber, da heißt es: Alle Mann auf’s Oberdeck, Blick zum Himmel und staunen - Sie werden ‚Feuer und Flamme’ sein!“ – so die Reederei, so hatten wir uns das vorgestellt, Arthur und ich. Wir wollten unser Bordmenü, wie empfohlen, reservieren – Arthur das Kesselgoulasch mit Gemüse und Kartoffeln ergänzt durch das Eisdessert „Copa, ich selbst die Poulardenbrust mit Champignonsauce und Gemüsereis sowie Tiroler Apfelkuchen, danach vielleicht noch einen Kaffee und zwanzig Schnäpse –, doch niemand ging ans Telefon. Mein Freund und ich sind also direkt zum Wannsee gefahren. Und jetzt ist die Enttäuschung uferlos: Von Moby Dick keine Spur, der Ticketschalter war nicht mal besetzt. Nicht am Großen und auch nicht am Kleinen Wannsee, wo wir nun stehen, Absinth aus der Flasche trinken, ohne Feuerritual, und nicht weiterwissen. Vor uns das Kleist-Grab, morgen geht der Flieger nach Stavanger. Der Wannsee ist dunkel wie ein Friedhof zur Geisterstunde.

„Könnten wir nicht wenigstens eine kleine Mondscheinfahrt machen?

„Arthur, es fahren einfach keine Schiffe. Nicht im Winter. Lass uns nach Hause gehen und unsere Sachen packen. Norwegen ist herrlich. Allen UN-Statistiken zufolge das reichste, sicherste und gesündeste Land der Erde. Ein Paradies eben. Mit oder ohne Sophie.“

„Ohne Charlotte ist das Paradies für mich verriegelt.“

„Erstens geht es dir, wenn du mich fragst, gar nicht um Charlotte, sondern um Klara, beziehungsweise Clara. Und außerdem bleibt uns jetzt nichts anderes übrig, als diese Reise ans Ende der Welt machen, damit wir sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist. Dieses verriegelte Paradies.“

„Was faselst du da eigentlich? Meinst du, wir müssten wieder vom Baum der Erkenntnis essen, um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?“

„Allerdings“, sage ich, während mir die Grüne Fee bereits das Hirn vernebelt. „Das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der Welt.“

„Du bist ein Idiot“, erwidert Captain Arthur. „Ich will ein Kesselgoulasch. Moby Dick. Den Wannsee in Flammen sehen!“

Und mein Freund schließt wieder seine Augen, unter der himmelhohen Eiche am Grab von Heinrich und Henriette, denen auf Erden einfach nicht zu helfen war – um diese Augen dann blitzartig weit aufzureißen:

„Moment!“ ruft er. Wannsee in Flammen! Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe!”

Gut zwei Stunden später, die Finsternis ist vollkommen, torkeln wir durch den Prenzlauer Berg. Wir mussten noch bei Arthur vorbeifahren, er wollte sein Löwenkostüm holen, was ich ihm jedoch ausreden konnte. Den Schuhkarton, diese abwechslungsreiche und schillernde, von Charlotte stets mit Befremden betrachtete Kollektion alter Liebesbriefe, trägt er indes unter dem Arm. Wie die Pizza vor einigen Tagen. Und wieder stehen wir vor dem selben Haus. Kein Mensch ist zu sehen, keine Nachtigall zu hören.

„Ist noch Absinth da?“ fragt Arthur, während er hektisch seine Taschen durchwühlt.

„Ein kleiner Schluck. Hier, für dich.“

Mein Freund setzt die Flasche mit der grünen Flüssigkeit an seine Lippen, der Wermut läuft ihm dabei über Gesicht und Hände. Er sieht aus wie ein Irrsinniger, selbst für mich. Was Fremde denken könnten, will ich mir gar nicht ausmalen. Dieses Haus hat keinen eigentlichen Vorgarten, sondern bloß einen schmalen Grünstreifen zur Straße hin, wo irgendjemand Rosen gepflanzt hat, die im Dunkeln bläulich schimmern.

„Was Kate Moss kann, kann ich auch“, sagt Arthur entschlossen und schüttet den gesamten Inhalt seines Schuhkartons neben dem Blumenbeet aus – Hunderte Liebesbriefe, wohlformulierte und legasthenische, deutsch- und fremdsprachige, mit Herzblut verfasste und verlogene, flattern über die Wiese. Ich meine, Ayşes Namen zu lesen. Charlotte. Julia. Keine Ahnung, wer Julia ist. Vielleicht hat Arthur sich diesen Brief selber geschrieben.

„So. Jetzt das Streichholz.“

Und Arthur Müller legt Feuer. Mit einem Streichholzbriefchen aus dem Quatro Stagione all’Inferno. Es breitet sich gemächlich, aber unaufhaltsam aus. Der eisige Dezemberwind. Ein Scheiterhaufen aus Liebesbriefen.

„Charlotte!“ ruft mein Freund und sein Gesicht wird schon vom Flammenschein erhellt. „Charlotte!“

„Pass auf“, sage ich.

„Das Feuer ist noch nicht groß genug.“

Arthur nimmt ein weiteres Streichholz, zündet es an – und schreit auf: Arthur brennt. Als ich es merke, brennt er wohl schon zehn Sekunden lang. Nicht nur die Liebesbriefe, sondern auch seine Hände stehen nun in Flammen. Ich denke einmal mehr an meinen Todestraum, das Höllenlicht, ich denke an Prag und Alphaville, verharre wie gelähmt auf der Stelle.

„Scheiße, der Absinth! Hilf mir doch!“

„Was soll ich denn machen?“

Mein Freund bewegt sich wie ein Veitstänzer, klopft mit den Händen wild auf den Boden, auf die Blumen, bis seine Finger nicht mehr brennen. Die Briefe aber brennen weiter.

„Was ist denn hier los? Ich glaub’, ich spinne!“

Ein Fenster ist aufgegangen und ein Hausmeistertyp im Feinrippunterhemd schaut heraus, das Handy in der Hand.

„Ihr habt se ja wohl nich’ mehr alle!“ brüllt er.

Dieser Mann, das steht fest, wird jetzt nicht nur die Feuerwehr oder die Polizei, sondern die Feuerwehr und die Polizei rufen, die Arthur und mich dann in ein Arbeitslager bringen werden. Die Kosten für die zertrampelten Rosen nicht zu vergessen. Was für ein verdammtes Balagan. Doch Arthur sieht ihn nicht mal, diesen Hausmeister, obwohl er bloß wenige Meter entfernt ist. Mein Freund starrt nach oben, zur dritten Etage, denn dort steht Charlotte. Auf ihrem Balkon. Trotz des entfesselten Feuers, das nunmehr auf das gesamte Rasenstück übergegriffen hat und vermutlich den Prenzlauer Berg mit all seinen Kinderwagen und Bier- und Bionadetrinkern in Schutt und Asche legen wird, kann ich nicht erkennen, ob sie lächelt oder weint, mädchenhaft errötet oder ausspuckt. Sie steht dort, im weißen Nachthemd, auf ihrem Balkon, die Hand an der Wange, und schaut auf uns und die brennenden Briefe herab.

Und Arthur schaut zu ihr hoch.

„Charlotte!“ ruft er mit silbern-süßer Stimme. „Charlotte! Ich fliege morgen nach Norwegen.“


[Dies ist das letzte Kapitel der zweiten Staffel der Geschichte von Arthur und mir und der Welt. Balagan Blues dankt allen Lesern und Unterstützerinnen, Freunden und Feinden. Doch die Reise muss weitergehen. 2008 wird wie kein anderes Jahr zuvor im Zeichen des Balagans stehen. Near. Far. Wherever you are.]

Donnerstag, 13. Dezember 2007

Gregory Peck


"Don't look. I'll look for you."

Dienstag, 11. Dezember 2007

Margherita oder: Der Wal

Ich schließe meine Augen, flüstert Arthur, um zu sehen.

Eigentlich müsste er sagen: um etwas anderes zu sehen. Denn wir gehen, so schnell wir können, die Kastanienallee entlang – eine Straße, die mein Freund inbrünstig hasst. Arthur möchte lieber gar nichts sehen, als die Kastanienallee zu erblicken, und deshalb hat er die Augen geschlossen, während er neben mir läuft und einen Pizzakarton vor sich her trägt. Es regnet, es stürmt in Berlin, wir bringen Charlotte eine Pizza. Beinahe wäre uns diese Rettungsmission sogar verwehrt geblieben: Jenes unglückliche Ereignis im Quatro Stagione all’Inferno, über das ich an dieser Stelle lieber schweigen möchte, welches gleichwohl als „Sardellen-Zwischenfall“ in die Gastronomiegeschichte eingehen wird, hätte Arthur um Haaresbreite seinen Job gekostet. Tims Vater schien zunächst Blutrache nehmen zu wollen. Einzig Sophies charmanter Überzeugungskraft ist es zu verdanken, dass mein Freund weiter als Pizzabäcker arbeiten darf. Nicht nur im Quatro Stagione all’Inferno, sondern überhaupt, wo auch immer auf dieser Welt Pizzateig ausgerollt und Tomatensoße angerührt wird. Heute mittag durfte Arthur schließlich mit Tims Segen seine ganz spezielle Pizza backen. Charlottes Pizza. Er hat gleichsam um sein Leben gebacken. Nach einer uferlosen Diskussion mit Sophie, Aaron, Tim und schließlich sogar Tims Vater und mir sowie der per Telefon zugeschalteten Lulu, deren neuer Liebhaber Sailor sich im Hintergrund auch noch einmischen musste, entschied er sich für eine schlichte Margherita. Etwas Rosmarin, etwas Basilikum. Mozzarella. Olivenöl. Sonst nichts. Und mit dieser wohlschmeckenden Kreation will mein verlassener Freund nun Charlotte überzeugen, dass sie den Fehler ihres Lebens begangen hat, als sie ihm – Arthur – riet, sich in ihrem Wald nicht mehr blicken zu lassen.

„Ich habe nachgedacht“, murmelt er und hält sich in seiner Blindheit an meinem Arm fest. „Wenn Charlotte diese Pizza nicht isst, müssen wir flüchten. Wir können hier nicht bleiben.“

„Wo willst du denn hin?“

„Ich weiß es noch nicht. Aber es gibt ein paar Ideen. Deshalb schließe ich ja ständig meine Augen, um mir ein neues Leben vorzustellen.“ Arthur stolpert, doch ich stütze ihn. „Wenn dieses bislang namenlose Kind auf die Welt kommt und tatsächlich ‚Clara’ getauft wird, ist dies jedenfalls nicht mehr meine Welt.“

„Charlotte will doch sowieso wegziehen.“

„Nach Paris vielleicht. Das ist ja praktisch um die Ecke. Nein, meine Tochter Clara und ich auf einem Kontinent – das funktioniert nicht.“

„Deshalb gehst du jetzt zu Charlotte, erzählst ihr von Klara und machst sie auf die Problematik aufmerksam. Sie kann den Namen ja ändern. Das Kind ist noch nicht mal geboren. Und wir fliegen noch vor Weihnachten nach Norwegen.“

„Norwegen.“ Mein Freund bleibt stehen, in einer Pfütze vor dem Prater. Die Straßenbahn quietscht. „Das wäre immerhin ein Anfang. Ein Ausgangspunkt. Wenn Charlotte diese Pizza nicht isst, mich nicht zurück will und unsere Tochter an Heiligabend ‚Clara’ getauft wird, werde ich pünktlich zu eben diesem Weihnachtsfest in See stechen. Ich habe im Netz bereits einige Stellenangebote entdeckt. Die suchen ständig junge, gut ausgebildete Leute auf ihren Walfängern.“

Walfängern?

„Klar. Glaubst du, ich fahre fast bis zum Polarkreis, um mich über Europas Scheiß-Kulturhauptstadt 2008 zu informieren?“

„Du willst ernsthaft auf einem Walfänger anheuern?“

„Was Besseres als diesen Pizzaofen finde ich überall.“

Ich muss lachen: „Ich glaube, auf so einem Schiff geht es nicht ganz so romantisch zu, wie du dir das vorstellst. Das sind heute schwimmende Fabriken. Die nehmen die gefangenen Wale sofort aus, total automatisiert, und entfernen alle ökonomisch interessanten Teile. Dabei fließt allerdings immer noch eine Menge archaisches Blut.“

„Blut muss fließen. Ist Tims Kneipe etwa romantisch? War der Sardellen-Zwischenfall romantisch? Ist eine Existenz als Pizzabäcker ohne Charlotte mit einer Tochter, die rein zufällig genauso heißt wie die Liebe meines Lebens, die übrigens rein zufällig genauso heißt wie Adolf Hitlers Mutter, romantisch?“

„Vielleicht nicht. Doch findest du es legitim, dich an den armen Walen zu rächen, nur weil du von einigen Frauen – und da schließe ich Klara Hitler ausdrücklich ein – enttäuscht wurdest?“

„Ja. Natürlich.“ Arthur öffnet die Augen. „In diesem Leben, so wie wir es erleben, bleibt einem ja gar nichts anderes übrig, als permanent von Rache zu träumen.“

„Das solltest du bei deinem Vorstellungsgespräch in Norwegen vielleicht nicht erwähnen. Ich fürchte, auf diesen hochmodernen Walfängern können sie besessene Fanatiker wie dich nicht gebrauchen. Dir wäre es immerhin zuzutrauen, so ein Schiff samt Mannschaft in deine Gewalt zu bringen und es einem völlig deplazierten privaten Rachedurst zuliebe in den Untergang zu reißen.“

„Nennt mich Captain Arthur Ahab.“

„Arthur Atta Ahab.“

„Arthur Adolf Atta Ahab. Auf hoher See zeigt sich, was für ein Mensch du bist. Salzwasser wirkt in dieser Hinsicht wie Absinth. Mein Gott, stell’ dir vor, Charlotte betrügt mich in Paris mit diesem Ari.“

Ich zucke mit den Schultern: „Lieber Ari Delon als sein Vater. Außerdem ist es technisch unmöglich, dass Charlotte dich betrügt, da sie sich ja von dir getrennt hat.“

„Nein.“ Mein Freund holt tief Luft. „Für jedes Stück dieser Pizza, das Charlotte nicht isst, wird ein Wal sterben. Und zwar qualvoll.“

Ich kenne Charlottes Wohnung nicht, sie ist erst seit März in dieser Gegend ansässig und hat mich nie eingeladen. Arthur indes hält die Augen nun geöffnet. Wenigstens das Haus, gelegen in einer Seitenstraße, sollten wir also finden – obwohl es mir mehr als zweifelhaft erscheint, dass die schöne, hochschwangere Charlotte die Tür aufmacht und spontanen Appetit auf eine Margherita verspürt.

„Was hat es eigentlich mit dieser Sophie auf sich?“ frage ich Arthur, während der Regen auf uns niederpeitscht.

„Sophie ist die Zwillingsschwester von Aarons Ex- beziehungsweise Wieder-Freundin Nathalie. Die du ja aus dem Paradise kennst.“

„Was?“

„Warum rufst du sie nicht einfach an? Vielleicht kommt sie wirklich mit nach Stavanger. Ich kann dich sowieso nicht die ganze Zeit entertainen, weil ich ja bei den verschiedenen Walfangunternehmen vorsprechen muss.“

„Und was trägt Sophie immer in dieser riesigen Tasche mit sich herum?“

„Keine Ahnung. Eine Harpune vielleicht. Ruf’ sie an, Aaron hat sicher nichts dagegen. Übrigens hab’ ich wieder eine Email bekommen, obwohl die Annonce mit der postmodernen Frau schon lange nicht mehr erscheint.“

„Von derselben Person?“

„Ich nehme es stark an. Wieder nur ein Satz: Watching you watch others move – then sometimes someone cracks down.”

„Ein Cabaret Voltaire-Zitat.“

„Nicht schlecht. Es klingt beinahe wie eine Drohung. Aber sobald ich auf dem Schiff bin, ist es mit diesen Emails sowieso vorbei.“

Ich mache mir schon meine Gedanken, wer hinter den mysteriösen Nachrichten stecken könnte. Zunächst hatte ich ja Charlotte im Verdacht, doch die plagen zur Zeit wahrlich andere Sorgen. Ich selbst bin es auch nicht. Seit Arthur und ich ständig nach Schlüsseln, Frauen oder Erinnerungen suchen, komme ich praktisch gar nicht mehr zum Schreiben. Eines ist augenfällig: Ganz gleich, wie viele Hinweise wir erhalten – die postmoderne Frau ist uns immer ein paar Pottwallängen voraus.

Mein Freund wirkt jetzt nervös: „Meinst du nicht, ich hätte vielleicht eine etwas weniger minimalistische Pizza backen sollen?“

„Ihre Schönheit liegt in ihrer Einfachheit“, sage ich. „Eine Margherita ist beinahe unberührt und bietet somit unendlich viel Potential. Im Guten wie im Schlechten.“

„Ein unberührtes Pizzaparadies. Wir könnten natürlich auch nach Tahiti gehen, wie Nicos Sohn.“

„Ari wurde dort beinahe mit einer Harpune getötet, vergiss das nicht.“ Ich schüttele den Kopf. „Und Melville saß auf Tahiti im Knast. Das ist ein gefährliches Pflaster.“

„Melville saß doch auch schon auf diesem Dach in Jerusalem, wo wir Lizzy getroffen haben.“

„Richtig. Aber er verbrachte darüber hinaus einige Zeit in einem Südseegefängnis, nachdem er auf dem Walfänger desertiert hatte. Also bevor er Moby Dick geschrieben hat. Im übrigen teile ich mir lieber eine Zelle auf Tahiti mit einem nüchternen Kannibalen als ein Jerusalemer Dach mit einer besoffenen Christin, die ständig vom Goldenen Kalb erzählt.“

„Allerdings.“ Arthur lächelt beinahe so entrückt wie Lizzy. „Tahiti muss tatsächlich ein Paradies sein. Die Menschen Polynesiens kennen vom Leben nichts anderes als seine Süße. Für sie heißt Leben Singen und Lieben.“

„Genau, deshalb ist Gauguin auch singend an der Syphillis verreckt.“

Wir sprachen vorhin schon darüber, über Gauguin und die Syphillis, als wir uns bei Starbuck’s am Hackeschen Markt in zwei großen Ohrensesseln ausstreckten und Espresso tranken. Naturgemäß hatten wir den Kaffee nicht bei Starbuck’s – das könnten wir uns gar nicht leisten –, sondern beim Bäcker nebenan gekauft, doch letzterer bietet nur ein paar Stehtische und nicht jene bequemen Ohrensessel wie man sie in fast jeder Filiale der beliebten Kaffeerösterei in allen denkbaren Variationen findet. Arthur und ich lasen Zeitung.

„Rimbaud war Waffenhändler“, sagte ich nach der Lektüre eines längeren Feuilletonparagraphen. „Wie Charlottes Vater.“

„Charlottes Vater ist kein Waffenhändler. Das heißt, er hat sein Geld sicherlich auch in dieser Branche angelegt, klar, aber ich würde ihn jetzt nicht als reinen Waffenhändler bezeichnen.“

„Rimbaud war ja ebenfalls kein reiner Waffenhändler.“

Wie Melvilles Captain Ahab, dem einst der weiße Wal das linke Bein abriss, konnte auch Arthur Rimbaud im Anschluss an seine abessinische Handelskarriere nur noch ein einzelnes Bein vorweisen – allerdings ohne Prothese aus dem Kieferknochen eines Pottwals. Für Blutrache blieb zudem keine Zeit mehr, denn kurz darauf verstarb der dichtende Waffenschieber. Das war 1891, im selben Jahr also, in dem auch Herman Melville sein namenloses Ende fand – so namenlos, dass der New York Times-Nachruf Henry Melville gedachte und Moby Dick jahrzehntelang den Status einer drittrangigen meeresbiologischen Abhandlung innehatte.

„1891“, erzählte ich Arthur und legte meinen Kopf zurück, „fährt der Maler Paul Gauguin, wie Rimbaud ein gewohnheitsmäßiger Absintheur, erstmals nach Tahiti. Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies.“

Die Südsee kommt dem Paradies aber auch nicht viel näher als das heimische Paris. Gauguin sieht nur ärmliche Wellblechhütten und von Missionaren korrumpierte Polynesier in westlichen Kleidern. Von Unschuld und idyllischer Naturerotik keine Spur. Doch Gaugin malt ein anderes Tahiti, jene Welt, die er mit geschlossenen Augen sieht, das erträumte Paradies. Er hüllt die ernüchternde Realität in leuchtende Farben. Das ist das offene Geheimnis dieser Bilder. Der Maler lässt sich später auf einer Insel namens Hiva Oa nieder. Er baut sich eigenhändig eine traditionelle Maori-Hütte, die er mit einer Vierzehnjährigen, Modell und Mutter seines Kindes, teilt. Mit Ausnahme der Kirche besitzt im Dorf allein Paul Gauguin einen Brunnen, alle anderen holen ihr Wasser direkt von der Quelle.

„Diesen Brunnen hat man nun ausgegraben“, sagte ich und nippte an meinem Espresso. „Diesen Brunnen und seinen Müll.“

Die neuen Besitzer der Hütte warfen nämlich jenen Teil von Gauguins Nachlass, der sich nicht verscherbeln ließ, in den Brunnen, den niemand mehr brauchte – unter anderem unzählige leere Absinthflaschen.

„Ein Absinthbrunnen, aus dem Leben entspringt“, bemerkte Arthur. „Wie wundervoll.“

Doch nicht nur Flaschen und enorme 35-Liter-Weinkanister fanden sich in diesem Erdloch, sondern auch allerlei Haushaltsgegenstände sowie Spritzen und Behälter, die ursprünglich Morphium enthielten. Zur Linderung der syphillitischen Torturen. Und ein Parfümflacon, irgendein Pariser Duft, mit dem Gauguin sich bis kurz vor Schluss die Inselmädchen gefügig machte.

Eigentlich begann mein Freund schon bei Starbuck’s, von Flucht zu reden.

„Wenn ich einen Wunsch frei hätte“, sagte er, „würde ich gerne mit dem Flugzeug abstürzen und unversehrt überleben. Ich wäre fortan unbesiegbar. An eben so einem Ort wie Hiva Oa, wo ich in Ruhe mein Löwenkostüm tragen und die Liebesbriefe in meinem Schuhkarton sichten und ordnen könnte. Wo ständig neue Dinge passieren – Dinge, die man nicht versteht.“

„Wie in Berlin?“ fragte ich.

„Nein, denn anders als hier wäre es kein Problem, sie nicht zu verstehen. Im Gegenteil. Wir müssten nicht mehr ständig Detektiv spielen. Es wird wirklich Zeit für einen Plan B.“

Ich nickte und sank dabei tiefer in meinen unfassbar weichen Starbuck’s-Ohrensessel.

„Stop!“ ruft Arthur, da ich noch nun ebenfalls mit geschlossenen Augen Paul Gauguin und seinem Absinthbrunnen nachsinne. Er bleibt stehen. „Das ist Charlottes Haus. Wenn sie die Pizza nicht will, weiß ich auch nicht mehr, was ich machen soll. Vielleicht schneide ich mir ein Ohr ab. Gib mir deine Hand!“

„Wieso?“

„Mach’ schon. Los. Also, falls meine Freundin mich endgültig verlassen und im Schlaf der Unvernunft ausgerechnet an Weihnachten – exakt hundert Jahre nach Klara Hitlers Tod – ein Wesen namens ‚Clara’ gebären sollte, erkläre ich hiermit, dass wir dann flüchten. Wir flüchten uns in den ewigen Absinthrausch und in eine andere, verwegenere und bessere Welt.“

Ich schaue ihn an, strecke zögernd meine Hand aus: „Ich kann dir da jetzt wirklich keine feste Zusage geben.“

In diesem Augenblick verlässt ein junger Mann Charlottes Haus. Er trägt, glaube ich, einen Kamelhaarmantel und eine dieser lächerlichen skandinavischen Wollmützen, die man am Kinn zubinden kann, und schaut uns eine Spur zu lange an.

„Wer war das?“ frage ich, während der Sturm immer stärker und der Regen zu Hagel wird.

„Ich weiß nicht.“ Arthur wirkt leicht verstört. „Ich kenne ihn, doch ich weiß nicht, woher.“

„Vielleicht von Greenpeace. Du musst da jetzt hochgehen.“

„Ja.“

„Alles in Ordnung?“

Ich mustere meinen traurigen, durchnässten Freund: Ein Walfänger sieht anders aus. In diesem Zustand würde er nicht mal eine Sardelle fangen. Wäre ich Charlotte Sevigny, würde ich möglicherweise die Tür einen Spalt weit öffnen und durch diesen Spalt hindurch ein, zwei Stücke Margherita essen.

„Nein“, sagt Arthur und reicht mir den Pappkarton. „Gar nichts ist in Ordnung. Dieses Leben ist eine Zumutung. Der Himmel fällt uns auf den Kopf. Die Südsee ist weit und die Pizza ist kalt.“

Donnerstag, 6. Dezember 2007

Dienstag, 4. Dezember 2007

Licht und Blindheit

„Berlin“, sagt David Bowie, „ist eine Stadt voller Bars für traurige, enttäuschte Menschen – das liebe ich.“ Auch im Quatro Stagione all’Inferno, wo Arthur nun als Pizzabäcker am Ofen dilettiert, herrscht einmal mehr gedrückte, wenngleich liebenswürdige Stimmung. Tim Verlaine, der Besitzer, lehnt wie immer mit seinen langen dünnen Gliedmaßen an der Bar, raucht und starrt ins Leere. Vielleicht glaubt er, wie ein Killer aus dem Film Der Clan der Sizilianer auszusehen, doch er bleibt nur ein trauriger Harlekin. Mitunter wechselt Tim die Musik oder ruft meinem schwitzenden Freund, der kurz vor einer verheerenden Eruption zu stehen scheint – nicht zuletzt, weil er bei der Arbeit ein buntes Quatro Stagione all’Inferno-T-Shirt tragen muss –, ein Kommando zu. In einer Ecke sitzt ein Paar mit einem Dackel, das Bionade trinkt. Arthur trinkt Absinth. Die Beleuchtung ist – vermutlich aufgrund von Sparzwängen – auf ein Minimum heruntergedimmt. Dies alles sehe ich durch die beschlagene, milchige Scheibe, bevor ich den Laden betrete.

Arthur blickt auf, mit finsterer Miene: „Du brauchst dich hier gar nicht blicken zu lassen. Du bist an allem schuld.“

„Hallo, Arthur! Hallo, Tim!“

„Wenn du Charlotte im Rausch nichts von Dimona erzählt hättest, wären wir jetzt noch zusammen.“

Keine Reaktion von Tim. Er lehnt am Tresen wie ein Blinder. Ein Blinder der sich zusätzlich zu seinem nicht vorhandenen Sehvermögen noch Wachs in die Ohren stopft, um die Außenwelt mit ihren Finanzbehörden, Gesundheitsämtern und geizigen Gästen komplett auszuschalten und fortan in ewiger Dunkelheit zu leben. Ich nehme auf einem Barhocker Platz und frage freundlich:

„Wie läuft denn das Pizzabacken?“

Da Arthur sich einer Antwort enthält, füge ich noch hinzu:

„Also, zunächst mal kann ich mich nicht erinnern, Charlotte von deiner Namensidee berichtet zu haben.“

„Schwachsinn! Man kann sich an alles erinnern, wenn man nur will.“

„Außerdem hättet ihr die Namensfrage sowieso bald besprechen müssen. So ein Kind darf nicht lange namenlos bleiben. Aber das ist ja ohnehin alles vollkommen egal – Charlotte hat sich ganz sicher nicht von dir getrennt, weil du eure Tochter nach einer Atomwaffenfabrik taufen wolltest. Ich hätte auch gerne einen Absinth.“

„Clara!“ Arthur schlägt die Hände über dem Kopf zusammen. „Meine Tochter wird ‚Clara’ heißen! Das ist der größte anzunehmende Unfall.“

„Es ist vor allem der größte anzunehmende Zufall. Das glaubt kein Mensch, wenn ich es aufschreibe. Weiß Charlotte wirklich nichts von Klara? Vielleicht hat sie einen alten Liebesbrief in deinem Schuhkarton entdeckt?“

„Glaubst du, wenn sie von Klara wüsste, würde sie unsere Tochter so nennen? Das wäre ja Irrsinn. Außerdem hat Klara mir nie auch nur einen einzigen Liebesbrief geschrieben.“

„Ach ja.“

Clara wird mich Papa rufen. Mein Gott, das ist der Untergang.“

„Ich gehe mir jetzt einen Schuss setzen“, sagt Tim Verlaine, bewegt sich jedoch nicht von der Stelle.

Arthur hat mir Charlottes letzten Liebesbrief gezeigt. Ihre Worte gehen mir nicht aus dem Kopf. Ich fürchte, unsere Suche ist vorbei. Sollte Charlotte wirklich wegziehen, nach Paris beispielweise, wären wir beide, Arthur und ich, wieder allein. Und ‚Clara’ wäre in der Tat ein noch absurderer Name als ‚Dimona’.

„Vielleicht kannst du ja wenigstens den Namen verhindern“, sage ich. „‚Clara’. Dafür ist es noch nicht zu spät.“

„Es ist für gar nichts zu spät. Wenn Charlotte mich wirklich liebt, kann sie mich nicht verlassen. Liebe macht blind.“

„Und Liebe vergisst nicht. Wenn sie in der Agentur kündigen kann, kann sie auch dir kündigen.“

„Nein. Nein, nein, nein! Das macht keinen Sinn. Das ist alles auch eine Folge der Schwangerschaft und dieser ständigen hormonellen Achterbahnfahrt. Scheiße!“ Arthur schreit auf, fast fällt ihm die Pizzapfanne aus der Hand. „Schon wieder! Ich habe mich heute schon dreimal an diesem verdammten Ofen verbrannt!“

„So merkst du wenigstens, dass du am Leben bist“, meint Tim. „Hast du doch selbst gesagt. Nimm nicht so viele Sardellen.“

„Genau!“ Arthurs Augen blitzen. „Ich bin noch am Leben und ich gebe nicht auf. Ich werde Charlotte eine Pizza backen.“

Ich muss, bei aller Wehmut, lachen: „Du willst sie mit einer Pizza zurückgewinnen? Nach diesem Brief?“

„Es wird ja nicht irgendeine Pizza sein. Außerdem ist es der perfekte Vorwand, bei ihr vor der Tür zu stehen, als Pizzabote sozusagen. Sie liegt ja offensichtlich zuhause im Bett.“

„Dieser Brief liest sich eher wie das Gegenteil einer Pizzabestellung bei dir.“

Tim erhebt sich seufzend: „Wenn du weiter so viele Sardellen nimmst, kann ich den Laden morgen schließen. Aber das kann ich ja sowieso.“ Er wechselt die Musik.

Drei, vier klirrende Pianotöne. Ich weiß sofort, was wir jetzt hören: die vielleicht deprimierendste Platte aller Zeiten, Lou Reeds Berlin. Der schwarze Nachfolger seines Glamrock-Albums Transformer. Doch wenn man vom Glamrock den Glamour abkratzt, Make-up und Goldlack entfernt, kommt darunter nicht einfach wieder Rock zum Vorschein, sondern eben ein Werk wie Berlin. Rock’n Roll, der durch die Hölle gegangen ist und nun erbarmungslos – mit schmutziger Sentimentalität – von diesem Ausflug erzählt. Ähnlich wie Bowie Jahre später, singt auch Lou Reed von den traurigen, enttäuschten Menschen in den Bars dieser Stadt. Berlin ist die abgründige Geschichte eines Junkie-Paares im Schatten der Mauer. Anders als Bowie, der zu „Heroes“-Zeiten eine Wohnung mit zehn schwarzgestrichenen, lichtlosen Zimmern in Schöneberg bewohnte und ab und zu wie Charlotte durch den Grunewald streifte, kannte Lou Reed Berlin überhaupt nicht. Der Titel ist eine Discounter-Metapher für alles, wofür die Stadt im Jahr 1973 vermeintlich oder tatsächlich steht: Zerrissenheit. Zorn. Sprachlosigkeit. Eifersucht. Dekadenz. Und Heroin, natürlich. Warum Selbstmord machen, wenn man diese Platte kaufen kann.

„Gute Wahl“, sage ich zu Tim. „Sehr erfrischend. Genau das, was dieser optimistische Laden braucht.“

„Was mein Laden braucht, sind Gäste, die mehr als eine Bionade trinken.“ Er gibt sich keinerlei Mühe, seine Stimme zu senken. „Oder einen Idioten, der ihn mir abkauft.“

„Eine Pizza Hawaii, bitte!“ sagt Aaron, der im selben Augenblick – wie immer milde lächelnd – das Quatro Stagione all’Inferno betritt. Sophie ist auch dabei. Sie trägt eine gigantische Tasche über der Schulter und ein paar Schneeflocken im schwarzen Haar. Ihr Gesicht ist wintergerötet. Sie lächelt ebenfalls, und zum wiederholten Mal frage ich mich, ob Aaron und diese Sophie eigentlich zusammen sind oder nicht und was sie eigentlich in ihrer Tasche hat.

„Das ist hier nicht das Paradise“, entgegnet Arthur grinsend. Im Gegensatz zu mir schafft es Aaron zuverlässig, ihn zum Lachen zu bringen. Vielleicht liegt es daran, dass die beiden nicht so eng befreundet sind. Mein Freund fährt fort: „Hier gibt’s nur allerfeinste Pfannenpizza ohne Ananas, dafür mit Dosenchampignons und all-you-can-eat-Sardellen.“

„Wenn du noch einen einzigen Schluck Absinth trinkst“, murmelt Tim, „bist du gefeuert.“

„Ich möchte auch Absinth trinken“, sagt Sophie. „Kann ich hier irgendwo mein Gepäck abstellen? Das ist die winzigste Pizzeria, in der ich jemals war.“

Der Wirt stöhnt auf, nimmt Aarons Freundin jedoch die schwere Tasche ab und stellt diese mit schmerzverzerrtem Ausdruck irgendwo hinten in der Küche ab.

„Wo ist das Narbengesicht?“ fragt Aaron. „Wo ist Charlotte?“

Arthur deutet auf die Brandnarben an seinen Unterarmen.

„Charlotte hat ihre Tage“, sagt er dann.

„Was ist denn nun eigentlich mit unserer Norwegenreise?“ will ich wissen.

„Ist praktisch alles klar. In zehn Tagen oder so geht’s los. Ich sag’ euch noch mal Bescheid. Zieht euch warm an.“

„Ich würde auch mitkommen.“ Sophie reibt sich die Hände. „Ein bisschen im Dunkeln sitzen. Den Mond anheulen. Selbstgebrannten Schnaps trinken. In Berlin hab ich zu all dem keine Lust.“

„Der Norweger von heute“, sagt Aaron, „trinkt keinen Brennspiritus mehr, sondern erlesensten Champagner. Niemand wird heute noch blind. Und das Licht ist gerade auch zu dieser Jahreszeit einfach fabelhaft.“

„Wie geht das jetzt genau?“

Ich zeige Sophie, deren apartes Gesicht noch immer glüht, wie das feuerfreie Absinthritual vonstatten geht. Wir erfreuen uns am Louche-Effekt, der das grüne Getränk milchig-undurchdringlich einfärbt und Klarheit und Vernunft in Blindheit und Delirium verwandelt.

„Komm’ doch mit“, sage ich plötzlich zu Sophie. „Nach Norwegen. Es wird bestimmt lustig. Was ist eigentlich in der riesigen Tasche, die du immer mit dir herumträgst?“

„Dieser Song handelt von Nico“, bemerkt Arthur ebenso unvermittelt, indem er recht sinnfrei auf Tims Stereoanlage deutet. Er hat uns gar nicht zugehört. „Das behauptet Charlotte jedenfalls immer. Von Nico und ihrem Sohn.“

Da das Bionade-Paar verschwunden ist und Tim Verlaine sich in der Küche versteckt, stellt mein Freund das Pizzabacken ein und setzt sich zu uns an die Theke.

„Natürlich.“ Aaron nickt. „Das ist ein Lied über Nico und Ari. Ein Abschiedsbrief. Der letzte Liebesbrief. Wobei Lou Reed ziemlich abgefuckte Liebesbriefe schreibt.“

„Dieser Sohn, den sie mit Alain Delon hatte, muss auch ziemlich abgefuckt sein“, sagt Sophie. „Wir haben ja letztes Mal mit Charlotte schon darüber gesprochen.“


„The Kids“ ist das achte und wohl unerträglichste Lied auf Berlin. Und natürlich hat Charlotte recht – zum ersten Mal fällt mir auf, dass „The Kids“ eigentlich nur von „Le Kid“ handeln kann. Oder Christian Aaron Päffgen Delon Boulogne. Wie auch immer dieses Unglückskind heißen mag. Es erzählt von Andy Warhols allerschönster Frau und Lou Reeds zeitweiliger Geliebten Nico und ihrem albtraumhaften Leben. Nicht mal die Vergewaltigung durch einen GI in ihrer Jugend wird dabei ausgespart. „That miserable rotten slut couldn't turn anyone away”, erklärt Lou mit trauernder, tonloser Häme. Und dann beschreibt er, wie der Junkie-Mutter im Song ihre Kinder weggenommen werden. Dass dabei von einer Tochter die Rede ist, spielt keine Rolle, denn Lou meint offenkundig Nicos Ari, dessen Existenz als eine Art Maskottchen der Warhol-Factory in New York auf diese Weise beendet wurde. Obwohl Alain Delon seinen Sohn niemals anerkannte, ließ ihn seine Mutter – Aris Großmutter –, die aus der Klatschpresse von den Factory-Exzessen erfahren hatte, nach Frankreich entführen, wo er nicht mehr von Nicos bunten Pillen naschen konnte. Und so kam es, dass „Le Kid“ in einem Pariser Kleinbürgervorort aufwuchs. Als Adoptivsohn eines Metzgermeisters. Delon verstieß daraufhin nicht nur seinen Sohn, sondern auch seine eigene Mutter, die trotzdem allabendlich mit Ari Alain Delon-Filme im Fernsehen schaute. „Ich habe keinen Vater“, sagt „Le Kid“ heute. Noch schlimmer: Er hat nicht mal einen Namen. Deshalb nennt er sich ‚Ari’, einfach nur ‚Ari’, so wie seine Mutter immer nur ‚Nico’ hieß und ‚Klara’ immer nur ‚Klara’.

„Diese Schreie sind ja fürchterlich“, sagt Sophie, während aus den Boxen infernalisches Kindergebrüll ertönt – Kinder, die nach ihrer Mutter rufen.

„Allerdings“, erwidert Aaron. „Das liegt daran, dass sie echt sind.“.

Der Produzent des Tracks, erläutert er, hätte auf der Suche nach einem besonders haarsträubenden Effekt seinen Kindern mal eben erzählt, ihre Mama sei bei einem furchtbaren Autounfall ums Leben gekommen. Bei den Schreien, die letztlich auf der Platte zu hören sind, handele es sich um ihre verständlicherweise entsetzte Reaktion auf diese frei erfundene Unglücksbotschaft.

Aaron nippt an seinem Absinth: „Berlin ist nicht nur Lou Reeds bestes, sondern auch sein mit Abstand zynischstes Album.“

„Ich kann mir gut vorstellen“, bemerkt Sophie, „dass Ari so geschrieen hat, als er aus der Factory in diesen Fleischerhaushalt entführt wurde. Das ist ja Kidnapping.“

„Du verbreitest mal wieder Mythen“, sage ich zu Aaron. „Der Produzent hat seine Kinder einfach nur gebeten, ein bisschen zu schreien. Deine Geschichte ist zwar gut, aber schlicht und einfach unwahr.“

Keine Zweifel gibt es hingegen daran, dass Ari, der namen- und vaterlose Sohn, nicht für immer im Haus seiner Oma in Bourg-la-Reine blieb. Jener Oma, deren zweiter Ehemann nun offiziell sein Vater war, die ihn selbst jedoch nicht adoptieren konnte, da sein leiblicher Vater, Alain Delon, ja dann zu Aris Bruder mutiert wäre. Was für ein Balagan. Ari flüchtete, noch als Teenager, zu Nico nach New York. Sie zogen weiter, Hand in Hand, Richtung Nordengland, wo Mutter und Sohn Bett und Spritzbesteck teilten. Und dort, in Manchester, traf Ari Päffgen Ian Curtis, den Sänger von Joy Division.

An keinem Ort der Welt war Nico so glücklich wie in dieser grauen, drogenverseuchten, dabei auf entfesselte Weise kreativen Stadt. Auch in Manchester gab es ja eine Factory – Tony Wilsons neugegründetes Label Factory Records. Die wahren New Romantics, die Helle und Erleuchtung in den Schattenwelten verrotteter Industrieruinen suchten. Angeregt durch den Manager seiner Mutter, Alan Wise, stand Ari eines abends vor der Tür von Ian Curtis’ Reihenhaus und fragte ihn, was der Titel „Love Will Tear Us Apart“ – der Song war offiziell noch nicht erschienen, kursierte jedoch bereits in der Stadt – bedeutete. Ian sagte es ihm. Die beiden tranken Tee und schluckten alles, was gerade im Medizinschrank parat lag. Und viel später, in der Morgendämmerung, sangen sie gemeinsam das „Deutschlandlied“ – jene Hymne, die auch bei Ians Hochzeit gespielt worden war und die Ari, der sonst kein Wort Deutsch sprach, von seiner Mutter kannte. Nico widmete das Lied bei Auftritten gerne Andreas Baader. Ari und Ian sangen „Deutschland, Deutschland über alles“, schworen sich ewige Freundschaft. Doch bereits in der Folgewoche erhängte sich Ian Curtis und Ari lag wieder mit seiner Mutter im Bett. Auch als Nico, die Nokturnen-Königin, mit schwarzem Kopftuch und schwarzen Lederhosen im gleißenden Sonnenlicht der Balearen vom Fahrrad fiel, war ihr Sohn nicht weit. Er küsste ihre Augen und kotzte. Kurz zuvor hatte sie noch mal das „Deutschlandlied“ vorgetragen, unter einem Elektromond, in der künstlichen Finsternis des Berliner Planetariums. An ihrem Grab auf dem Friedhof der Namenlosen sang Ari nun „Mütterlein“. Oder er spielte die Kassette mit der Stimme seiner Mutter ab. Niemand weiß das mehr so genau, niemand kann sich erinnern.

„Was ist danach mit Ari passiert?” fragt Sophie und rührt in ihrem Absinthglas.

„Das kann ich dir genau sagen“, erwidert Arthur seufzend. „Charlotte hat es mir tausendmal erzählt. Bevor sie mich verlassen hat.“

„Was?“

„Also, Nicos Manager, der später auch mit den verbliebenen Joy Division-Mitgliedern auf Tour ging, kümmerte sich darum, dass Ari nicht nur ihre Schulden, sondern auch ein paar Tantiemen erbte. Als Ari die ersten Tantiemenzahlungen erhielt, gab er das Geld sofort für Heroin aus. Von da an nahm er täglich ein Gramm. Er ließ sich in Paris in die Psychiatrie einweisen. Kam runter vom Junk. Dann lag ein Scheck von Velvet Underground in seinem Briefkasten, mit dem er sich ein Ticket nach Raroia leistete.“

„Raroia?“

„Das ist natürlich auf Tahiti. Dort konsumierte Ari Valium, Pot und Bier, wurde zusammengeschlagen und verhaftet und jemand versuchte, ihn mit einer Harpune zu töten. Zurück in New York, verlor er dann völlig den Verstand. Auf Staten Island fiel er von einer Getreidemühle. Seitdem hat er Unmengen Metall in seinem Körper. Im Winter, den er auf der Straße verbrachte, fiel er auch noch in den Hudson River. Jedes Mal wurde er zufällig gerettet, wie eine Katze mit neun Leben.“

„Wie sein Vater, der Leopard“, sagt Sophie.

„Er hatte kein Geld und keinen Pass. Die Polizei brachte Ari wieder in die Psychiatrie, wo er Elektroschocks bekam. Ein Freund holte ihn da raus. Dann wieder Paris. Sein Vater, dieses rechtsradikale Schwein, verstieß ihn ein weiteres Mal. Und so weiter und so fort. All the children are insane. Und außerdem schreibt Ari seit 25 Jahren an einem Roman, der Sordide Sentimental heißen soll und garantiert nie erscheinen wird.“ Arthur schlägt mit der flachen Hand auf den Tresen. „Mir wird es bald ähnlich gehen, fürchte ich, wenn meine Tochter als ‚Clara’ auf die Welt kommt. Das ist der letzte Kick, den ich noch brauche, um genau den gleichen Weg zu gehen wie Ari Delon. Obwohl meine Mutter keine teutonische Chanteuse ist.“

„Es ist erstaunlich“, sage ich, „dass Alain Delon Herzprobleme hat. Das dürfte rein biologisch gar nicht möglich sein.“

„Das ist so, als würde ich unter erektilen Störungen leiden“, meint Sophie.

Aaron flüstert beschwörend, wie er es mitunter tut: „Mahnend zieht die Nacht den Mantel vor des Unterganges Tore und die Herzen fühlen alle, wer verloren, wer gewonnen.“

„Noch jemand Absinth?“ Arthur hält die Flasche hoch. „Geht aufs Haus.“

„Nein, geht er nicht“, ruft Tim, der aus der Küche kommt. „Hier geht gar nichts aufs Haus.“ Er macht die Musik aus, die Kinder sind still, selbst Lou Reed schweigt. „Gleich kommt mein Vater“, fügt der Besitzer noch müde und beinahe ängstlich hinzu. „Er ist ein bisschen eigen.“

„Aaron, mein Freund.“ Arthur legt seinen Arm um den Paradise-Barmann. „Wenn du eine Frau mit einer Pizza zurückgewinnen wolltest, welche Pizza würdest du dann backen?“

„Das kommt auf die Frau an.“ Aaron lacht.

„Nehmen wir mal an, bei dieser Frau handelt es sich um Charlotte.“

„Was ist denn mit Charlotte?“ fragt Sophie, die ich sehr gern mal ohne Aaron und ohne Arthur in einer weniger traurigen Berliner Bar treffen würde, doch in diesem Moment geht die Tür auf, eine eisige Winterböe weht in den Raum und von draußen aus der Finsternis tritt Tims Vater humpelnd ins Quatro Stagione all’Inferno.

Sonntag, 2. Dezember 2007

Heart of Glass


David Lynch, 2007

Mittwoch, 28. November 2007

Liebesbrief


Lieber Arthur,

nach der Lektüre kannst Du auch diesen Brief in Deinem postmodernen Schuhkarton ablegen, denn trotz allem ist es ein Liebesbrief. Der letzte. Jedenfalls von mir. Du rufst jeden Tag zwanzig Mal an, doch ich nehme nicht ab. Ich will nicht telefonieren. Mit niemandem, nicht mal mit Lulu. Und schon gar nicht mit Dir. Sie hat mir natürlich erzählt, dass Du nach mir suchst – sogar im Aquarium und wahrscheinlich auch an Orten, die ich gar nicht kenne. Aber das ist sinnlos. Wirklich. Es ergibt keinen Sinn, jemanden zu suchen, der nicht gefunden werden will. Und ich will nicht gefunden werden. Ich verstecke mich, ich verkrieche mich wie eine Schlange in ihrer Höhle, weil ich es nicht ertragen kann, Dich zu sehen. Ich wünschte, es wäre anders. Ich wünschte, wir hätten uns das alles gegenseitig erspart. Ich wünschte, ich würde Dich nicht lieben.

Seit Wochen schlafe ich nicht mehr. Doch obwohl ich immer gern neben Dir gelegen habe, weiß ich jetzt, dass es mir nicht gut tut. Ich dachte, was sich so gut anfühlt, muss auch gut sein – aber das ist falsch. Das Leben mit Dir macht mich allmählich krank. Chronisch krank. Du weißt, ich brauche das Alleinsein, jedenfalls manchmal, ich brauche die Freiheit, die ich auch Dir zugestehe. Das ist nicht das Problem. Ich könnte sogar damit leben, dass Du regelmäßig flüchtest, panisch flüchtest, wenn ich Dich lieber bei mir hätte. In einem Tretboot auf der Spree, zum Beispiel. Eine Stimme, die spätestens seit Deinem spurlosen Verschwinden ins Gelobte Land immer lauter geworden ist und auf die ich nun hören muss, sagt mir jedoch, dass Du mich gerade dann alleine lassen wirst, wenn es wirklich zählt. Wenn Du da sein musst. Für mich und unsere gemeinsame Tochter. Deshalb ist es besser, wir bereiten dem Ganzen ein Ende, bevor es überhaupt dazu kommen kann.

Ich weiß nicht mal genau, was ich Dir eigentlich vorwerfen soll. Dein regelmäßiges Arschlochverhalten kann es nicht sein, daran bin ich ja gewöhnt. Deshalb trenne ich mich nicht von Dir. Mein Problem ist: Ich weiß nicht, was mit Dir los ist. Doch ich weiß, Du wirst es mir nicht sagen, niemals, und ich habe keine Lust, Detektiv zu spielen. Das geheimgehaltene Denken ist das Entscheidende. Ich glaube, auch in diesem Fall. Was mir wirklich wehtut, ist die Erkenntnis, dass ich mir von Anfang an (oder zumindest ein paar Wochen nach unserer ersten Begegnung im Flugzeug) gesagt habe: Diesen Mann will ich kennen lernen. Wirklich und wahrhaftig kennen lernen. Zwei Jahre später lautet mein Resümee: Das Projekt ist gescheitert. Erbärmlich gescheitert. Mein größter Vorwurf an Dich ist vielleicht: Du wolltest mich nie kennen lernen. Du hast es nicht mal richtig versucht. Und Du weißt bis heute nicht, wer ich bin.

Die Schuldfrage spielt eigentlich keine Rolle. Womöglich sind wir beide a pair of star-crossed lovers, wie Shakespeare das nennt, wobei die dabei freigesetzte Verzweiflung seltsamerweise nur auf meiner Seite zu finden ist. Du suchst immer nach Intensität, nach Feuer und heißem Blut, und offenbar erfülle ich Deine Ansprüche einfach nicht. Das ist traurig, aber kaum zu ändern. Es stört mich nicht mal, dass Du mit Anfang dreißig immer nur vom allerintensivsten Leben redest und keine Ahnung hast, was Du mit diesem Leben eigentlich machen willst. Damit bist Du ja nicht alleine – schau Dich mal in meiner Straße um. Es stört mich auch keinesfalls, dass Du mir mittlerweile 7000 Euro schuldest und trotzdem nur spazieren gehst und Abend für Abend nach Schnaps riechst. Behalte das Geld. Was mich stört, was mich um den Verstand bringt, ist vielmehr, dass Du Dir die Grundmisere unserer Beziehung niemals eingestehst und meine Qualen damit ins Unerträgliche verlängerst. Deshalb erledige ich das jetzt für uns beide: Ich will zu viel von Dir. Du willst zu viel vom Leben. Und nicht mal, wenn ich Dir alles gebe, was ich habe, ist es genug. So können wir nicht weitermachen. Ich kann so auf keinen Fall weitermachen. Darum dieser Abschiedsbrief.

Falls es Dich interessiert: Ich habe meinen Job gekündigt. Angesichts meines in Kürze beginnenden Mutterschaftsurlaubs bei vollen Agenturbezügen, der damit ausfällt, war es vermutlich die dümmste Entscheidung meines Lebens. Doch sie fühlt sich wie die beste an. Vielleicht ziehe ich weg aus Berlin. Ich will erst mal so wenig wie möglich mit Dir zu tun haben, aber natürlich werde ich Dir unsere Tochter nicht vorenthalten. Sei froh, dass Du mir nicht gegenübertreten musst: Ich bin fetter als jemals zuvor, habe neun Kilo zugenommen, wenigstens kotze ich nicht mehr ständig. La grossesse en enfer. Das Kind hat die Augenlider wieder geöffnet, man kann es sehen. Ich würde Dir sogar ein Bild schicken, doch ich verachte Familienalbumsonografie. Als ich nach unserem netten Racletteabend, während Du schliefest, mit Deinem besten Freund zu „Candle in the Wind“ tanzte, hat er mir besoffen ein Geheimnis verraten: Du willst das Baby „Dimona“ nennen. Vergiss es. Ich hatte erst „Anna“ ausgesucht, aber Du kennst ja das Schicksal meiner Heldin – darauf können wir verzichten. Lulu hat „Nico“ vorgeschlagen, die andere Heldin, was auch kaum besser ist. Ich habe mich nun für „Clara“ entschieden, ohne bestimmten Grund. Es gibt wenig Schlimmeres als prätentiöse Kindernamen wie Deinen, die irgendwelchen Vorbildern nacheifern. Außerdem funktioniert „Clara“ gleichermaßen im Deutschen wie im Französischen. Du solltest das erfahren, denke ich, kannst aber nichts mehr daran ändern.

Du hast mich oft gefragt, was ich eigentlich immer im Wald mache, Arthur. Erstens war ich ständig in der verfluchten Agentur und nur ein paar Mal jährlich „im Wald“. Und zweitens hätte Dich die Antwort ohnehin nicht interessiert. Wenn Dir auch nur irgend etwas an mir liegt, höre gut zu, denn jetzt sage ich Dir: Falls ich jemals wieder aus meinem Wochenbett aufstehen sollte, um einen Waldspaziergang zu machen, will ich einen Menschen auf keinen Fall in diesem Wald treffen: Dich.

Adieu.

Charlotte

Freitag, 23. November 2007

Heroes


I wish we could swim like dolphins.

Mittwoch, 21. November 2007

Charlottes Welt IV [Der Friedhof der Namenlosen]

Wir sind alle Detektive, sagt David Lynch. Sobald es dunkel wird, fragen wir uns: Was ist da? Was ist dort? Wir suchen nach Hinweisen, bis wir etwas finden. Am Ende der Straße, am Ende der Reise. Und langsam öffnet sich die Welt.

Oder der Wald. Die Teufelsseechaussee am Teufelsberg, der finstere Pfad durch den Wald.

Arthur stöhnt auf: „Ich kann nicht glauben, dass wir schon wieder hier sind. Unsere Suche ist ein einziges logistisches Debakel. Wir hätten das an Halloween erledigen sollen.“

„Du hast mir nie erzählt, wo dieser Friedhof sich befindet.“

„Mitten im Grunewald. Du hättest ja mal auf die Karte schauen können. Ein kleiner blauer Stern mitten im Wald.“

„Es wird bald Nacht.“

Irgendwie scheint unsere Suche auf mysteriöse Weise fast immer im Dunklen zu verlaufen. Der Schlüsselbund ist immerhin gefunden, wir vermissen jetzt nur noch Charlotte – diese allerdings sehr. Tim, der depressive Pizzabäcker, hat Arthur einen Tag Aufschub gewährt, bevor mein Freund dann sein neues Handwerk erlernen darf. Und genau wie an Halloween – allerdings ohne Tequila und Löwenkostüm – spazieren wir die Teufelsseechaussee entlang, am Trümmerberg vorbei, steuern geradewegs aufs Waldesinnere zu. Dort befindet sich der Friedhof der Namenlosen, der einstige Selbstmörderfriedhof Berlins, wo Nico begraben liegt und von Charlotte mitunter besucht wird. Der Wald ist nass und kalt, Arthur und ich sind leider völlig nüchtern. Die weißen Kuppeln der Abhörstation zeichnen sich in einiger Entfernung auf dem Gipfel ab.

The killer awoke before dawn, he put his boots on.
He took a face from the ancient gallery
. And he walked on down the hall.

„Ich plane ein Zweitstudium“, sagt Arthur. „an der David-Lynch-Universität auf dem Teufelsberg. Es ist exakt die Uni, von der ich immer geträumt habe.“

„Wenn es wirklich eine David-Lynch-Akademie wäre. Aber was dort entsteht, scheint mir deiner eher unangepassten Persönlichkeit nicht ganz zu entsprechen.“

„Die Sache mit dem Meditationszentrum ist doch bloß ein Trick. Ein typischer Lynch-Kunstgriff. In Wirklichkeit wird es nur um den Meister und seinen Kosmos gehen, eine ganzheitliche Lynch-Erfahrung.“ Meinen Freund ergreift nun ein beinahe religiöser Eifer: „Wie das Haus in Lost Highway wird David auch diese verfallene Abhörstation eigenhändig einrichten und neu designen. Alles wird nach seinen ästhetischen Prinzipien gestaltet sein. Wie ein Traum, in rot und schwarz, mit verborgenen Kammern und brennendem Feuer. Starlet-Tränen, verlaufener Lidschatten. Roy Orbison-Songs aus unsichtbaren Lautsprechern. Der Sternenhimmel über dem Teufelsberg.“

„Und Isabella Rossellini wird in den Unterrichtspausen feinsten Espresso servieren. Ohne dabei zu lächeln, natürlich.“

„Überall geheimnisvolle Gegenstände. Schlüssel ohne Schloss. Entstellte Menschen. Abgeschnittene Ohren. Fratzen und Visionen.“

„Wie finanziert er diese Stiftung eigentlich?“

„Mit Gucci-Werbespots. Das heißt, jedes japanische fashion victim kauft mit der neuesten Gucci-Tasche auch ein kleines Stück unseres Traums: die David-Lynch-Universität zu Berlin. Wenn irgend jemand diesen Horchposten wieder in Gang setzen kann, dann ja wohl dieser Mann. Wir würden wahrhaftig unbesiegbar sein. Wie ich es früher war.“

„Auch für die Wildschweine hätte er sicher Verwendung.“

Arthur und ich könnten noch stundenlang über die Akademie unserer Träume reden, doch wir kommen nun an einen schwarzen Tümpel, den Teufelssee am Fuß des Berges, in welchem – Charlotte zufolge – ein Schatz vergraben liegt. Wenn er sein Löwenkostüm trüge, so Arthur, würde er jetzt sofort schwimmen gehen und nach diesem Schatz tauchen, aber ohne den Schutzpelz sei er einfach nicht er selbst. Zudem hätte er sich ja bereits in der Spree ein fürchterliches Ekzem zugezogen, das immer noch nicht verheilt sei. Ich zeige auf einen Stein. Dort liegen, ordentlich gefaltet, eine Hose und eine Jacke, daneben ein Paar schlammige Motorradstiefel. Die Lufttemperatur beträgt etwa fünf Grad.

„Da!“ ruft mein Freund.

Wir trauen unseren Augen nicht: Ein älterer Herr, etwas verwildert, badend. Der Mann hat uns jetzt wohl bemerkt, er schwimmt aufs Ufer zu. Als er sich aus dem flachen Gewässer erhebt, sehen wir, dass er vollständig nackt ist, ein weißer, drahtiger Körper in der Abenddämmerung. Arthur winkt ihm zu, ohne irgendeine Reaktion zu erhalten. Der einsame Schwimmer klettert an Land. Dabei scheint er sich seiner Nacktheit in keiner Weise zu schämen. Er scheint auch nicht zu frieren. Dieser Mann könnte sechzig sein, aber auch doppelt so alt – zumal er dieses Stahlbad vermutlich jeden Abend durchwatet.

„Guten Abend“, grüßt Arthur freundlich. „Haben Sie in diesem See vielleicht irgendwo einen Schatz entdeckt?“

Der Nackte schaut uns nur verächtlich an, wie unerwünschte Eindringlinge in intimstes Territorium. Er sagt: nichts. Ich sehe: eine handgroße gezackte Narbe, die sich über seine ganze rechte Wange zieht.

„Pardon, wir wollten nicht stören“, entschuldige ich mich, während der Fremde sich langsam und mit großer Sorgfalt ankleidet, ohne Arthur und mich eines weiteren Blickes zu würdigen. „Lass uns weitergehen.“

Mein Freund zuckt mit den Achseln. Wir kehren zurück auf den Hauptweg, der vom Scheinwerferlicht eines sich nähernden Fahrzeugs schwach erleuchtet wird.

„Was für ein Freak.“

„Noch ein Narbengesicht“, bemerke ich.

„Hast du mein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche bemerkt? Ein Löwe. Der Teufelssee enthüllt unser wahres Wesen. Hey, hier dürfen doch gar keine Autos fahren.“

Gleichwohl hält in diesem Augenblick eine schwere Limousine mit verdunkelten Scheiben in etwa zwanzig Metern Entfernung. Ein Fenster wird heruntergekurbelt. Der kaum zu erkennende Beifahrer schaut heraus, auf den Teufelssee und auf uns. Vielleicht täusche ich mich, aber offenbar hält er ein Fernglas in den Händen. Reifenquietschen. Das Auto wendet und fährt davon, in die Richtung, aus der es gekommen ist.

„Was spielt sich hier eigentlich ab?“

Ich drehe mich noch mal um, das Narbengesicht ist verschwunden.

„Wir brauchen eine Fackel“, sagt Arthur. „Wie sollen wir sonst diesen Friedhof finden? Im übrigen ist mir das Narbengesicht aus dem Teufelssee immer noch lieber als meine gleichnamige Bekanntschaft. Ich habe letzte Nacht von ihr geträumt.“

„Gab es in diesem Traum vielleicht irgend welche Hinweise auf die Identität dieser Frau?“

„Das nicht. Aber ich kann mich nun, glaube ich, klarer an sie erinnern. Wobei ich nicht weiß, ob ich mich nur an den Traum erinnere oder tatsächlich an jene verlorene Nacht.“

„Der Louche-Effekt.“

Arthur seufzt: „Im Traum habe ich das Narbengesicht sogar geküsst. Und jetzt trage ich das unbestimmte Gefühl auf den Lippen, es auch im realen Leben geküsst zu haben.“

„Du hast sie geküsst?“

„Ich weiß nicht. Wirklich nicht. Da ist eine Art Nachgeschmack, der nicht verschwindet. Vielleicht ist es aber auch der Absinthgeschmack. Alles, was ich ganz genau weiß, ist folgendes: Ich will dieses Gesicht niemals wieder sehen. Niemals.“

„Womöglich wird sie schon sehr bald wieder neben dir sitzen – als Kommilitonin an der David-Lynch-Universität zu Berlin.“

„In diesem Fall könnte ich für nichts garantieren. Selbst ein Lynchmord käme dann in Betracht. Dämonen gilt es zu vertreiben.“

„Ich weiß nicht, ob ich jetzt wirklich noch tiefer in diesen Wald eindringen will.“

Aber, das ist ja nichts Neues, die Suche muss weitergehen, notfalls mit Taschenlampe. Ob wir Charlotte nun finden oder nicht, wir werden es wenigstens versucht haben. Und so folgen wir dem Pfad, den wir wohl besser nicht verlassen sollten, sonst wären wir verloren. Im Unterschied zum Teufelsberg und zum Aquarium verbinden mich mit dem Friedhof Grunewald-Forst, wie er offiziell heißt – Charlotte spricht aber immer vom „Friedhof der Namenlosen“ –, keinerlei Kindheitserinnerungen. Natürlich nicht. Welche Kinder spielen schon auf Begräbnisstätten. Selbst heute meide ich Friedhöfe, wo ich nur kann, sogar so genannte Prominentengräber. Auf unserer letzten gemeinsamen Reise durch Nordengland musste Arthur Ian Curtis allein beehren, ich trank lieber Starkbier und schaute ein Premier League-Spiel.

He went into the room where his sister lived, and...
then he
paid a visit to his brother,
and then he
walked on down the hall, and...

Doch heute bin ich gut vorbereitet: Ähnlich wie in Wien, nahe der Donauquelle, gibt es auch in Berlin einen Namenlosenfriedhof. Nicht weit davon entfernt, in der Bucht von Schildhorn, macht die Havel einen Knick, weshalb dort immer wieder Wasserleichen angespült wurden – Selbstmörder zumeist. Ganz gleich, wo man sich desperat in die Havel stürzte, eine unterirdische Strömung sorgte mit verblüffender Zuverlässigkeit dafür, dass die eigene Wasserleiche in der Schildhorner Bucht landete. Da die christlichen Kirchen diesen Menschen und ihren Familien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein offizielles Begräbnis verweigerten, musste die Forstverwaltung sich ihrer annehmen. Man beschloss also, die Toten, die keiner haben wollte, auf einer Waldlichtung zu bestatten, nahe der verfluchten Bucht. Nachdem sich diese Praxis herumgesprochen hatte, begruben einzelne Angehörige ihre Lieben einfach eigenhändig im Wald. Und manche Selbstmörder wählten mit Bedacht einen Ort in der Nähe der Lichtung für ihren Abschied aus, um ihren Familien nicht auch noch Probleme mit den Betonköpfen von der Friedhofsverwaltung zu bescheren. Doch die meisten Leichen blieben namenlos. Allmählich wurde der Namenlosenfriedhof zu einer festen Institution, es entstand ein kirchenferner Begräbnisplatz, der erst um 1928 herum eine feste Begrenzungsmauer erhielt. Nach dem zweiten Weltkrieg fanden dort nicht mehr allein Selbstmörder ihre letzte Ruhe, sondern auch Menschen, die sich diesen idyllischen Bestattungsort zu Lebzeiten selbst ausgesucht hatten. Einer dieser Menschen war Nico. Nico alias Christa Päffgen, als The Velvet Undergrounds Femme Fatale von Anfang an dem Morbiden nicht abgeneigt. Schon bei jener gleichsam in Andy Warhols Labor gezüchteten Kunstband zählte immer nur Pop, glitzernd und hell. Doch diese Helle von Velvet Underground hatte rein gar nichts mit Hoffnung und Utopien zu tun. Der Traum, den sie träumten, glich dem letzten Rest Amphetamin auf einem blinden Spiegel im Dämmerlicht des anbrechenden Tages. Und Nico schminkte sich mit Hilfe dieses Spiegels. Noch viele Jahre nach La Dolce Vita, nach Velvet Underground, klang Christa Päffgen, aufgewachsen im Spreewald, wie man sich Hildegard von Bingen auf Speed vorstellt. So seltsam sich das anhören mag: In ihrem Timbre hört man immer den Rhein – und den Tod.

„Wenn Nico schon mit 18 wusste, dass sie auf dem Namenlosenfriedhof begraben werden wollte“, frage ich, „heißt das, sie wusste schon mit 18, dass sie sich umbringen würde?“

„Sie hat sich ja nicht umgebracht. Nico ist vom Fahrrad gefallen, auf Ibiza. Herzschlag. Sie war die einzige, die ihren zwischenzeitlichen Lover Lou Reed zum Schweigen gebracht hat – mit dem Satz: ‚I cannot make love to Jews anymore.’“

„Minna Braun liegt auch auf diesem Friedhof.“

Minna Braun ist ein, vorsichtig gesagt, spezieller Fall. Eine junge Krankenschwester, die kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges leblos nahe der Havelchaussee aufgefunden wurde. Selbstmord durch Schlafmittel, sagte der Arzt. Selbstmord aus Liebeskummer, sagten ihre Freundinnen. Man brachte Minna also zum Selbstmörderfriedhof und legte sie dort in einen Sarg. Als am nächsten Tag ein Kriminalbeamter die Leiche des Mädchens untersuchen wollte, konnte er ein gewisses Erstaunen nicht verbergen: Minnas Kehlkopf bewegte sich – offenbar war das Mittel nicht hoch genug dosiert gewesen. 24 Stunden später erwachte die Scheintote im Krankenhaus aus ihrem Starrkrampf.

„Ganz Berlin“, erzähle ich, „war nach diesem Ereignis in höchstem Maße beunruhigt. Die alte Debatte: ‚Wie vermeide ich es, lebendig begraben zu werden?’ erlebte eine Renaissance. Särge mit Glasfenstern kamen in Mode.“

„Und Minna?“

„Minna Braun verdoppelte drei Jahre später die Dosis. Diesmal erfolgreich. Wieder Liebeskummer.“

„War es der selbe Mann?“

„Das weiß ich nicht. Ich fürchte fast, es war ein anderer. Sind wir gleich da?“

Arthur wirkt leicht verstört: „Wie vermeidet man es denn nun, lebendig begraben zu werden? Ich will auf keinen Fall einen gläsernen Sarg!“

Seit der befremdlichen Begegnung am Teufelssee ist uns kein Mensch mehr über den Weg gelaufen. Selbst die Wildschweine halten sich bedeckt. Das Laub raschelt, die Zweige knacken, wir folgen dem düsteren Pfad.

„Ich gebe zu“, sagt mein Freund, „dass wir vielleicht ein wenig spät dran sind. Möglicherweise hätten wir nicht bis halb zwei schlafen sollen. Charlotte war zwar mit zwölf in Nico verliebt – ich bin also gewissermaßen Nicos Nachfolger –, aber es erscheint mir eher unwahrscheinlich, dass wir sie jetzt an diesem Grab finden werden. Ah, da geht’s nach rechts.“

„Wir wollten doch niemals vom Weg abkommen.“

Ein in der Finsternis kaum zu entzifferndes Holzschild bestätigt allerdings den Führungsanspruch meines Freundes. Nach etwa dreihundert Metern erreichen wir das Friedhofstor.

Arthur lacht: „Hast du gelesen, dass Lulu einen neuen Freund hat? Delirious Dirt, Folge 173. Und im Gegensatz zu dir erfindet sie nie irgend etwas dazu.“

„Was ist mit dem Herzschrittmacher passiert?“

„Vielleicht das gleiche wie mit Minna Braun. Der neue heißt Sailor. Lulu und Sailor.“

„Ein Matrose?“ Ich spucke aus. „Was ist mit dir? Hast du zuhause irgendwelche Liebesbriefe vorgefunden?“

„Abgesehen vom Inhalt meines Schuhkartons? Nein. Nur Rechnungen. Und eine tote Maus hinter dem Herd. Natürlich nichts von Charlotte. Vielleicht hat sie mir eine Nachricht auf Nicos Grab hinterlassen.“

„Isabella Rossellini hat sich von David Lynch getrennt, nachdem sie eine tote Maus im gemeinsamen Kühlschrank gefunden hatte.“

„Für organische Strukturen gibt es wohl kaum einen besseren Aufbewahrungsort.“

Der Friedhof der Namenlosen ist nicht viel größer als ein Basketballfeld und völlig überwuchert. Keine auffälligen Monumente oder Grabschmuck, die meisten Toten hier liegen nicht nur unter der Erde, sondern werden zudem noch von schweren Tannen bedeckt. Und selbst auf einem Friedhof läuft irgendwann die Zeit ab: Viele Gräber zieren Plastikfähnchen mit der Aufschrift: „Nutzungsdauer abgelaufen. Bitte bei der Friedhofsverwaltung melden“.

„Russen“, sage ich und deute auf die fünf Andreaskreuze mit kyrillischen Buchstaben, „die vor der Oktoberrevolution geflohen waren. Sie waren so erschüttert vom Tod ihres geliebten Zaren, dass sie in Berlin sofort in die Havel sprangen.“

„Keine Ahnung, wo Nico liegt. Ich habe auf dem Friedhof Montparnasse mal stundenlang nach Beckett gesucht, ohne ihn jemals zu finden. Als wäre Beckett auch ein Namenloser. Für Gainsbourg brauchte ich nur zwei Minuten.“

Ich schiebe etwas Laub beiseite, um eine Inschrift zu lesen: Er lebte nur für uns.

„Das möchte ich nicht auf meinem Grabstein stehen haben“, sagt Arthur.

Ich möchte ihm gerade raten, sich in dieser Hinsicht nicht allzu sehr zu sorgen, doch plötzlich zucke ich zusammen: „Da drüben steht Charlotte“, flüstere ich.

„Was?“

„Da! Da hinten. Am anderen Ende.“ Ich stoße ihn an.

Es ist nicht leicht, in der Finsternis viel mehr als Schatten und Konturen auszumachen. Aber die völlig regungslose Frau, die jetzt auch mein Begleiter bemerkt, hat – wie Charlotte – langes blondes Haar und ungefähr deren Größe. Sie kehrt uns den Rücken zu.

„Das ist sie nicht“, sagt Arthur.

„Ich weiß nicht. Du kennst sie besser als ich.“

„Ich kenne sie offenbar überhaupt nicht. Lass uns da rüber gehen.“

Wir stolpern, so gut es geht, zwischen den Gräbern hindurch. Ich frage mich, ob dieser Friedhof jemals schließt.

„Das kann sie nicht sein“, zischt mein Freund ein zweites Mal.

Als wir nur noch wenige Grabsteine von dieser Frau entfernt sind, wird deutlich, dass es sich in der Tat nicht um Charlotte handeln kann. Die Dame auf dem Friedhof ist älter, ihre Haare sind blonder und länger. Außerdem ist sie in eine Art Sackkleid gehüllt, wie es Charlotte auch im achten Monat niemals anziehen würde. Sie sieht eher aus wie –

„Nico“, sagt Arthur leise.

„Kurz vor ihrem Tod.“

Jetzt hat die Fremde uns bemerkt, spätestens jetzt, und dreht sich langsam um. Sie schaut uns an mit einem völlig leeren, zugleich wissenden Blick. Ihr Make-up ist verlaufen wie nach drei durchtanzten Nächten und gibt ihrem eigentlich hübschen Gesicht ein beinahe fratzenhaftes Aussehen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie weint, in jedem Fall blutet sie aus der Nase. Nicos Haar schimmert silberblond in der Nacht. Keiner von uns dreien sagt ein Wort, Arthur und ich halten Abstand. Die Namenlose bückt sich, geht auf die Knie und entzündet mit einem Streichholz ein Licht, das eine Heiligenfigur von innen beleuchtet. Auch die in den Grabstein gemeißelten Buchstaben sind nun zu erkennen:

Margarete Päffgen
1910-1970

NICO
Christa Päffgen
1938-1980

Klein wie ein Kindergrab. Als wäre sie die Friedhofsgärtnerin und würde bloß die Blumen gießen, nimmt die Frau nun eine Weinflasche und gießt deren Inhalt über die letzte Ruhestätte von Nico und ihrer Mutter. Dann steht sie wieder auf, schaut noch mal auf das Grab und auf Arthur und mich und bewegt sich sehr langsam, mit schleppenden Schritten, Richtung Friedhofstor. Wir starren der Doppelgängerin hinterher, bis sie im Wald verschwunden ist.

„Das war wohl nicht Charlotte“, sage ich dann.

„Charlotte hätte niemals den guten Wein verschüttet. Sie hätte natürlich Bionade genommen. Schau mal, es ist die Heilige Theresia, die da jetzt leuchtet.“

„Und eine blaue Rose.“

„Diese Rose ist eindeutig schwarz.“

Blumen und Zettel, drei Weinflaschen und eine Handvoll Zigaretten bedecken das Grab, Spritzbesteck ist keines zu sehen, in einer Tanne hängt dafür ein Mango-Oberteil. Kieselsteine, wie man sie auf jüdischen Gräbern platziert – obgleich Lou Reed dereinst sicher woanders liegen wird. Doch im Vergleich zu Père Lachaise, wo Jim Morrison in einer wahren Hippie-Hölle seinen letzten Rausch ausschläft, wirkt Nicos Grunewald-Grab fast unberührt – so wie sie selbst, bei allen amourösen Exzessen, ewig unberührbar blieb.

And he came to a door...and he looked inside
Father, yes son, I want to kill you
Mother... I want to... fuck you.

Arthur kniet jetzt ebenfalls nieder und angelt sich ein zusammengerolltes Stück Papier. Nach kurzer Lektüre verzieht er angeekelt das Gesicht:

„Warum müssen diese Fan-Gedichte immer so peinlich und so abgeschmackt sein? Das hat Nico nicht verdient. Das hat nicht mal Jim Morrison verdient. Für mein eigenes Grab würde ich testamentarisch ein Poesie-Verbot erlassen. Weinflaschen, okay. Von mir aus kann jeder, der will, auf mein Grab pissen – aber bitte keine Gedichte.“

„Niemand würde dir ein Gedicht schreiben.“

„Doch. Du.“

„Mir fällt gerade auf“, sage ich und knie neben ihm nieder, „dass ‚The End’ ja nicht nur ein Doors-Song, sondern vor allem auch ein Nico-Song ist. Dieses Zitat – ‚Can you picture what will be, so limitless and free?’ –, was die potentiell postmoderne Frau dir geschickt hat, könnte sich also ebenso gut auf Nico beziehen.“

„Aha. Und wie hilft uns das jetzt weiter?“

„Es ging mir nur so durch den Kopf. Als Detektiv darf man keinen Hinweis unbeachtet lassen. Nicos Version von ‚The End’ in der Kathedrale von Reims ist jedenfalls bis heute unerreicht.“

„Zumal sie beinahe auch das Ende dieser Kathedrale bedeutet hätte. Das Bootleg der Live-Übertragung des französischen Rundfunks war jahrelang Charlottes Lieblingsplatte. Sie hat mich selten so beeindruckt wie bei unserem zweiten Treffen, als sie mir davon erzählte.“

Reims, Dezember 1974. Weihnachtszeit. Nico hat gerade das Album The End veröffenlicht, welches unter anderem das dreistrophige „Deutschlandlied“ enthält und von der Plattenfirma mit dem Slogan „Warum Selbstmord machen, wenn Sie diese Platte kaufen können?“ beworben wird. In Frankreich äußerst populär, gestalten sie und ihr Höllenharmonium nun das Vorprogramm der Berliner Avantgardisten von Tangerine Dream. Die riesige Kathedrale – akustisch der feuchte Albtraum eines jeden Sängers – ist nicht nur komplett ausverkauft, sondern völlig überbucht. Mehr als 6000 Menschen quetschen sich in den Zuschauerraum. Während der Show ist es darum unmöglich, die Kirche zu verlassen. Naturgemäß existieren innerhalb der Kathedralenmauern keine Toiletten, was dazu führt, dass einige Konzertbesucher in die Taufbecken urinieren. Und Nico steht einsam und entrückt auf der Bühne vor dem Altar. Sie verliert sich völlig in diesem Lied – „The End“, inklusive der, vorgetragen von einer Frau, eher bizarr anmutenden Ödipuspassage – und lässt Jim Morrison wie einen Schuljungen aussehen. Wie Nicos Harmonium kommt bei ihr auch dieser Song direkt aus einer grellen, kalten Hölle. Ein blinder Spiegel im Dämmerlicht des anbrechenden Tages. Lange vor Ian Curtis, der verkündet: „Love Will Tear Us Apart“, meint sie es eben genau so: Dieser Song ist das Ende. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Und obwohl sicher auch noch das eine oder andere Chagall-Fenster zu Bruch geht, hören die meisten Menschen Christa Päffgen aus dem Spreewald andächtig zu – in der Kathedrale von Reims, wo von jeher Frankreichs Könige gekrönt wurden.

„Am nächsten Tag verbot die katholische Kirche alle weiteren Popkonzerte auf Kirchengrund. Die Kathedrale von Reims wurde extra neu geweiht.“

„Charlotte hat immer gesagt, dass sie an diesem Abend überhaupt zum ersten Mal geweiht wurde.“ Noch immer knien wir vor Nicos Grab. Arthur entzündet tatsächlich die Kerze im Bauch der Heiligen Theresa, welche der Herbstwind ausgeblasen hat. „Ich muss sie unbedingt sehen“, sagt er leise.

„Komm!“ Ich klopfe meinem Freund auf die Schulter. „Ich hab’ genug von diesem Wald. Lass uns zu dir fahren. Vielleicht ist ja heute ein Brief von ihr gekommen. Dann wirst du wieder unbesiegbar sein.“

Wir springen auf, hüpfen wie Hürdenläufer über die Grabsteine, dem Ausgang zu, und folgen dem finsteren Pfad in der anderen Richtung.