Mittwoch, 14. November 2007

Der Louche-Effekt

Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Italiener ein. Dies hat, so sonderbar es scheinen mag, doch seine Berechtigung. Mag es zwischen beiden noch so wenig Berührungspunkte geben, sie sind einander ähnlich in dem einen, dass man mit ihnen – allerdings mit dem einen weniger als mit dem anderen – abgeschlossen hat. Man spricht von dem Indianer kaum anders als von dem „sterbenden Mann“, während jeder, der die Verhältnisse kennt, den Italiener zumindest als den „kranken Mann“ bezeichnen muss. Nur Tim sollte dies besser nicht hören, obwohl er sicher nicht widersprechen würde. Tim heißt der Inhaber der Pizzakneipe in meinem Haus, die Arthur und ich, wenn gerade mal kein rohes Fleisch im Kühlschrank ist, regelmäßig aufsuchen. Quatro Stagione all’Inferno lautet der Name des Lokals. Dabei ist Tim gar kein Italiener. Eher eine Promenadenmischung aus Italo-Amerikaner, Kroate und Kreuzberger. Bereits sein voller Name scheint verdächtig, ja, anrüchig: Tim Verlaine. Der Pizzabäcker hat ihn in einem haltlosen Moment geändert, urkundlich sogar – als Tribut an den von ihm verehrten Gitarristen, Television-Frontmann und Ex-Lover von Patti Smith Tom Verlaine. Nicht zu unrecht, meint Tim. Tim Verlaine wie Tom Verlaine hätten sich diese gegenseitige Ehrbezeugung beide redlich verdient. Seiner eigenen Post Punk-Band Friends of the Italian Opera seien damals in den Achtzigern zwar keine kommerziellen, wohl aber künstlerische Meriten beschieden gewesen. Und Bob Dylan, so der Wirt, der große Bob Dylan, hätte die Welt ja schließlich auch nicht als „Robert Zimmermann“ erobert. Bei seinem Namenswechsel handele es sich somit um eine legitime Distanzierung von der eigenen Vergangenheit, über die er weder heute, noch irgendwann sonst jemals sprechen werde. Unter den Stammgästen kursieren finsterste Gerüchte, doch keine Beweise.

„Bob Dylan“, sage ich, „ist ja auch kein Pizzabäcker.“

„Moment“, erwidert der heute unkostümierte Arthur. „Wenn ich schon Pizza backe, dann auf keinen Fall ironische Pizza. Sondern richtige Pizza.“

„Was soll denn bitte eine ironische Pizza sein?“

„Es geht darum, wie eine Pizza aussieht – und wie sie ist. Und den Graben dazwischen. Als Pizzabäcker will ich mich auch am Ofen verbrennen. So wie ich als Fußballer Gras fressen würde und als Prostituierte... na ja.“

Tim stöhnt auf: „Dieser Ofen ist heißer als die Hölle.“

Er zeigt uns die Brandnarben an seinen Unterarmen – und verfällt sofort wieder in die für ihn charakteristische, an eine Monet-Skulptur erinnernde Pose. Ich fürchte, dieser traurige Harlekin hat seit mehr als einer Woche nicht gelächelt. Außer unseren Plätzen ist keiner besetzt, was mit Tims wie eine Bleischicht auf den Tischen lastenden Depressionen und seiner offenen Abneigung Gästen gegenüber in Verbindung stehen könnte. Auch die Pizza schmeckt hier irgendwie depressiv. Sogar Türken und selbst Indianer backen bessere Pizza als Tim Verlaine. Doch im Quatro Stagione all’Inferno wird es womöglich schon morgen zu einer Revolution kommen. Arthur hat zwar nicht Charlotte, seine allerschönste Frau, wohl aber seinen Schlüsselbund und – noch verblüffender – einen Job gefunden. Probeweise zumindest. Nach dem Teufelsberg-Abenteuer wollten wir die große Suche fast schon aufgeben. Ich habe noch immer Fieberträume. Mein von seinem Missgeschick in der Abhöranlage gezeichneter Freund wirkte beinahe so deprimiert wie der Pizzabäcker – beim Ausziehen des blut- und schweißverschmierten Löwenkostüms riss er sich zudem fast ein Ohr ab. Und Charlotte? Charlotte ging nicht ans Telefon. Charlotte geht nicht ans Telefon. Es scheint mehr als fraglich, ob sie jemals wieder ans Telefon gehen wird. Von Arthurs Vision haben wir nur noch ein einziges Mal gesprochen.

„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, murmelte der müde Löwe. „So wie du übrigens auch.“

Nur wenig später jedoch fanden wir dann seinen Schlüsselbund wieder. Und das kam so:

Wir wollten eine Pizza essen gehen, im Quatro Stagione all’Inferno. Anschreiben lassen, versteht sich.

„Hier war ich auch“, sagte Arthur vor dem Eintreten, „in der verfluchten Nacht. Aber ich hab’ Tim schon nach dem Schlüssel gefragt. Er hat nur den Kopf geschüttelt. Ich weiß wirklich nicht, wo ich noch Geld herkriegen soll.“

Es ist ja keinesfalls so, dass er sich gar nicht bemühen würde. Selbst bei der Berliner Samenbank im Wedding, der einzigen Bank, wo Arthur überhaupt noch Zutritt hat, wollten sie die Dienste meines Freundes nicht in Anspruch nehmen. Vermutlich stellte er zu viele Fragen. Und für ein verdächtig hoch bezahltes pharmazeutisches Experiment, nach dem wir uns erkundigten, waren seine Leberwerte zu schlecht. „Wir möchten sie ja nicht auf dem Gewissen haben, junger Mann“, sagte die freundliche Krankenschwester und schenkte uns ein Pfefferminzbonbon.

Tims völlig leeres Lokal: Der Besitzer, Anfang vierzig, lichtes Haar, Amateur-Gitarrist, verharrte dort in der üblichen Starre auf einem Barhocker, die Zeitung fest fixierend, mit beiden Ellenbogen auf den Tresen gestützt. Er würdigte uns keines Blickes. Bryan Ferry, „More than this“, ein schmierig-schönes Liebeslied.

Arthur summte mit: „Das hab’ ich mal Karaoke gesungen. In Tokio. Oder war’s Bangkok? Hallo, Tim!“

„Hi, Tim!“

Keine Antwort.

„Es wurde was für dich abgegeben, Arthur“, sagte Tim Verlaine dann müde. „Hier.“

Er legte das Fundstück auf den Tisch – ein Joy Division-Schlüsselband, Arthurs Schlüsselbund, den ich seit Wochen auf dem Grund der Spree gewähnt hatte. Wir waren naturgemäß sprachlos.

„Wo hast du den denn auf einmal her?“ fragte mein Freund.

„Diese Frau hat ihn abgegeben. Die Frau, mit der du hier warst. Die mit dem Narbengesicht.“

„Scheiße.“

„Wie kommt die bitte zu deinem Schlüssel?“ wollte ich wissen.

„Sie meinte, sie wüsste auch nicht, wie der Schlüssel in ihre Tasche käme, aber es hätte vielleicht irgend was mit meinem Laden zu tun. Wenn ich diese Psychopathin mit ihrem Spazierstock noch einmal hier sehe, kriegt ihr beide Hausverbot. Die vergrault mir die Gäste.“

„Du hast keine Gäste“, sagte ich.

„Das stimmt. Und ich hab’ auch keinen Pizzabäcker mehr. Der sitzt in Untersuchungshaft.“

„Hey, Tim“, rief Arthur, nun deutlich besserer Stimmung: „Vielleicht könnte ich das ja machen.“

„Du müsstest schon sehr viele Pizzen backen, unmenschlich viele, um deine Schulden hier zu bezahlen.“

Ich fürchte, Tim ahnte nicht mal, wie eng sich die Schlinge um meinen Freund inzwischen zugezogen hat. Da er seit Wochen seinen Briefkasten nicht leeren konnte, erhält er jetzt fast stündlich Anrufe von Blutsaugern und potentiellen Schlägertypen. Selbstredend schuldet Arthur mir zudem das Geld für den Heimflug aus Israel sowie mehr als zweihundert Biere – und Charlotte in etwa den Gegenwert einer Reise zum Saturn.

„Mein Gott“, sagte Arthur, „ich wollte heute morgen schon eine Kettensäge kaufen, um endlich meine Tür zu öffnen. Bei Aldi sind die gerade im Angebot.“

„Mit einer Kettensäge“, erwiderte Tim ernst, „wird man wohl kaum eine Wohnungstür aufkriegen. Aber du kannst es ja mal versuchen.“

„Jetzt hab’ ich ja meinen Schlüssel wieder.“

„Ich glaube, er meint das Pizzabacken.“

„Ernsthaft?“

Tim nickte traurig: „Komm’ doch morgen um vier mal vorbei.“

Er öffnete die Tür, der eisige Novemberwind fuhr in den pizzaofenwarmen Raum und wehte ein paar Blätter herein.

Ich murmelte: „Seufzer gleiten die Saiten des Herbsts entlang, treffen mein Herz mit einem Schmerz dumpf und bang.“

„Ich habe meinen Schlüssel wieder“, sagte Arthur, „und ich habe einen Job.“

Während Tim an der Bar brütet und bisweilen die Musik wechselt, sitzen wir daneben, verdauen versalzene Pizza und trinken auf die glückliche Fügung. Nach Roxy Music spielt der Wirt nun wieder Television: Tom Verlaine und Richard Lloyd duellieren sich förmlich mit ihren Gitarren, wobei die Instrumente keine Pistolen sind, sondern Floretts, die präzise ins Herz treffen wie die Saitenseufzer des Herbstes. Die berühmte Live-Aufnahme aus Brüssel.

„Wenn ich wieder in meine Wohnung kann, habe ich auch endlich meinen Schuhkarton wieder. Sonst ist mir ja nicht viel geblieben.“

„Vielleicht findest du sogar neue Liebesbriefe in deinem Briefkasten.“

„Ja, vermutlich hat Charlotte einen Sammelband mit herzzerreißenden Elogen auf mich verfasst.“

„Was ist mit der postmodernen Frau? Die Email mit dem Doors-Zitat?“

Arthur zuckt mit den Schultern: „Die postmodernste Frau ist mir egal. Sie war mir schon immer egal.“

„War Scarface eigentlich sehr postmodern?“

„Ich sag’ es jetzt zum letzten Mal: Ich kann mich weder erinnern, wo und wie ich diese Dame kennen gelernt habe, noch wer sie ist. Ich war gerade aus der Spree gestiegen und geistig ein wenig angegriffen.“

„Das kann ich so nicht glauben.“

„Okay, irgendwas ist da in meinem Gedächtnis. Die Frau sehe ich schon, aber keine Narben und erst recht keinen Spazierstock. All diese Erinnerungsfragmente sind durch keinerlei Bänder verknüpft. Weißes Rauschen. Nebel. Tausend Frequenzen zugleich oder keine. So muss sich ein Alzheimer-Patient fühlen.“

„Wir müssen dir unbedingt auf die Sprünge helfen. Wer weiß, vielleicht finden wir dann auch Charlotte.“ Ich winke Tim. „Womöglich haben wir im Paradise einfach nur das falsche Getränk gewählt. Ramazotti kann es nicht gewesen sein. Was hast du in jener Nacht noch getrunken?“

Arthur überlegt: „Bier. Bier. Und Bier. Whiskey, glaube ich.“

„Und eine halbe Flasche Absinth“, wirft Tim plötzlich ein.

„Was?“

„Klar. Zusammen mit deiner Begleitung. Eine Runde nach der anderen.“

„Dann ist also gar nicht das Pulver für meinen Filmriss verantwortlich, sondern der Absinth! Oder vielmehr: für diesen Film in meinem Kopf, der lauter Dinge zeigt, die gar nicht passiert sein können.“

„Natürlich“, erwidert Tim, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich hab’ das mal studiert: Absinth macht kriminell, führt zu Wahnsinn, Epilepsie und Tuberkulose. Aus dem Mann macht Absinth ein wildes Biest, aus Frauen Märtyrerinnen und aus Kindern Debile. Und Familien zerstört er sowieso. Schau’ mich an. Mich und meinen Laden.“

„Wir hätten gerne zwei“, sage ich.

„Vielleicht sollten wir lieber Bionade trinken. Nachdem ich vor kurzem noch dachte, die Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem man niemals vertrieben werden kann, glaube ich jetzt, sie ist die Hölle.“

„Dann werden wir gemeinsam durch die Hölle gehen.“

„Ja, ja. Wie trinken wir ihn?“

„Auf keinen Fall das Feuerritual“, sage ich.

Noch so ein böses Souvenir: Prag, Mitte der neunziger Jahre. Schon damals war jeder einzelne Pflasterstein touristenverklebt. Diese Altstadt bringt es fertig, dass man irgendwann sogar Kafka verabscheut. Arthur und ich, Teenager auf Interrail-Tour durch den Osten, flüchteten also vor zahnlosen Huren und Auftragskillertaxifahrern in die Trabantensiedlungen an der Peripherie. Natürlich fanden wir dort ein anderes Prag, mein Freund liebt ja ohnehin den Beton. Wir tanzten in den anrüchigsten Diskotheken. Und in einem dieser Clubs tranken wir, gemeinsam mit zwei gutgelaunten Vorstadtpragerinnen, Absinth. Dabei bedienten wir uns der so genannten „tschechischen Trinkweise“, man will sich schließlich auch assimilieren. Runde um Runde legten wir ein, zwei in Wermutlikör getränkte Zuckerstücke auf einen Absinthlöffel und zündeten ihn an. Sobald der Zucker karamellisierte und Blasen warf, löschten wir die Flammen und schütteten das Ganze in den Absinth, der sich daraufhin in spektakulärer Manier entzündete. Arthur und ich konnten gar nicht genug davon bekommen. Doch zu vorgerückter grüner Stunde – Lena und Mascha schunkelten gerade zu Alphaville-Klängen – waren wir dermaßen blau, dass wir bei diesem Prozedere immer wieder einige Tropfen verschütteten. Auf den Boden. Über unsere Hände. Und plötzlich – bei „Big in Japan“ – fing meine rechte Hand Feuer. Sie stand lichterloh in Flammen, als hätte ich sie mit Benzin übergossen. Während die Tschechen rundherum hysterisch lachten, fiel ich beinahe in Ohnmacht, bis es mir endlich gelang, meine brennenden Finger zu löschen. Noch Wochen später bot diese Hand einen grauenhaften Anblick. Zum Glück wollte ich nie Pianist werden. Die Erinnerung, das steht fest, kann durchaus ein Inferno sein.

„Einmal das Feuerritual, bitte“, sagt Arthur zu Tim. „Ich werde mich sowieso noch an deinem Pizzaofen verbrennen. So spürt man wenigstens, dass man am Leben ist.“

„Kommt nicht in Frage. Ich bin nicht versichert. Hier wird nach der französischen Tradition getrunken.“

Er stellt drei Gläser des smaragdgrünen Elixiers auf den Tisch.

„Wie schön“, sage ich. „Es gibt wirklich kaum etwas Poetischeres als diese Farbe.“

„Hier sind die Löffel. Ich brauch’ jetzt auch einen.“

Tim, der zwar eine miserable Pizza fertigt, aber ansonsten im gesamten Bezirk für seinen Perfektionismus bekannt ist, besitzt tatsächlich echte Absinth-Löffel. Wir platzieren also jeweils ein Stück Würfelzucker auf dem Löffel und träufeln aus einem Pastis-Kännchen etwas Wasser darüber. Beim Umrühren im Glas trübt sich das klare Getränk sofort milchig.

„Ich liebe diesen Effekt“, sagt Arthur. „Aber er macht mir auch Angst. Etwas eigentlich relativ Klares wird plötzlich undurchsichtig und geheimnisvoll. Genau wie mein Gedächtnis. Es ist, als wären alle meine Erinnerungen aus jener Absinth-Nacht hinter einer Milchglasscheibe verborgen. Ganz ähnlich geht es mir übrigens mit der Zukunft.“

„Das offizielle Getränk für eine bessere Welt.“

„Wenn das so weitergeht, kann ich den Laden bald zumachen. Die ganze Saison war die Hölle.“

Wir stoßen an. Diesmal steht einzig meine Kehle in Flammen.

„Hast du dich damals eigentlich in ‚Tim Verlaine’ umbenannt, weil du in Patti Smith verknallt warst?“ will Arthur wissen.

„Ich war in Toms Gitarrenspiel verliebt, sonst nichts. Die Musik ist wichtiger als alles andere.“

„Und Patti“, sage ich, „hat ohnehin nur schwule französische Dichter begehrt. Und Mick Jagger.“

„Vielleicht kaufe ich diese Kettensäge trotzdem. Jetzt, wo ich mein erstes Glas Absinth getrunken habe, erscheint mir das plötzlich als eine hervorragende Idee.“

„Was macht dein Gedächtnis?“

„Ich sehe eine Art Saturn-Nebel. Einen planetarischen Saturn-Nebel. Milchig und undurchsichtig. Ein Tagebuch, das in saturnischen Versen verfasst ist, die niemand versteht. Oder zumindest auf japanisch. Keiner kennt die Übersetzung.“

„Außer dem Narbengesicht, vielleicht. Hatte sie die Narben eigentlich schon vor oder erst nach dem Absinthgenuss? Habt ihr mit dem Feuer gespielt?“

„Wenn das so weitergeht, kann ich bald zumachen“, klagt Tim.

„Ab morgen bin ich ja hier und backe Pizza.“

„Eben.“

„Wir sollten mehr Absinth trinken“, sage ich. „Und morgen gehen wir auf diesen Waldfriedhof. Den Friedhof der Namenlosen.“

Mir ist so warm wie lange nicht. Das geht mir immer so im Quatro Stagione all’Inferno, selbst ohne Grüne Fee. Auf einmal glaube ich, dass wir Charlotte finden werden.

„Das wäre der richtige Ort für mich“, sagt Tim Verlaine. „Der Friedhof der Namenlosen. Ich bin ein kranker, sterbender Mann. Wie wär’s mit einem kleinen Feuerritual?“

1 Kommentar:

Super_Mark hat gesagt…

Kein Italiener, niemals, würde sich jemals "Tim" nennen.