Mittwoch, 7. November 2007

Charlottes Welt III [Der Teufelsberg, Teil 2]

„Was war das?“ flüstere ich.

Rundherum ist alles dunkel. Einige Äste ächzen im Wind.

„Keine Ahnung. Aber jetzt hört man nichts mehr.“

„Es klang wie ein Stöhnen.“

„Dieser teuflische Berg ist zaubertoll“, sagt Arthur, der nun wieder sein Kostüm trägt. „Vor allem an Halloween. Heute ist alles möglich. Aber sollte das ein Tier gewesen sein, so stehen die Chancen, dass es in der Tier-Hierarchie über mir, dem Löwen, steht, relativ gering.“

„Und wenn es kein Tier war?“

„Dann war es vermutlich Charlotte und alles wird gut.“

Ich nehme einen großen Schluck Tequila. Mein Freund und ich befinden uns noch immer auf dem Teufelsberg, an diesem mit NATO-Draht gesicherten Zaun, der die verlassene und allmählich vom Grünzeug geschluckte Abhörstation vor ungebetenen Besuchern schützt. Ich hätte nicht gedacht, dass es in Berlin so dunkel werden kann – und das bereits am frühen Abend. Die Stadt erhellt zwar den Himmel, doch hier, auf dem Gipfel, herrscht beinahe vollkommene Finsternis. Selbst Arthurs Raubtierkonturen kann ich nur schemenhaft erkennen. Von der zugewachsenen Spionageanlage sehen wir gar nichts, einzig die irgendwie arktisch anmutende weiße Kuppel ist in der Dunkelheit auszumachen.

„Komm’, wir müssen auf die andere Seite – da sind manchmal Löcher im Zaun. Geheimtipp von Aaron.“

I wasn't lookin', but somehow you found me

Als Agent des Chaos Computer Clubs und Connaisseur anachronistischer Fernmeldetechnik hat Aaron eine Fülle an Informationen über diese schattenhafte Station gesammelt und sie eines nachts im Paradise mit uns geteilt. Doch die Festplatte in meinem Kopf braucht keinen Hacker: Als ich meinen blauen Drachen – präziser: einen der 47 blauen Drachen, die ich im Laufe der Jahre verschliss, sie waren immer blau – auf dem Drachenhügel steigen ließ, war diese von der NSA, dem amerikanischen Nachrichtendienst, betriebene Spionageeinrichtung noch online. 1500 Abhörspezialisten horchten dort rund um die Uhr. Während wir Kinder mit dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gelände nur indirekt in Berührung kamen, war der Kalte Krieg also mit Händen greifbar. Meine erste Erinnerung an die Station ist ein Wandertagsausflug, der uns auf Umwegen, die von den Lehrkräften wohl nicht geplant gewesen waren, auch zu diesem Stacheldrahtdoppelzaun führte. Schäferhunde und GIs mit Maschinenpistolen, grimmige Gesichter. Nirgendwo sonst in Berlin durften amerikanische Soldaten mit scharfen Waffen patrouillieren, nur hier. Ansonsten lief der tägliche Betrieb eher unauffällig ab und die wenigsten Spione trugen Schlapphüte. Rund um den Teufelsberg waren nie Militärfahrzeuge zu sehen – heute erscheint es mir nicht unwahrscheinlich, dass die autarke Station aus der Luft versorgt wurde. Seltsame Zeiten. Der Teufelsberg erwies sich für die NSA jedenfalls als optimaler Standort, um die Staaten des Warschauer Paktes (und zweifellos auch die BRD) mit glühenden Ohren abzuhören – zumal es, wie gesagt, nur eine Himmelsrichtung gab: den Osten. Die hier stationierten Einheiten seien so erfolgreich gewesen, resümierte Aaron im Paradise seinen Bericht, dass sie die so genannte „Travis Trophy“, eine Art Meisterschale der Fernmeldeaufklärer, gleich zweimal gewinnen konnten. Ich frage mich, wo dieser Pokal heute steht, da die Anlage vergessen wurde – allerdings nicht von meinem Freund und mir. Vergeblich suchen wir Charlotte, vergeblich suchen wir Arthurs Schlüssel und sein verlorenes Kurzzeitgedächtnis – und finden stattdessen all das, was wir niemals vergessen werden.

„Erinnerst du dich, was Aaron über das Riesenrad gesagt hat?“ fragt er.

„Nein.“

Wir schleichen durchs Gebüsch, am Zaun entlang.

„Also, eines Tages bemerkten die Spione hier, dass sich gewisse Signale zu einer bestimmten Jahreszeit zwei Wochen lang viel besser empfangen ließen. Sie wussten aber nicht, warum. Irgendwann fiel einem besonders schlauen Schlapphut jedoch auf, was genau zu diesem Zeitpunkt immer stattfand: das Deutsch-Amerikanische Volksfest nämlich. Und das Riesenrad dort wirkte für einzelne Frequenzen offenbar wie eine Art Verstärker. Daraufhin blieb es dann Jahr für Jahr einfach ein bisschen länger stehen, es wurde einfach ein bisschen länger gefeiert. Das dumme Volk hat sich gefreut.“

„Das heißt, während wir in aller Unschuld mit unseren nach Himbeerkaugummi duftenden Mitschülerinnen in einer romantischen Riesenradgondel saßen, wurden wir von heimtückischen Agenten des Kalten Krieges als Resonanzkörper missbraucht?“

„Exakt. So wie ich dich missbrauchen werde, wenn du mir noch einmal auf den Schwanz trittst.“

„Pardon“, sage ich, „es ist ein bisschen dunkel hier oben. Aaron meinte auch, dass sich Amerikaner und Briten die Anlage teilten und ziemlich reibungslos zusammenarbeiteten. Nur die Toilettenfrage lösten sie unterschiedlich.“

„Die Toilettenfrage?“

„Während die Briten drei verschiedene Klos hatten – nämlich Damen, Herren und Offiziere –, mussten die Amerikaner mit zwei Varianten vorlieb nehmen.“

„Und das Ganze auf den Ruinen von Germania!“

„Das muss eine komische Gesellschaft gewesen sein, auf diesem Berggipfel. So völlig isoliert. Ich kann mir gut vorstellen, wie die Spione mit dem anbrechenden Tauwetter auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs nach und nach immer dekadenter wurden und irgendwann nur noch Telefonsex-Hotlines abhörten oder irgendwelche Bekannten. Wer weiß, was für Orgien hier im Untergrund, im Inneren des Teufelsberges stattfanden.“

Der Löwe lacht: „Wahrscheinlich haben sie ihre Station gerade noch rechtzeitig verlassen, bevor alle komplett dem Wahnsinn verfielen. Aber wäre es nicht toll, wenn wir das Ding irgendwie flott kriegen könnten, um mal ein bisschen in die Gespräche von Charlotte und Lulu reinzulauschen?“

„Willst du wirklich hören, was die über uns sagen?“

„Ja, natürlich. Beim Barte des Propheten, was bin ich schon wieder besoffen.“

Da wir nun direkt vor dem Haupteingang stehen, scheint offenkundig, dass selbst ein Korps der avanciertesten Fernmeldetechniker diese Station nicht mehr „flott kriegen“ würde. Sie ist nicht nur vergessen, sie ist verloren. Sämtliche Scheiben sind zerstört, sogar die kugelsicheren, als wäre eine Horde Tataren eingefallen. Das ganze Gelände erinnert an einen Schrottplatz.

„Du hast eine Taschenlampe dabei?“ frage ich Arthur, der den Halogenstrahl auf ein durchlöchertes Schild richtet.

„Nein, das ist ein Laternenfisch.“

Resort Teufelsberg Berlin – Fertigstellung 2002.

„Nun ja“, sage ich, „da hat sich wohl jemand ein wenig übernommen.“

„Hier sollte eine Seniorenresidenz entstehen, für Menschen im Herbst ihres Lebens – wie uns beide. Samt Spionagemuseum. Die Investoren waren nach etwa drei Tagen pleite.“

„Ich hätte ein Sanatorium für Lungenkranke eröffnet. Für pensionierte sowjetische Agentinnen mit schwarzen Augen und Schwindsucht.“

Während ich eigentlich nur darum ringe, einigermaßen die Balance zu wahren, sucht Arthur den Zaun nach einem Schlupfloch ab. Die Vandalen haben ganze Arbeit geleistet, er wird schnell fündig.

„Glaubst du wirklich, das passt mit dem Kostüm?“

Mein Freund antwortet nicht, er kriecht bereits unter dem Metallzaun hindurch. Für einen Moment scheint er festzustecken, ich breche etwas vorschnell in schadenfrohes Gelächter aus, doch letztlich gelingt es ihm irgendwie, sich zu befreien. Ich knie ebenfalls nieder. Als ich mich auf der anderen Seite der Absperrung wieder erheben will, fehlt mir plötzlich die Kraft dazu. Ich bleibe liegen, das Gesicht auf dem Boden.

„Gib’ mir den Tequila, mein Bruder, und lass’ mich hier zurück.“

„Schau’ mal, was ich gefunden habe.“

„Charlotte?“

„Negativ.“

„Eine Wehrmachtspistole?“

„Nein, jetzt komm’ schon!“

Ich raffe mich also auf, vielleicht zum letzten Mal jenseits von Eden, und folge dem Löwen mit der Taschenlampe. Arthur steht ein paar Meter entfernt, inmitten irgendwelcher Ruinen, und in den Pranken hält er eine Violine.

„Hör’ mal, sie hat noch drei Saiten. Die Geige ist zwar total kaputt und es ist auch nicht so einfach mit diesen Tatzen, aber wenn du ganz leise bist, kannst du mich zupfen hören. Welcher Zigeunerjunge die wohl verloren haben mag...“

Ich schreie auf.

„Du solltest leise sein, du Idiot“, sagt Arthur.

„Da ist irgend was über meine Füße gelaufen!“

„Meine Güte.“

Wir bewegen uns auf Zehenspitzen über das Areal. Was für ein Balagan. Lulu war hier mal auf einer illegalen Party, die, gelinde gesagt, recht ausschweifend gewesen sein muss. So sieht es auch aus. Als wäre die Station vom Evil Empire bombardiert worden, um sie für immer auszulöschen. Tatsächlich galt der Teufelsberg im Fall eines sowjetischen Luftangriffs als erstes Ziel – sämtliche entsprechenden Übungen der Roten Armee wurden stets mit den Koordinaten unseres scheinbar so friedlichen Abenteuerspielplatzes durchgeführt. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir und meinem blauen Drachen das damals irgendjemand erzählt hätte. Außerdem entbehrt die Strategie, ausgerechnet einen Trümmerberg in Schutt und Asche zu bomben, nicht einer gewissen Ironie. „Berlin baut sich aus Trümmern Berge und macht damit aus der Not eine Tugend!“ freute sich eine Wochenschau von 1947. Und heute ist hier kein Stein mehr auf dem anderen, Graffiti an jeder Wand, überall liegt Müll, rostige Fässer, Kanister und Glasflaschen. Die Ruinen des Kalten Krieges auf den Überresten des heißen. Ich frage mich, ob es jemals eine dritte Schicht geben wird.

I tried to hide from your love light

Arthur versucht vergeblich, eine Tür zu öffnen.

„Ha, siehst du! Eine Bionadeflasche! Charlotte muss hier irgendwo sein.“ Er lässt den Lichtschein über das Gelände wandern. „Vielleicht wird Dimona irgendwann auch mal so aussehen.“

„Deine Tochter?“

„Ich rede von der Chocolate Factory. Wenn die letzten Ratten das sinkende Schiff verlassen haben.“

„Ich fürchte, dieses Schiff haben sie gerade nicht verlassen.“

Das Hauptgebäude mit der futuristischen Kuppel ist frei zugänglich – hier existiert schlicht keine Tür mehr, die man absperren könnte. Wir betreten einen dunklen, bunkerartigen Raum, ich habe erhebliche Orientierungsprobleme.

„Und Charlotte ist hier wirklich regelmäßig?“

„Bestimmt nicht jede Woche. Sie arbeitet ja sowieso fast immer. Aber Charlotte mag verlassene Orte. Verlassene Orte sind weniger verlassen als von Menschen überlaufene, hat sie mal zu mir gesagt. Sie ist gern allein. Nur manchmal eben auch nicht – und ich weiß dummerweise nie, wann.“

„Im Wald ist man ja auch allein, ohne sich einsam zu fühlen.“

„Ja, aber der Wald ist für sie nicht so ein Hermann-Hesse-Hippie-Wald. Natürlich nicht. Ich schwängere prinzipiell keine Hesse-Hippie-Huren. Weißt du...“, Arthur zögert, doch ich habe den Eindruck, die Dunkelheit und das Löwenkostüm wirken bei ihm wie ein Wahrheitsserum – vom Schnaps ganz zu schweigen. „Für mich“, fährt er erstaunlich luzide fort, „ist der Wald überflüssig. Auf anderen Planeten gibt es schließlich auch keine Bäume. Ich mag eben Beton. Doch bei Charlotte stört es mich überhaupt nicht, dass sie ab und zu im Wald spazieren geht. Bei ihr ist das völlig okay. Trotzdem war es von Anfang an ziemlich schwer, in diese Einsamkeit, die sie manchmal umgibt, einzudringen. Wahrscheinlich sollte ich da auch gar nicht eindringen. Obwohl sie mir das immer vorwirft, dass ich nie irgend etwas Substantielles von mir preisgebe, ist meine Freundin bisweilen so verschlossen wie meine Wohnung zur Zeit. Es existiert einfach kein Schlüssel. Oder ich finde ihn zumindest nicht.“ Er seufzt. „Und es gab immer wieder Momente, das weiß sie auch selbst, da habe ich sie angeschaut und hatte das Gefühl, ich würde komplett durch sie hindurchsehen, als wäre sie mir völlig fremd. Ich darf sie dann auch nicht berühren, nicht mal mit der Fingerspitze. Seitdem sie schwanger ist, ist alles noch komplizierter geworden. So ein Augenblick, wo ich plötzlich in ihre Seele blicken konnte, wie Pete bei Kate, als er sie auf der Tanzfläche sah, war jedenfalls nie da.“

„Glaubst du, Kate Moss hat eine Seele?“

„Sofern sie sie noch nicht verkauft hat natürlich. Bei Klara“, lallt der Löwe in der Finsternis, „war das ganz anders. Ich musste nie darüber nachdenken. Es gab einfach keinen Zweifel. Dachte ich zumindest. Erst durch meine Vision habe ich das richtig verstanden. Love will tear us apart.“

„Noch mal: welche Vision?“

„Charlotte hingegen – das war von Anfang an Nachdenken und Überlegen, richtig harte Arbeit. Ich musste mir alles erarbeiten, nicht nur ihre Zuneigung, ihr Lächeln und ihre Blowjobs, sondern auch meine eigenen Gefühle. Obwohl Charlotte eindeutig schöner, intelligenter und phantasievoller ist als Klara. Und schwangerer. Außerdem ist sie viel netter und steht auch zu mir – meistens zumindest. Aber noch immer ist es ein Kampf, jeden Tag, und offenbar ist es niemals genug.“

Arthur holt tief Luft.

„Der Kampf muss weitergehen“, sage ich, ein wenig hilflos, „auch wenn alles untergeht und kein Mensch am Leben bleibt.“

„Allerdings. Aber dazu muss ich sie erst mal finden, verdammt.“

„Glaubst du, sie liebt dich?“

„Ich weiß es.“

Die Liebe, das weiß wohl auch Charlotte, ist ein Trümmerberg. Ein vergiftetes Paradies. Unter der pastoralen Picknickwiese liegt das Balagan begraben. Man kann endlos viele Schichten darüber auftürmen und wird das Innere aus Schutt und Asche doch nie ganz verbergen können. Es genügt, ein kleines Loch zu schaufeln, schon kommt die Wahrheit ans Tageslicht. Die Welthauptstadt Germania, eine geladene Wehrmachtspistole oder eben ein gebrochenes Löwenherz. Charlottes Traurigkeit hat nichts mit Naivität zu tun – im Gegenteil. Ich glaube, sie sieht klarer als Arthur und ich. Immer wenn ich meinen Freund fragte, warum ihn Klara damals, nach ein paar Monaten, so plötzlich verlassen hätte wie die Schlapphüte ihre Station, erwiderte er nur: „Keine Ahnung.“ Und ich fürchte, es handelt sich nicht um eine der typischen, ausweichenden Arthur-Antworten. Er hat wirklich keine Ahnung. Das ist der Kern des Problems. Und bereits ein knappes Jahr später, als ich aus Amerika zurückkehrte, war der immer noch genauso ahnungslose Arthur bereits mit Charlotte liiert.

But like heaven above me, the spy who loved me

„Das ist ja großartig!“ ruft er.

Der Lichtkegel erfasst zunächst eine Tür mit der enigmatischen Aufschrift: Military Police – Shadow Watch, dann eine Wand, an der ein Motivationsslogan prangt:

LEAD, FOLLOW OR GET THE HELL OUT OF THE WAY.

„Na, das lass’ ich mir doch nicht zweimal sagen”, bemerkt mein Freund und geht voran. Dabei zupft er den einen oder anderen heiteren Ton auf seiner Trümmergeige.

„Nicht so schnell“, sage ich.

„Psst!“

„Was?“

Ich hole Arthur ein, fasse ihn an der Schulter. Wir scheinen uns nun im Zentrum der Anlage zu befinden, jedenfalls ist dies bislang der größte Raum. Die Lampe brennt nur noch als Funzel, es ist so dunkel wie in der Tiefseeabteilung des Aquariums. Mit den Füßen bleibe ich immer wieder an Kabeln oder anderen, nicht identifizierbaren Objekten hängen. Außer dem Atem des Löwen höre ich nichts, es riecht jedoch auffällig streng.

„Da war es wieder“, flüstert er. „Dieses Geräusch.“

Wir horchen. Tatsächlich: Es ist weniger ein Stöhnen, als ein Quieken. Ich weiß nicht, ob Ratten so klingen.

„Vielleicht ist das eine Art Notruf, eine Botschaft, die der alte Commander der Station hinterlassen hat, bevor er Zyankalikapseln schluckte. Es kommt dahinten aus der Ecke. Von rechts. Pass auf, ich werde nun ganz langsam in diese Richtung leuchten.“

Es raschelt jetzt, es raschelt und quiekt. Ich trete einen Schritt zurück und Arthur richtet die Lampe auf den verdächtigen Winkel. Man kann zunächst kaum etwas erkennen, der Strahl ist viel zu schwach, doch nach und nach zeichnet sich vor meinem Auge die Gestalt einer Kreatur ab. Wir sind nicht allein. Jenes Wesen, welches dort an der Wand hockt, ist gedrungen und massiv und steht auf ziemlich kurzen Beinen. Der Kopf wirkt dafür übergroß, mit winzigen Ohren und schräg nach vorn gerichteten Augen. Zottige Borsten, aufgestellt zu einem Kamm. Die Schnauze scheint zur Stirn hin etwas eingedellt. Eine Ratte ist dies nicht.

„Ein Wildschwein“, flüstert Arthur. „Ich glaube, es hat Angst vor uns.“

„Vor dir. Es hat sicher noch nie einen Löwen gesehen.“

„Das ist ein Frischling. Er sieht genauso aus wie bei Asterix.“

„Lass uns abhauen. Die Mutter ist bestimmt nicht weit.“

Doch das Borstenvieh ist gar nicht so klein, wie es zunächst den Anschein hatte – und kommt plötzlich direkt auf uns zu.

„Scheiße, die Zähne“, zischt mein Freund.

Ich bin zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Raum gestolpert, höre noch, wie Arthur offenbar die Violine auf das Wildschwein wirft und sich mit einem lauten Knall den Kopf an einem Stahlbalken stößt. Sein Fluch muss meilenweit vernehmbar sein. Wir treffen uns erst wieder draußen am Zaun. Vom schwarzen Schwein ist nichts zu sehen.

Lead, follow or get the hell out the way“, keucht Arthur. „Hast du die Zähne bemerkt? Die schöne Geige!“

„Es hat mit den Hinterbeinen gescharrt und Urin verspritzt. Das ist immer ein schlechtes Zeichen.“

Erst auf der sicheren Seite der Absperrung können wir durchatmen.

„Wir hätten das Vieh erlegen sollen. Fällt dir auf, dass ich binnen kürzester Zeit von mehreren Kampfkatzen, einem Krokodil und nun auch noch von einem Keiler attackiert wurde?“

„Er hat dich nicht attackiert.“

„Weil ich mich zu wehren wusste. Und jetzt habe ich eine Gehirnerschütterung. Prost.“

„Zum Wohl. Ich denke, die Tataren hätten sich ganz anders gewehrt.“

Der Tequila brennt in meiner Kehle, viel ist davon nicht mehr übrig. Obwohl ich krank bin, sind meine Sinne geschärft. Die Luft duftet nach feuchtem Laub. Auch wir verlassen nun die Abhörstation, die vielleicht heimlich noch weiter empfängt, weiter sendet, auf Autopilot, bis die Welt untergeht. Wer weiß schon, was unterhalb der Ruinen noch für Strukturen existieren, was diesen Berg im Innersten zusammenhält. Womöglich sind gar nicht alle Spione geflüchtet. Arthur ritzt mit seinem Taschenmesser ein Zeichen in einen Buchenstamm.

„Das ist Rotwelsch“, murmelt er trunken. „Es bedeutet: Charlotte, du bist die allerschönste Frau! Komm endlich zurück zu mir! Ich habe meine Geige für dich geopfert, im Kampf gegen die Bestie. Nur meine Freundin beherrscht noch die Sprache der Räuber und des Waldes. Nur sie kann das verstehen.“

Die Buche blutet. Arthur tunkt seine Pranke in das tropfende Harz und streicht mir mit der klebrigen Masse über den Hals. Ich stoße ihn weg. Dabei stürze ich fast auf diesem Wurzelpfad, von überall dringen sonderbare Laute an unsere Ohren. Möglicherweise formieren sich die Wildschweine des Waldes in diesen Minuten zu einer Art Sturmtruppe. Hier in der Gegend kennt das ja jeder – die Biester sind auf gefährliche Weise assimiliert, sie verwüsten ganze Grundstücke und gehen des nachts auf der vielbefahrenen Heerstraße spazieren. Wir passieren eine Holzbrücke, die über eine kleine Schlucht führt. Während die Halloween-Kids Berlins wahrscheinlich schon von Tür zu Tür ziehen und Süßes sammeln – ein Vergnügen, welches, so steht zu befürchten, auch noch auf Arthurs Agenda steht –, sind wir allein im verzauberten Wald. Die Stadt: ein dumpfes Hintergrundrauschen.

Is keeping all my secrets safe tonight.

„Ich glaub’, wir haben uns verlaufen“, sage ich. „Die Teufelsseechaussee muss woanders sein.“

„Was ist das denn?“

Mein Freund ist wieder mal vorausgegangen. Nun macht er Halt, vor einem Felsblock, der wie ein Kriegerdenkmal mitten im Wald platziert wurde.

„Das ist der Kletterfelsen“, sage ich, ohne eine Sekunde zu zögern.

Errichtet vom Berliner Alpenverein, einer dubiosen Sekte, treffen sich hier die Hobby-Bergsteiger der Hauptstadt, um das Klettern zu üben. Der Felsen hat nicht gerade Alpenniveau, ist jedoch gar nicht so leicht zu bezwingen. Für die weniger Ambitionierten gibt es auch eine Leiter, die Arthur, der Löwe, jetzt erklimmt.

„Ich glaube, ich blute am Kopf. Unter dem Fell. Es ist ganz warm und feucht.“

„Dann komm’ da runter. Du wirst dir noch den Löwenschädel brechen.“

„Du hast keine Ahnung, wie schwer es ist, in diesem Kostüm hier hochzusteigen.“

Mein Freund klettert trotzdem weiter, die Flasche in einer Pranke. Auf der Plattform haben die beflissenen Alpinisten sogar ein kleines Gipfelkreuz aus Holz angebracht. Oben angelangt, lehnt Arthur sich dagegen und nimmt den letzten großen Schluck.

„Ich bin der König der Löwen auf dem Teufelsberg!“ brüllt er. „Ich rufe den Teufel!“

Keine Antwort. Mein Freund reißt sich die Maske herunter und richtet die Lampe auf sein Gesicht. Blut läuft ihm über beide Wangen, es vermischt sich mit dem Schweiß und gibt seinem Antlitz einen monströsen Glanz. Der Zusammenstoß mit dem Stahlbalken war wohl doch nicht so harmlos, wie es schien. Aber ein Löwe kennt keinen Schmerz, erst recht nicht nach einer halben Flasche Agavenschnaps. Arthur wirkt wesentlich besoffener als ich, der kaum noch stehen kann, vermutlich nicht mal liegen könnte.

„Ich rufe den Teufel! Zeige dich jetzt!“

„Was faselst du da?”

„Ich liebe das, was sie ist. Nicht das, was sie tut. Das habe ich nun begriffen. Nur sie kann ich dafür lieben, was sie ist. Und deshalb bin ich für immer verflucht. Und Charlotte auch.“

„Was?“

Mein Freund schwankt, er greift mit beiden Händen nach dem Kreuz und flüstert ziemlich theatralisch: „Klara. Meine Vision. In der Jewish Princess. Ich habe meine Seele an Klara verkauft!“

„Komm’ jetzt da runter!“

Doch auf einmal ist alles erleuchtet. Ein Knallen, gar nicht weit von hier. Schwefelgeruch zieht herüber. Farbige Blitze zucken am Himmel, grüne und gelbe, die Dunstglocke über der Stadt steht lichterloh in Flammen. Wie der Himmel auf CNN, denke ich, der Himmel über Bagdad. Arthur lehnt an diesem Kreuz, blutend, als trüge er das ganze Leid der Welt auf seinen Löwenschultern: „Der Feuersturm!“ ruft er immer wieder, oder: „Ein Tausend-Bomber-Angriff!“. Und selbst als mein vernebeltes Gedächtnis mich endlich nicht mehr alleine läßt und mir mitteilt, dass heute, an Halloween, gleich nebenan auf dem Maifeld am Olympiastadion, das Finale der so genannten Pyronale, der Weltmeisterschaft der Feuerwerker, stattfindet, starre ich noch wie gebannt auf dieses Licht. Das gelbe Licht: Es ist das Höllenlicht aus meinem Todestraum, am Himmel über dem Teufelsberg.

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