Mittwoch, 21. November 2007

Charlottes Welt IV [Der Friedhof der Namenlosen]

Wir sind alle Detektive, sagt David Lynch. Sobald es dunkel wird, fragen wir uns: Was ist da? Was ist dort? Wir suchen nach Hinweisen, bis wir etwas finden. Am Ende der Straße, am Ende der Reise. Und langsam öffnet sich die Welt.

Oder der Wald. Die Teufelsseechaussee am Teufelsberg, der finstere Pfad durch den Wald.

Arthur stöhnt auf: „Ich kann nicht glauben, dass wir schon wieder hier sind. Unsere Suche ist ein einziges logistisches Debakel. Wir hätten das an Halloween erledigen sollen.“

„Du hast mir nie erzählt, wo dieser Friedhof sich befindet.“

„Mitten im Grunewald. Du hättest ja mal auf die Karte schauen können. Ein kleiner blauer Stern mitten im Wald.“

„Es wird bald Nacht.“

Irgendwie scheint unsere Suche auf mysteriöse Weise fast immer im Dunklen zu verlaufen. Der Schlüsselbund ist immerhin gefunden, wir vermissen jetzt nur noch Charlotte – diese allerdings sehr. Tim, der depressive Pizzabäcker, hat Arthur einen Tag Aufschub gewährt, bevor mein Freund dann sein neues Handwerk erlernen darf. Und genau wie an Halloween – allerdings ohne Tequila und Löwenkostüm – spazieren wir die Teufelsseechaussee entlang, am Trümmerberg vorbei, steuern geradewegs aufs Waldesinnere zu. Dort befindet sich der Friedhof der Namenlosen, der einstige Selbstmörderfriedhof Berlins, wo Nico begraben liegt und von Charlotte mitunter besucht wird. Der Wald ist nass und kalt, Arthur und ich sind leider völlig nüchtern. Die weißen Kuppeln der Abhörstation zeichnen sich in einiger Entfernung auf dem Gipfel ab.

The killer awoke before dawn, he put his boots on.
He took a face from the ancient gallery
. And he walked on down the hall.

„Ich plane ein Zweitstudium“, sagt Arthur. „an der David-Lynch-Universität auf dem Teufelsberg. Es ist exakt die Uni, von der ich immer geträumt habe.“

„Wenn es wirklich eine David-Lynch-Akademie wäre. Aber was dort entsteht, scheint mir deiner eher unangepassten Persönlichkeit nicht ganz zu entsprechen.“

„Die Sache mit dem Meditationszentrum ist doch bloß ein Trick. Ein typischer Lynch-Kunstgriff. In Wirklichkeit wird es nur um den Meister und seinen Kosmos gehen, eine ganzheitliche Lynch-Erfahrung.“ Meinen Freund ergreift nun ein beinahe religiöser Eifer: „Wie das Haus in Lost Highway wird David auch diese verfallene Abhörstation eigenhändig einrichten und neu designen. Alles wird nach seinen ästhetischen Prinzipien gestaltet sein. Wie ein Traum, in rot und schwarz, mit verborgenen Kammern und brennendem Feuer. Starlet-Tränen, verlaufener Lidschatten. Roy Orbison-Songs aus unsichtbaren Lautsprechern. Der Sternenhimmel über dem Teufelsberg.“

„Und Isabella Rossellini wird in den Unterrichtspausen feinsten Espresso servieren. Ohne dabei zu lächeln, natürlich.“

„Überall geheimnisvolle Gegenstände. Schlüssel ohne Schloss. Entstellte Menschen. Abgeschnittene Ohren. Fratzen und Visionen.“

„Wie finanziert er diese Stiftung eigentlich?“

„Mit Gucci-Werbespots. Das heißt, jedes japanische fashion victim kauft mit der neuesten Gucci-Tasche auch ein kleines Stück unseres Traums: die David-Lynch-Universität zu Berlin. Wenn irgend jemand diesen Horchposten wieder in Gang setzen kann, dann ja wohl dieser Mann. Wir würden wahrhaftig unbesiegbar sein. Wie ich es früher war.“

„Auch für die Wildschweine hätte er sicher Verwendung.“

Arthur und ich könnten noch stundenlang über die Akademie unserer Träume reden, doch wir kommen nun an einen schwarzen Tümpel, den Teufelssee am Fuß des Berges, in welchem – Charlotte zufolge – ein Schatz vergraben liegt. Wenn er sein Löwenkostüm trüge, so Arthur, würde er jetzt sofort schwimmen gehen und nach diesem Schatz tauchen, aber ohne den Schutzpelz sei er einfach nicht er selbst. Zudem hätte er sich ja bereits in der Spree ein fürchterliches Ekzem zugezogen, das immer noch nicht verheilt sei. Ich zeige auf einen Stein. Dort liegen, ordentlich gefaltet, eine Hose und eine Jacke, daneben ein Paar schlammige Motorradstiefel. Die Lufttemperatur beträgt etwa fünf Grad.

„Da!“ ruft mein Freund.

Wir trauen unseren Augen nicht: Ein älterer Herr, etwas verwildert, badend. Der Mann hat uns jetzt wohl bemerkt, er schwimmt aufs Ufer zu. Als er sich aus dem flachen Gewässer erhebt, sehen wir, dass er vollständig nackt ist, ein weißer, drahtiger Körper in der Abenddämmerung. Arthur winkt ihm zu, ohne irgendeine Reaktion zu erhalten. Der einsame Schwimmer klettert an Land. Dabei scheint er sich seiner Nacktheit in keiner Weise zu schämen. Er scheint auch nicht zu frieren. Dieser Mann könnte sechzig sein, aber auch doppelt so alt – zumal er dieses Stahlbad vermutlich jeden Abend durchwatet.

„Guten Abend“, grüßt Arthur freundlich. „Haben Sie in diesem See vielleicht irgendwo einen Schatz entdeckt?“

Der Nackte schaut uns nur verächtlich an, wie unerwünschte Eindringlinge in intimstes Territorium. Er sagt: nichts. Ich sehe: eine handgroße gezackte Narbe, die sich über seine ganze rechte Wange zieht.

„Pardon, wir wollten nicht stören“, entschuldige ich mich, während der Fremde sich langsam und mit großer Sorgfalt ankleidet, ohne Arthur und mich eines weiteren Blickes zu würdigen. „Lass uns weitergehen.“

Mein Freund zuckt mit den Achseln. Wir kehren zurück auf den Hauptweg, der vom Scheinwerferlicht eines sich nähernden Fahrzeugs schwach erleuchtet wird.

„Was für ein Freak.“

„Noch ein Narbengesicht“, bemerke ich.

„Hast du mein Spiegelbild auf der Wasseroberfläche bemerkt? Ein Löwe. Der Teufelssee enthüllt unser wahres Wesen. Hey, hier dürfen doch gar keine Autos fahren.“

Gleichwohl hält in diesem Augenblick eine schwere Limousine mit verdunkelten Scheiben in etwa zwanzig Metern Entfernung. Ein Fenster wird heruntergekurbelt. Der kaum zu erkennende Beifahrer schaut heraus, auf den Teufelssee und auf uns. Vielleicht täusche ich mich, aber offenbar hält er ein Fernglas in den Händen. Reifenquietschen. Das Auto wendet und fährt davon, in die Richtung, aus der es gekommen ist.

„Was spielt sich hier eigentlich ab?“

Ich drehe mich noch mal um, das Narbengesicht ist verschwunden.

„Wir brauchen eine Fackel“, sagt Arthur. „Wie sollen wir sonst diesen Friedhof finden? Im übrigen ist mir das Narbengesicht aus dem Teufelssee immer noch lieber als meine gleichnamige Bekanntschaft. Ich habe letzte Nacht von ihr geträumt.“

„Gab es in diesem Traum vielleicht irgend welche Hinweise auf die Identität dieser Frau?“

„Das nicht. Aber ich kann mich nun, glaube ich, klarer an sie erinnern. Wobei ich nicht weiß, ob ich mich nur an den Traum erinnere oder tatsächlich an jene verlorene Nacht.“

„Der Louche-Effekt.“

Arthur seufzt: „Im Traum habe ich das Narbengesicht sogar geküsst. Und jetzt trage ich das unbestimmte Gefühl auf den Lippen, es auch im realen Leben geküsst zu haben.“

„Du hast sie geküsst?“

„Ich weiß nicht. Wirklich nicht. Da ist eine Art Nachgeschmack, der nicht verschwindet. Vielleicht ist es aber auch der Absinthgeschmack. Alles, was ich ganz genau weiß, ist folgendes: Ich will dieses Gesicht niemals wieder sehen. Niemals.“

„Womöglich wird sie schon sehr bald wieder neben dir sitzen – als Kommilitonin an der David-Lynch-Universität zu Berlin.“

„In diesem Fall könnte ich für nichts garantieren. Selbst ein Lynchmord käme dann in Betracht. Dämonen gilt es zu vertreiben.“

„Ich weiß nicht, ob ich jetzt wirklich noch tiefer in diesen Wald eindringen will.“

Aber, das ist ja nichts Neues, die Suche muss weitergehen, notfalls mit Taschenlampe. Ob wir Charlotte nun finden oder nicht, wir werden es wenigstens versucht haben. Und so folgen wir dem Pfad, den wir wohl besser nicht verlassen sollten, sonst wären wir verloren. Im Unterschied zum Teufelsberg und zum Aquarium verbinden mich mit dem Friedhof Grunewald-Forst, wie er offiziell heißt – Charlotte spricht aber immer vom „Friedhof der Namenlosen“ –, keinerlei Kindheitserinnerungen. Natürlich nicht. Welche Kinder spielen schon auf Begräbnisstätten. Selbst heute meide ich Friedhöfe, wo ich nur kann, sogar so genannte Prominentengräber. Auf unserer letzten gemeinsamen Reise durch Nordengland musste Arthur Ian Curtis allein beehren, ich trank lieber Starkbier und schaute ein Premier League-Spiel.

He went into the room where his sister lived, and...
then he
paid a visit to his brother,
and then he
walked on down the hall, and...

Doch heute bin ich gut vorbereitet: Ähnlich wie in Wien, nahe der Donauquelle, gibt es auch in Berlin einen Namenlosenfriedhof. Nicht weit davon entfernt, in der Bucht von Schildhorn, macht die Havel einen Knick, weshalb dort immer wieder Wasserleichen angespült wurden – Selbstmörder zumeist. Ganz gleich, wo man sich desperat in die Havel stürzte, eine unterirdische Strömung sorgte mit verblüffender Zuverlässigkeit dafür, dass die eigene Wasserleiche in der Schildhorner Bucht landete. Da die christlichen Kirchen diesen Menschen und ihren Familien bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ein offizielles Begräbnis verweigerten, musste die Forstverwaltung sich ihrer annehmen. Man beschloss also, die Toten, die keiner haben wollte, auf einer Waldlichtung zu bestatten, nahe der verfluchten Bucht. Nachdem sich diese Praxis herumgesprochen hatte, begruben einzelne Angehörige ihre Lieben einfach eigenhändig im Wald. Und manche Selbstmörder wählten mit Bedacht einen Ort in der Nähe der Lichtung für ihren Abschied aus, um ihren Familien nicht auch noch Probleme mit den Betonköpfen von der Friedhofsverwaltung zu bescheren. Doch die meisten Leichen blieben namenlos. Allmählich wurde der Namenlosenfriedhof zu einer festen Institution, es entstand ein kirchenferner Begräbnisplatz, der erst um 1928 herum eine feste Begrenzungsmauer erhielt. Nach dem zweiten Weltkrieg fanden dort nicht mehr allein Selbstmörder ihre letzte Ruhe, sondern auch Menschen, die sich diesen idyllischen Bestattungsort zu Lebzeiten selbst ausgesucht hatten. Einer dieser Menschen war Nico. Nico alias Christa Päffgen, als The Velvet Undergrounds Femme Fatale von Anfang an dem Morbiden nicht abgeneigt. Schon bei jener gleichsam in Andy Warhols Labor gezüchteten Kunstband zählte immer nur Pop, glitzernd und hell. Doch diese Helle von Velvet Underground hatte rein gar nichts mit Hoffnung und Utopien zu tun. Der Traum, den sie träumten, glich dem letzten Rest Amphetamin auf einem blinden Spiegel im Dämmerlicht des anbrechenden Tages. Und Nico schminkte sich mit Hilfe dieses Spiegels. Noch viele Jahre nach La Dolce Vita, nach Velvet Underground, klang Christa Päffgen, aufgewachsen im Spreewald, wie man sich Hildegard von Bingen auf Speed vorstellt. So seltsam sich das anhören mag: In ihrem Timbre hört man immer den Rhein – und den Tod.

„Wenn Nico schon mit 18 wusste, dass sie auf dem Namenlosenfriedhof begraben werden wollte“, frage ich, „heißt das, sie wusste schon mit 18, dass sie sich umbringen würde?“

„Sie hat sich ja nicht umgebracht. Nico ist vom Fahrrad gefallen, auf Ibiza. Herzschlag. Sie war die einzige, die ihren zwischenzeitlichen Lover Lou Reed zum Schweigen gebracht hat – mit dem Satz: ‚I cannot make love to Jews anymore.’“

„Minna Braun liegt auch auf diesem Friedhof.“

Minna Braun ist ein, vorsichtig gesagt, spezieller Fall. Eine junge Krankenschwester, die kurz nach Ende des Ersten Weltkrieges leblos nahe der Havelchaussee aufgefunden wurde. Selbstmord durch Schlafmittel, sagte der Arzt. Selbstmord aus Liebeskummer, sagten ihre Freundinnen. Man brachte Minna also zum Selbstmörderfriedhof und legte sie dort in einen Sarg. Als am nächsten Tag ein Kriminalbeamter die Leiche des Mädchens untersuchen wollte, konnte er ein gewisses Erstaunen nicht verbergen: Minnas Kehlkopf bewegte sich – offenbar war das Mittel nicht hoch genug dosiert gewesen. 24 Stunden später erwachte die Scheintote im Krankenhaus aus ihrem Starrkrampf.

„Ganz Berlin“, erzähle ich, „war nach diesem Ereignis in höchstem Maße beunruhigt. Die alte Debatte: ‚Wie vermeide ich es, lebendig begraben zu werden?’ erlebte eine Renaissance. Särge mit Glasfenstern kamen in Mode.“

„Und Minna?“

„Minna Braun verdoppelte drei Jahre später die Dosis. Diesmal erfolgreich. Wieder Liebeskummer.“

„War es der selbe Mann?“

„Das weiß ich nicht. Ich fürchte fast, es war ein anderer. Sind wir gleich da?“

Arthur wirkt leicht verstört: „Wie vermeidet man es denn nun, lebendig begraben zu werden? Ich will auf keinen Fall einen gläsernen Sarg!“

Seit der befremdlichen Begegnung am Teufelssee ist uns kein Mensch mehr über den Weg gelaufen. Selbst die Wildschweine halten sich bedeckt. Das Laub raschelt, die Zweige knacken, wir folgen dem düsteren Pfad.

„Ich gebe zu“, sagt mein Freund, „dass wir vielleicht ein wenig spät dran sind. Möglicherweise hätten wir nicht bis halb zwei schlafen sollen. Charlotte war zwar mit zwölf in Nico verliebt – ich bin also gewissermaßen Nicos Nachfolger –, aber es erscheint mir eher unwahrscheinlich, dass wir sie jetzt an diesem Grab finden werden. Ah, da geht’s nach rechts.“

„Wir wollten doch niemals vom Weg abkommen.“

Ein in der Finsternis kaum zu entzifferndes Holzschild bestätigt allerdings den Führungsanspruch meines Freundes. Nach etwa dreihundert Metern erreichen wir das Friedhofstor.

Arthur lacht: „Hast du gelesen, dass Lulu einen neuen Freund hat? Delirious Dirt, Folge 173. Und im Gegensatz zu dir erfindet sie nie irgend etwas dazu.“

„Was ist mit dem Herzschrittmacher passiert?“

„Vielleicht das gleiche wie mit Minna Braun. Der neue heißt Sailor. Lulu und Sailor.“

„Ein Matrose?“ Ich spucke aus. „Was ist mit dir? Hast du zuhause irgendwelche Liebesbriefe vorgefunden?“

„Abgesehen vom Inhalt meines Schuhkartons? Nein. Nur Rechnungen. Und eine tote Maus hinter dem Herd. Natürlich nichts von Charlotte. Vielleicht hat sie mir eine Nachricht auf Nicos Grab hinterlassen.“

„Isabella Rossellini hat sich von David Lynch getrennt, nachdem sie eine tote Maus im gemeinsamen Kühlschrank gefunden hatte.“

„Für organische Strukturen gibt es wohl kaum einen besseren Aufbewahrungsort.“

Der Friedhof der Namenlosen ist nicht viel größer als ein Basketballfeld und völlig überwuchert. Keine auffälligen Monumente oder Grabschmuck, die meisten Toten hier liegen nicht nur unter der Erde, sondern werden zudem noch von schweren Tannen bedeckt. Und selbst auf einem Friedhof läuft irgendwann die Zeit ab: Viele Gräber zieren Plastikfähnchen mit der Aufschrift: „Nutzungsdauer abgelaufen. Bitte bei der Friedhofsverwaltung melden“.

„Russen“, sage ich und deute auf die fünf Andreaskreuze mit kyrillischen Buchstaben, „die vor der Oktoberrevolution geflohen waren. Sie waren so erschüttert vom Tod ihres geliebten Zaren, dass sie in Berlin sofort in die Havel sprangen.“

„Keine Ahnung, wo Nico liegt. Ich habe auf dem Friedhof Montparnasse mal stundenlang nach Beckett gesucht, ohne ihn jemals zu finden. Als wäre Beckett auch ein Namenloser. Für Gainsbourg brauchte ich nur zwei Minuten.“

Ich schiebe etwas Laub beiseite, um eine Inschrift zu lesen: Er lebte nur für uns.

„Das möchte ich nicht auf meinem Grabstein stehen haben“, sagt Arthur.

Ich möchte ihm gerade raten, sich in dieser Hinsicht nicht allzu sehr zu sorgen, doch plötzlich zucke ich zusammen: „Da drüben steht Charlotte“, flüstere ich.

„Was?“

„Da! Da hinten. Am anderen Ende.“ Ich stoße ihn an.

Es ist nicht leicht, in der Finsternis viel mehr als Schatten und Konturen auszumachen. Aber die völlig regungslose Frau, die jetzt auch mein Begleiter bemerkt, hat – wie Charlotte – langes blondes Haar und ungefähr deren Größe. Sie kehrt uns den Rücken zu.

„Das ist sie nicht“, sagt Arthur.

„Ich weiß nicht. Du kennst sie besser als ich.“

„Ich kenne sie offenbar überhaupt nicht. Lass uns da rüber gehen.“

Wir stolpern, so gut es geht, zwischen den Gräbern hindurch. Ich frage mich, ob dieser Friedhof jemals schließt.

„Das kann sie nicht sein“, zischt mein Freund ein zweites Mal.

Als wir nur noch wenige Grabsteine von dieser Frau entfernt sind, wird deutlich, dass es sich in der Tat nicht um Charlotte handeln kann. Die Dame auf dem Friedhof ist älter, ihre Haare sind blonder und länger. Außerdem ist sie in eine Art Sackkleid gehüllt, wie es Charlotte auch im achten Monat niemals anziehen würde. Sie sieht eher aus wie –

„Nico“, sagt Arthur leise.

„Kurz vor ihrem Tod.“

Jetzt hat die Fremde uns bemerkt, spätestens jetzt, und dreht sich langsam um. Sie schaut uns an mit einem völlig leeren, zugleich wissenden Blick. Ihr Make-up ist verlaufen wie nach drei durchtanzten Nächten und gibt ihrem eigentlich hübschen Gesicht ein beinahe fratzenhaftes Aussehen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie weint, in jedem Fall blutet sie aus der Nase. Nicos Haar schimmert silberblond in der Nacht. Keiner von uns dreien sagt ein Wort, Arthur und ich halten Abstand. Die Namenlose bückt sich, geht auf die Knie und entzündet mit einem Streichholz ein Licht, das eine Heiligenfigur von innen beleuchtet. Auch die in den Grabstein gemeißelten Buchstaben sind nun zu erkennen:

Margarete Päffgen
1910-1970

NICO
Christa Päffgen
1938-1980

Klein wie ein Kindergrab. Als wäre sie die Friedhofsgärtnerin und würde bloß die Blumen gießen, nimmt die Frau nun eine Weinflasche und gießt deren Inhalt über die letzte Ruhestätte von Nico und ihrer Mutter. Dann steht sie wieder auf, schaut noch mal auf das Grab und auf Arthur und mich und bewegt sich sehr langsam, mit schleppenden Schritten, Richtung Friedhofstor. Wir starren der Doppelgängerin hinterher, bis sie im Wald verschwunden ist.

„Das war wohl nicht Charlotte“, sage ich dann.

„Charlotte hätte niemals den guten Wein verschüttet. Sie hätte natürlich Bionade genommen. Schau mal, es ist die Heilige Theresia, die da jetzt leuchtet.“

„Und eine blaue Rose.“

„Diese Rose ist eindeutig schwarz.“

Blumen und Zettel, drei Weinflaschen und eine Handvoll Zigaretten bedecken das Grab, Spritzbesteck ist keines zu sehen, in einer Tanne hängt dafür ein Mango-Oberteil. Kieselsteine, wie man sie auf jüdischen Gräbern platziert – obgleich Lou Reed dereinst sicher woanders liegen wird. Doch im Vergleich zu Père Lachaise, wo Jim Morrison in einer wahren Hippie-Hölle seinen letzten Rausch ausschläft, wirkt Nicos Grunewald-Grab fast unberührt – so wie sie selbst, bei allen amourösen Exzessen, ewig unberührbar blieb.

And he came to a door...and he looked inside
Father, yes son, I want to kill you
Mother... I want to... fuck you.

Arthur kniet jetzt ebenfalls nieder und angelt sich ein zusammengerolltes Stück Papier. Nach kurzer Lektüre verzieht er angeekelt das Gesicht:

„Warum müssen diese Fan-Gedichte immer so peinlich und so abgeschmackt sein? Das hat Nico nicht verdient. Das hat nicht mal Jim Morrison verdient. Für mein eigenes Grab würde ich testamentarisch ein Poesie-Verbot erlassen. Weinflaschen, okay. Von mir aus kann jeder, der will, auf mein Grab pissen – aber bitte keine Gedichte.“

„Niemand würde dir ein Gedicht schreiben.“

„Doch. Du.“

„Mir fällt gerade auf“, sage ich und knie neben ihm nieder, „dass ‚The End’ ja nicht nur ein Doors-Song, sondern vor allem auch ein Nico-Song ist. Dieses Zitat – ‚Can you picture what will be, so limitless and free?’ –, was die potentiell postmoderne Frau dir geschickt hat, könnte sich also ebenso gut auf Nico beziehen.“

„Aha. Und wie hilft uns das jetzt weiter?“

„Es ging mir nur so durch den Kopf. Als Detektiv darf man keinen Hinweis unbeachtet lassen. Nicos Version von ‚The End’ in der Kathedrale von Reims ist jedenfalls bis heute unerreicht.“

„Zumal sie beinahe auch das Ende dieser Kathedrale bedeutet hätte. Das Bootleg der Live-Übertragung des französischen Rundfunks war jahrelang Charlottes Lieblingsplatte. Sie hat mich selten so beeindruckt wie bei unserem zweiten Treffen, als sie mir davon erzählte.“

Reims, Dezember 1974. Weihnachtszeit. Nico hat gerade das Album The End veröffenlicht, welches unter anderem das dreistrophige „Deutschlandlied“ enthält und von der Plattenfirma mit dem Slogan „Warum Selbstmord machen, wenn Sie diese Platte kaufen können?“ beworben wird. In Frankreich äußerst populär, gestalten sie und ihr Höllenharmonium nun das Vorprogramm der Berliner Avantgardisten von Tangerine Dream. Die riesige Kathedrale – akustisch der feuchte Albtraum eines jeden Sängers – ist nicht nur komplett ausverkauft, sondern völlig überbucht. Mehr als 6000 Menschen quetschen sich in den Zuschauerraum. Während der Show ist es darum unmöglich, die Kirche zu verlassen. Naturgemäß existieren innerhalb der Kathedralenmauern keine Toiletten, was dazu führt, dass einige Konzertbesucher in die Taufbecken urinieren. Und Nico steht einsam und entrückt auf der Bühne vor dem Altar. Sie verliert sich völlig in diesem Lied – „The End“, inklusive der, vorgetragen von einer Frau, eher bizarr anmutenden Ödipuspassage – und lässt Jim Morrison wie einen Schuljungen aussehen. Wie Nicos Harmonium kommt bei ihr auch dieser Song direkt aus einer grellen, kalten Hölle. Ein blinder Spiegel im Dämmerlicht des anbrechenden Tages. Lange vor Ian Curtis, der verkündet: „Love Will Tear Us Apart“, meint sie es eben genau so: Dieser Song ist das Ende. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Und obwohl sicher auch noch das eine oder andere Chagall-Fenster zu Bruch geht, hören die meisten Menschen Christa Päffgen aus dem Spreewald andächtig zu – in der Kathedrale von Reims, wo von jeher Frankreichs Könige gekrönt wurden.

„Am nächsten Tag verbot die katholische Kirche alle weiteren Popkonzerte auf Kirchengrund. Die Kathedrale von Reims wurde extra neu geweiht.“

„Charlotte hat immer gesagt, dass sie an diesem Abend überhaupt zum ersten Mal geweiht wurde.“ Noch immer knien wir vor Nicos Grab. Arthur entzündet tatsächlich die Kerze im Bauch der Heiligen Theresa, welche der Herbstwind ausgeblasen hat. „Ich muss sie unbedingt sehen“, sagt er leise.

„Komm!“ Ich klopfe meinem Freund auf die Schulter. „Ich hab’ genug von diesem Wald. Lass uns zu dir fahren. Vielleicht ist ja heute ein Brief von ihr gekommen. Dann wirst du wieder unbesiegbar sein.“

Wir springen auf, hüpfen wie Hürdenläufer über die Grabsteine, dem Ausgang zu, und folgen dem finsteren Pfad in der anderen Richtung.

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