Sonntag, 4. November 2007

Charlottes Welt III [Der Teufelsberg, Teil 1]

„Was für Barbaren!“ schimpft Arthur, während wir trunken durch den herbstgelben Wald stapfen, „Delphine kann man doch nicht essen!“

Wir haben gut gegessen, heute mittag. Weil mein Kopf noch immer glüht, wollte Arthur es sich nicht nehmen lassen, eigenhändig ein stärkendes Mahl zuzubereiten, um danach die Suche mit neuem Elan fortzusetzen: Steak Tartare, wie der Franzose sagt, aus feinstem, sehnenfreiem Rinderhackfleisch. Eigentlich esse ich ja ungern rohes Fleisch, doch Arthur meinte, es würde mir gut tun und meiner Männlichkeit zumindest nicht schaden. Und so salzte und pfefferte er das Hack, formte es portionsweise zu flachen Ballen und schuf in der Mitte eine kleine Vertiefung. In diese gab mein Freund, der selten kocht, dann aber mit Raffinesse und Passion, ein rohes Eigelb, feingehackte Zwiebeln, Sardellenfilets sowie Kapern. Vermischt wurden all diese Zutaten wenig später direkt auf dem Teller, mit einigen Litern Tabascosauce. Der Name Tatar, erklärte mir Arthur, erinnere an die Tataren, die – so die Legende – traditionell rohe Fleischstücke unter ihren Satteln mürbe ritten, um diese anschließend zu verzehren. Ich muss sagen, ich fühle mich tatsächlich besser, nicht gerade wie Dschingis Kahn, doch die Trinität aus Tabletten, Tequila und Tabasco zeitigt eine durchaus reinigende Wirkung. Jedenfalls bin ich aufgestanden, Arthur hat sich noch mal die Lippen geleckt und sein Löwenkostüm angezogen. Wann, wenn nicht an Halloween, fragte er rhetorisch, könne er endlich mal verkleidet aus dem Haus gehen, in jener Haut, in der er sich eben am wohlsten fühle, ohne dass ihn alle Welt dumm anstarre? Dem hatte ich nichts entgegenzusetzen – und kann mich folglich auch nicht beschweren, dass ich nun mit einem lachenden Löwen die Teufelsseechaussee entlang wandere. Das Raubtier trägt eine Tequilaflasche in den Pranken. In der S-Bahn haben die Leute gelacht, heute ist offenbar alles erlaubt. Wir dürfen bloß nicht dem Zoodirektor in die Arme laufen. Ich schwanke ein bisschen, fühle mich dabei tatarisch gut, und auch wenn wir Charlotte wieder nicht finden sollten, was, zugegeben, nicht ganz unwahrscheinlich ist, könnte dieser Ausflug zum Teufelsberg, dem nächsten blauen Stern auf unserer Karte, immerhin recht amüsant werden.

„Wale, okay“, murmelt Arthur erneut. „Aber Delphine? Wollen wir wirklich in dieses atavistische Land fahren?“

Seine Irritation, das sei gesagt, bezieht sich auf eine Ausgabe des Reisemagazins Merian, in der er heute morgen blätterte. Schwerpunkt: Norwegen, jenes verzauberte Reich der Trolle und der Fjorde, welches wir – Aaron sei Dank – in wenigen Wochen erkunden werden. Um die Legionen von in penetrantester Weise um das Walwohl und nichts als das Walwohl besorgten deutschen Touristen zu schocken, hieß es in dem Artikel, mache sich die norwegische Jugend einen Jux daraus, T-Shirts mit dem Aufdruck „Wenn wir Delphine hätten, würden wir die auch töten“ zu tragen. Bei meinem Freund, dem Löwen, stoßen sie damit auf wenig bis gar kein Verständnis.

„Du siehst aus wie Goleo“, sage ich.

„Nimm das sofort zurück. Das ist nicht witzig.“

„Ich nehme es nur zurück, weil man mich dann eventuell für Pille halten könnte.“

Zwar trägt Arthur, genau wie das deutsche WM-Maskottchen, keine Hose, allerdings auch kein Oberteil, was den Anblick erträglicher macht. Ich trete ihm auf den Schwanz.

Er schreit auf: „Lass das. Du machst es dir ein bisschen sehr einfach, an Halloween ganz ohne Kostüm aus dem Haus zu gehen.“

„Ich bin der Raubtierdompteur. Außerdem habe ich bisher erst zwei verkleidete Kinder gesehen.“

„Die kommen später aus ihren Löchern. Im übrigen wird die Fußballweltmeisterschaft 2006 letztlich als Schandsommer und Gräuelmärchen in die Geschichte eingehen. Das Logo war eine Schande für den Designstandort Deutschland. Das amerikanische Budweiser war eine Schande für den Bierstandort Deutschland. Und das Maskottchen, Goleo und sein debiler Freund Pille, war eine Schande für den Maskottchenstandort Deutschland.“

„Das ist wahr. Man denke nur an Waldi, den Münchner Dackel zur Olympiade ’72.“

„Was war eigentlich das Maskottchen von Berlin 1936?“

Das Stadion zum Fest der Völker ist, nebenbei bemerkt, nicht weit, auf den Spuren von Charlotte Sevigny bewegen wir uns einmal mehr in den westlichsten Randbezirken dieser Stadt.

„Deine Freundin ist ein richtiges Kind West-Berlins, kann das sein?“ frage ich.

„Wir doch auch. Aber Charlotte hat wirklich hier um die Ecke gewohnt. In einer Villa, wie sie sich nur Waffenhändler leisten können. Wir haben nachts mal zusammen eine Scheibe eingeworfen. Eine sehr große Scheibe. Es war ihre Idee.“

„Ich war als Kind auch oft auf dem Teufelsberg. Felix hat hier gewohnt, wie du weißt. Tequila, bitte.“

Zwei Rennradfahrer sausen an uns vorbei.

„Hallo!“ ruft Arthur ihnen hinterher. „Was habt ihr denn heute wieder genommen?“

Die Antwort ist eine obszöne Geste.

Mein Freund lacht dröhnend unter Maske: „O thou invisible spirit of wine, if thou hast no name to be known by, let us call thee devil.

Und während der Teufelsberg und das vorgelagerte Plateau langsam in Sichtweite geraten, kehrt die Erinnerung mit ungeahnter Wucht zurück. Der Teufelsberg, das weiß jedes Kind, ist ein Trümmerberg, eine über hundert Meter hohe Aufschüttung von Überbleibseln des Krieges und der Stadt. Es ist der höchste Berg Berlins. Ich war dort regelmäßig mit meinem blauen Drachen, den ich – das lag in der Natur des Hobbys – alle paar Wochen ersetzen musste, nirgendwo gab es so gute Winde. Beim ersten Anzeichen von etwas gemächlicher fallendem Regen im November – wohlgemerkt noch kein Schnee – gingen wir Schlittenfahren, die Schussfahrt ist sagenumwoben. Das Gelände am Rande des Grunewalds bot sich mir damals als ein einziger großer Abenteuerspielplatz dar. Später kehrte ich an diesen Ort zurück, mit meinem alten Kindergartenfreund Felix, der mittlerweile längst die London School of Economics abgeschlossen hat, diesmal allerdings zum Kiffen. Doch selbst das ist jetzt fast anderthalb Jahrzehnte her.

„Wahrscheinlich habe ich Charlotte häufig getroffen. Unbekannterweise. So oft wie sie und ich – unabhängig von einander – auf dem Teufelsberg waren.“

Unter der Löwenmaske, schätze ich, legt Arthur seine Stirn in Falten: „Ich kann mich nur an zwei Erlebnisse genau erinnern. Einmal mit diesem komischen Felix, wo wir stundenlang auf einem dunklen Parkplatz saßen und so stoned waren, dass wir Todesängste ausgestanden haben. Wegen ein paar Kaninchen und Wildschweinen und so. Und 1987. 750 Jahre Berlin. Da waren wir ebenfalls zusammen hier, auf dem Drachenhügel. Mit deinen Eltern.“

„Und einer Million anderen Menschen.“ Ich nicke. „Berlin hat damals so viele schöne Geburtstagsgeschenke bekommen. Absonderlichste Kunstwerke im öffentlichen Raum. Eine Tour de France-Etappe auf der Heerstraße. Einen Weltcup-Slalom am Teufelsberg, den ich natürlich auch gesehen habe. Aber die Chinesen übertrafen alles: Das war nicht bloß ein Feuerwerk, sondern ein pyrotechnisches achtes Weltwunder. Am Flughafen Tempelhof!“

„Und wir auf dem Teufelsberg. Deine Eltern hatten Sekt dabei. Da war ich zum ersten Mal in meinem Leben besoffen.“ Arthur seufzt. „Doch wir sollten nicht zu nostalgisch werden, es war zugleich eine beschränkte, eine bleierne Zeit. Jener verfluchten 750-Jahr-Feier haben wir auch das Nikolaiviertel im Osten und im Westen die erbarmungslose Säuberung der alten Rotlichtmeile Potsdamer Straße zu verdanken.“

„Ja“, sage ich, „es ist schon widerlich, wie steril es da heutzutage zugeht.“

Das eigentlich Faszinierende am Teufelsberg jedoch war für Felix und mich stets die Allgegenwärtigkeit des Krieges. Das kann man sich ja selbst als Erwachsener kaum vorstellen: ein richtiger kleiner Berg, modelliert aus 12 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt aus 400.000 zerbombten Häusern. Für uns Kinder in dieser angespannt friedlichen Frontstadt war so etwas jenseits jeder erfahrbaren Wirklichkeit. Obwohl ich mich als Junge nie für Kriegsspielzeug begeistern konnte, malten wir uns schaudernd aus, wie unter einer dünnen Erdschicht unzählige Panzer, Stahlhelme und Sturmgewehre nur darauf warteten, von uns ausgegraben zu werden. Felix und ich haben tatsächlich danach gegraben, mit archäologischer Akribie. Doch alles, was wir fanden, waren dreckige Windeln und latent toxischer Industriemüll. Felix’ Vater, selbst am Teufelsberg aufgewachsen, war es als Kind anders ergangen – zumindest erzählte er uns jedes Mal mit leuchtenden Augen dieselbe alte Geschichte: wie er früher direkt nach dem Krieg auf besagtem Gelände spielte, als dort noch kein Trümmerberg stand, sondern die Reste der Wehrtechnischen Fakultät, Teil des Germania-Masterplans, sich mit ihrem viergeschossigen Keller in den Boden fraßen. Er und Willi fanden eines Tages eine Wehrmachtspistole. Zwei Schuss im Magazin. Die zweite Kugel flog nur haarscharf an seinem Ohrläppchen vorbei – diesen Teil der Anekdote schmückte Felix’ Vater stets besonders gruselig aus, als Warnung vermutlich. Doch naturgemäß suchten sein Sohn und ich daraufhin beinahe täglich nach unserer eigenen Wehrmachtspistole, die irgendwo auf dem Teufelsberg versteckt sein musste.

„Meinst du nicht“, frage ich Arthur, „dass für jeden Menschen irgendwo eine geladene Waffe vergraben liegt?“

Wir steigen die steilen Holztreppen zum ersten Hügel hinauf, keuchend wie zwei pensionierte Kettenraucher. Wenigstens ist mir warm.

„Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie heiß es in diesem Kostüm ist?“

„Ich hatte fast vergessen, dass du überhaupt eins trägst. Langsam gewöhn’ ich mich daran.“

Arthur schnauft: „Wir hätten mehr rohes Fleisch essen sollen. Viel mehr. Es ist wieder eine Email gekommen.“

„Wegen der Annonce?“

„Ja. Es muss sich um ein und dieselbe Person handeln, die mir da immer schreibt. Diesmal nichts von wegen ‚Unstern’, aber wieder nur ein Satz – ein beschissenes Jim Morrison-Zitat: Can you picture what will be, so limitless and free? Verarschen kann ich mich alleine.”

„Überleg’ doch mal, gibt’s da vielleicht irgend einen Zusammenhang zu den anderen Botschaften?“

„Ist mir egal. Die Drei Fragezeichen widmen sich heute erst mal dem Teufelsberg. Die Suche nach Charlotte geht vor. Sie hat Priorität. Sie ist die allerschönste Frau.“

Vielleicht liegt es am Schnaps, vielleicht am Fieber oder an all den Illusionen, die seit 1987 wie jenes chinesische Geburtstagsfeuerwerk am Himmel über Berlin verpufft sind: Mir ist nicht wohl bei den Ermittlungen zu diesem Fall. So sehr ich es instinktiv begrüße, dass Arthur seine ganze Energie und Verwegenheit nicht mehr für unerreichbare postmoderne Prinzessinnen verschwendet, sondern sich auf die Suche nach Charlotte, der Mutter seiner Tochter, konzentriert, so skeptisch bleibe ich. Die Frage, die ich meinem Freund nicht stelle, jedenfalls nicht jetzt, lautet: Suchen wir hier wirklich nach Charlotte Sevigny? Arthur würde dies gewiss bejahen. Vielleicht glaubt er sogar daran. Doch noch in Tel Aviv, als er nach dem wilden Ian Curtis-Tanz in der Jewish Princess auf den Tresen fiel, delirierte er von seinen Klara-Träumen. Genau wie ich, obwohl ich seit Jahren nicht mehr rauche, regelmäßig von Zigaretten träume, wird Arthur das Klara-Gespenst einfach nicht los. Wir geben uns der Liebe hin, ergeben uns ihr mit Herz und Haut und Haaren, weil sie uns wenigstens fühlen lässt, wovon wir sonst nur träumen. Weil sie uns spüren lässt, was wir nicht wissen und vielleicht auch nicht finden können – egal, wie lange wir suchen. Aber möglicherweise, das kann ich schwerlich beurteilen, hat Arthurs neue Zuversicht auch mit den bevorstehenden Vaterfreuden zu tun. Ich bemerke schon einen gewissen Glanz in seinen Augen, wenn mein Freund von Dimona spricht und dabei ausnahmsweise mal keine Löwenmaske trägt. Noch ungefähr acht Wochen. Dimona könnte viel verändern – sofern Arthur sie überhaupt jemals sehen darf.

Ein älteres Ehepaar kommt uns entgegen, mustert meinen Begleiter mit verstörten Blicken.

„Guten Tag“, sagt der Löwe, erhält jedoch keine Antwort. „Hey“, er dreht sich zu mir um, „in welchem Kostüm würde Dimona wohl am großen Halloween-Vergnügen teilnehmen?“

„Vermutlich als nuklearer Sprengkörper.“

„Das wäre schon sehr fein.“

„Oder als Narbengesicht.“

„Schnauze.“

Das Plateau ist erreicht, obwohl mein Handy-Display gerade mal 15:56 Uhr anzeigt, scheint bereits der Abend anzubrechen. Winterzeit. Aus der Luft wirkt der Grunewald wie ein Flickenteppich verschiedener Herbstmuster, das fahle Oktoberlicht gibt der Stadt einen müden, zufriedenen Schimmer. Hier oben halten sich immerhin Menschen auf, wenn auch größtenteils unkostümiert, abgesehen von vereinzelten Kindern in Vampir- oder Zombieverkleidung. Fast alle lassen Drachen in die Lüfte steigen – eine der sinnlosesten, erfüllendsten Beschäftigungen diesseits des Paradieses.

„Das Beste daran“, bemerkt mein mit der rechten Pranke nach allen Seiten grüßender Freund, „das Beste daran ist die Vergeblichkeit. Schau’ mal, die Bäume. In fast jeder Baumkrone hängt ein Drachenskelett. Mal passiert es nach zehn Minuten. Mal erst nach zwei Wochen. Doch es passiert. Jedes Mal geht der Drachen verloren und das Geschrei ist groß.“

„Das kann ich nur bestätigen. Aber dann baut man eben einen neuen Drachen. Das ist das harte, doch irgendwie beglückende Los dieser Menschen. Mein eigenes Schicksal.“

„Und wenn sich so ein Drachen einmal komplett losreißt, sozusagen die Nabelschnur kappt, kommt er mit der neugewonnenen Freiheit auch nicht zurecht. Die Abhängigkeit ist also gegenseitig. Wie bei mir und der Tequilaindustrie.“

Er prostet mir zu. Wir beobachten einige Männer mittleren Alters, die ihr Hobby äußerst ernst zu nehmen scheinen. Keine Romantiker, sondern Techniker, Mechaniker, die noch die letzen Feinheiten ihres Fluggeräts – spezielle state of the art-Drachenvarianten oder ferngesteuerte Segelflugzeuge – justieren wie einen Formel 1-Rennwagen beim Boxenstopp. Selbst ein tequilatrinkender König der Löwen vermag sie in keiner Weise abzulenken. Ich wollte den Drachen immer nur fliegen sehen. Alles andere war mir egal. Wesentlich verwegener als solche Trottel sind die Gleitschirmflieger, die Paraglider, denen die Windverhältnisse auf diesem Hügel ebenfalls in die Schwingen spielen.

„Vielleicht sollte ich mit so einem Ding nach Charlotte suchen“, sagt Arthur. „Ich hänge mich dran, im Löwenkostüm, und schwebe über der Stadt. Eine Art Rasterfahndung aus der Luft.“

„Du darfst nur nicht zu nah an die Sonne fliegen.“

„Genau da liegt das Problem“, seufzt mein Freund. „Das ist mir noch jedes Mal passiert. Sieh’ nur, wie das Corbusierhaus im Abendlicht glänzt – als wäre es Teil des Reichssportfeldes.“

„Ich glaube kaum, dass Charlotte hier oben ist. Was macht sie überhaupt immer auf dem Teufelsberg?“

„Sie mag eben die Berge. Vielleicht erinnert es sie an das Chalet ihres Opas. Der hatte dieses Haus in den Schweizer Alpen.“

„Das glaubst du ja wohl selbst nicht.“

„Mann, ich weiß auch nicht. Ich hab’ manchmal das Gefühl, dass meine Freundin die Welt ganz anders wahrnimmt als ich.“

Arthur lallt bereits deutlich, als wir das Plateau überqueren.

„Das ist ja das Interessante an ihr“, fährt er fort. „Dass ich sie oft nicht verstehe und selbst, wenn ich mir Mühe gebe, ihren Blickwinkel einzunehmen, ihre Welt kennen zu lernen, es mir niemals richtig gelingen wird. Natürlich ist das immer so, mit allen Menschen. Doch bei Charlotte... Sie mag den Wald, als ob im Wald so ein großes Geheimnis verborgen wäre, was ja eigentlich gar nicht der Fall ist. Mir ist der Wald scheißegal. Charlotte hat aber definitiv ein Geheimnis – und das ist sexy.“

Ich glaube, ich verstehe was er meint. Zu etwa dreißig Prozent.

„Mag Charlotte auch Spionagefilme?“ frage ich.

Mein Freund – das vermute ich jetzt mal – lächelt unter seinem Pelz. Auf der anderen Seite der Schlucht, zwischen dem Drachenplateau und dem eigentlichen Teufelsberg, zeichnen sich die weißen, pilz- oder golfballförmigen Umrisse der verlassenen Abhörstation ab. Ich weiß nicht, was Charlottes Geheimnis ist. Doch wenn der Teufelsberg ein Geheimnis hat, muss es eng mit dieser mysteriösen Anlage verknüpft sein – soviel ist sicher. Wir purzeln beinahe einen Geröllhang herunter. Die Luft ist gut, sie brennt beim Einatmen, fast wie echte Bergluft, nur nicht so dünn. Jedenfalls bilde ich mir das ein. Auf dem menschenleeren Gipfel angekommen, umkreisen Arthur und ich zunächst das ehemals streng bewachte Areal.

„Bevor wir uns das näher anschauen“, sagt er, „muss ich mich erst mal setzen und für ein paar Minuten meinen Kopf abnehmen. Als Löwe hat man’s nicht leicht.“

Auf der Westseite des doppelt umzäunten, von allerlei Schlingpflanzen überwucherten Komplexes verläuft ein schmaler Weg. Wir setzen uns auf den kalten Waldboden. Mein Freund nimmt, wie angekündigt, die Maske ab. Mit hochrotem Kopf atmet er einige Male tief durch, ein verschwitzter Footballspieler ohne Helm zwischen zwei Spielzügen.

„Das ist ja wie der Garten Eden hier“, sage ich. „Ein englischer Garten ohne englischen Gärtner.“

„Hier werden noch Blumen gepflanzt statt Kartoffeln. Wie überall sonst in diesem verdammten Kartoffelland.“

Just another Tequila Sunset: Der Blick ins Tal ist – für Berliner Verhältnisse – atemberaubend. Das sind ja fast Peer Gynt-Landschaften, denke ich, und empfinde auf einmal ein warmes Glücksgefühl. Erstmals seit der judäischen Wüste, diesem Regenschattenland, wo wir bei durch und durch kapitalistischen Beduinen schliefen, hat die Natur wieder eine derartige Wirkung auf mich. Ich sehe ein Segelboot auf dem Wasser, die Sonne fällt in die Havel – doch diesmal ist es kein Höllenlicht wie in meinem Traum, es hat vielmehr etwas Sublimes, zu dem der goldene Tequila und das Fieber fraglos ihr Teil beitragen. Ein Western-Setting. Das Licht des Westens in Berlin, wo man noch bis kurz nach der großen Geburtstagssause mit Tour de France, Parallelslalom und Feuerwerk in allen vier Himmelsrichtungen gen Osten blickte. Wir sitzen ziemlich lange an dieser Stelle, schweigend, trinkend, ich denke an Dschingis Kahn, an Pocahontas, an Arthurs allerschönste Frau, und irgendwann, da sich der Teufelsberg langsam in Finsternis hüllt, setzt mein Begleiter den Löwenkopf wieder auf.

„So“, sagt er, „jetzt müssen wir nur noch ein Loch in diesem Zaun finden. Oder einen Tunnel graben.“

„Darf ich was fragen?“

„Klar.“

„Hältst du es auch nur ansatzweise für möglich – und ich spreche hier von einem gerade noch im Bereich des Messbaren liegenden Wahrscheinlichkeitsgrad –, dass sich deine schwangere Freundin momentan, also am Halloween-Abend, in dieser ausrangierten amerikanischen Abhörstation auf dem Teufelsberg aufhalten könnte?“

„Ich sagte doch bereits: Charlotte ist nicht wie die anderen. Sie ist, na ja, anders.“

Als ich gerade nachhaken will, hören wir plötzlich, gut vernehmbar, ein Geräusch – ein Knacken im Unterholz und eine Art Stöhnen, das man mit Worten kaum beschreiben kann. Jedenfalls ist es kein menschliches Stöhnen.

„Psst!“ zischt Arthur.

Wir erstarren.

[Der Spuk geht weiter vielleicht im nächsten Post...]

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

"Teufelsseechaussee" ist ein schönes wort.

Anonym hat gesagt…

Das finde ich auch, S.