Mittwoch, 14. November 2007

Der Louche-Effekt

Immer fällt mir, wenn ich an den Indianer denke, der Italiener ein. Dies hat, so sonderbar es scheinen mag, doch seine Berechtigung. Mag es zwischen beiden noch so wenig Berührungspunkte geben, sie sind einander ähnlich in dem einen, dass man mit ihnen – allerdings mit dem einen weniger als mit dem anderen – abgeschlossen hat. Man spricht von dem Indianer kaum anders als von dem „sterbenden Mann“, während jeder, der die Verhältnisse kennt, den Italiener zumindest als den „kranken Mann“ bezeichnen muss. Nur Tim sollte dies besser nicht hören, obwohl er sicher nicht widersprechen würde. Tim heißt der Inhaber der Pizzakneipe in meinem Haus, die Arthur und ich, wenn gerade mal kein rohes Fleisch im Kühlschrank ist, regelmäßig aufsuchen. Quatro Stagione all’Inferno lautet der Name des Lokals. Dabei ist Tim gar kein Italiener. Eher eine Promenadenmischung aus Italo-Amerikaner, Kroate und Kreuzberger. Bereits sein voller Name scheint verdächtig, ja, anrüchig: Tim Verlaine. Der Pizzabäcker hat ihn in einem haltlosen Moment geändert, urkundlich sogar – als Tribut an den von ihm verehrten Gitarristen, Television-Frontmann und Ex-Lover von Patti Smith Tom Verlaine. Nicht zu unrecht, meint Tim. Tim Verlaine wie Tom Verlaine hätten sich diese gegenseitige Ehrbezeugung beide redlich verdient. Seiner eigenen Post Punk-Band Friends of the Italian Opera seien damals in den Achtzigern zwar keine kommerziellen, wohl aber künstlerische Meriten beschieden gewesen. Und Bob Dylan, so der Wirt, der große Bob Dylan, hätte die Welt ja schließlich auch nicht als „Robert Zimmermann“ erobert. Bei seinem Namenswechsel handele es sich somit um eine legitime Distanzierung von der eigenen Vergangenheit, über die er weder heute, noch irgendwann sonst jemals sprechen werde. Unter den Stammgästen kursieren finsterste Gerüchte, doch keine Beweise.

„Bob Dylan“, sage ich, „ist ja auch kein Pizzabäcker.“

„Moment“, erwidert der heute unkostümierte Arthur. „Wenn ich schon Pizza backe, dann auf keinen Fall ironische Pizza. Sondern richtige Pizza.“

„Was soll denn bitte eine ironische Pizza sein?“

„Es geht darum, wie eine Pizza aussieht – und wie sie ist. Und den Graben dazwischen. Als Pizzabäcker will ich mich auch am Ofen verbrennen. So wie ich als Fußballer Gras fressen würde und als Prostituierte... na ja.“

Tim stöhnt auf: „Dieser Ofen ist heißer als die Hölle.“

Er zeigt uns die Brandnarben an seinen Unterarmen – und verfällt sofort wieder in die für ihn charakteristische, an eine Monet-Skulptur erinnernde Pose. Ich fürchte, dieser traurige Harlekin hat seit mehr als einer Woche nicht gelächelt. Außer unseren Plätzen ist keiner besetzt, was mit Tims wie eine Bleischicht auf den Tischen lastenden Depressionen und seiner offenen Abneigung Gästen gegenüber in Verbindung stehen könnte. Auch die Pizza schmeckt hier irgendwie depressiv. Sogar Türken und selbst Indianer backen bessere Pizza als Tim Verlaine. Doch im Quatro Stagione all’Inferno wird es womöglich schon morgen zu einer Revolution kommen. Arthur hat zwar nicht Charlotte, seine allerschönste Frau, wohl aber seinen Schlüsselbund und – noch verblüffender – einen Job gefunden. Probeweise zumindest. Nach dem Teufelsberg-Abenteuer wollten wir die große Suche fast schon aufgeben. Ich habe noch immer Fieberträume. Mein von seinem Missgeschick in der Abhöranlage gezeichneter Freund wirkte beinahe so deprimiert wie der Pizzabäcker – beim Ausziehen des blut- und schweißverschmierten Löwenkostüms riss er sich zudem fast ein Ohr ab. Und Charlotte? Charlotte ging nicht ans Telefon. Charlotte geht nicht ans Telefon. Es scheint mehr als fraglich, ob sie jemals wieder ans Telefon gehen wird. Von Arthurs Vision haben wir nur noch ein einziges Mal gesprochen.

„Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen“, murmelte der müde Löwe. „So wie du übrigens auch.“

Nur wenig später jedoch fanden wir dann seinen Schlüsselbund wieder. Und das kam so:

Wir wollten eine Pizza essen gehen, im Quatro Stagione all’Inferno. Anschreiben lassen, versteht sich.

„Hier war ich auch“, sagte Arthur vor dem Eintreten, „in der verfluchten Nacht. Aber ich hab’ Tim schon nach dem Schlüssel gefragt. Er hat nur den Kopf geschüttelt. Ich weiß wirklich nicht, wo ich noch Geld herkriegen soll.“

Es ist ja keinesfalls so, dass er sich gar nicht bemühen würde. Selbst bei der Berliner Samenbank im Wedding, der einzigen Bank, wo Arthur überhaupt noch Zutritt hat, wollten sie die Dienste meines Freundes nicht in Anspruch nehmen. Vermutlich stellte er zu viele Fragen. Und für ein verdächtig hoch bezahltes pharmazeutisches Experiment, nach dem wir uns erkundigten, waren seine Leberwerte zu schlecht. „Wir möchten sie ja nicht auf dem Gewissen haben, junger Mann“, sagte die freundliche Krankenschwester und schenkte uns ein Pfefferminzbonbon.

Tims völlig leeres Lokal: Der Besitzer, Anfang vierzig, lichtes Haar, Amateur-Gitarrist, verharrte dort in der üblichen Starre auf einem Barhocker, die Zeitung fest fixierend, mit beiden Ellenbogen auf den Tresen gestützt. Er würdigte uns keines Blickes. Bryan Ferry, „More than this“, ein schmierig-schönes Liebeslied.

Arthur summte mit: „Das hab’ ich mal Karaoke gesungen. In Tokio. Oder war’s Bangkok? Hallo, Tim!“

„Hi, Tim!“

Keine Antwort.

„Es wurde was für dich abgegeben, Arthur“, sagte Tim Verlaine dann müde. „Hier.“

Er legte das Fundstück auf den Tisch – ein Joy Division-Schlüsselband, Arthurs Schlüsselbund, den ich seit Wochen auf dem Grund der Spree gewähnt hatte. Wir waren naturgemäß sprachlos.

„Wo hast du den denn auf einmal her?“ fragte mein Freund.

„Diese Frau hat ihn abgegeben. Die Frau, mit der du hier warst. Die mit dem Narbengesicht.“

„Scheiße.“

„Wie kommt die bitte zu deinem Schlüssel?“ wollte ich wissen.

„Sie meinte, sie wüsste auch nicht, wie der Schlüssel in ihre Tasche käme, aber es hätte vielleicht irgend was mit meinem Laden zu tun. Wenn ich diese Psychopathin mit ihrem Spazierstock noch einmal hier sehe, kriegt ihr beide Hausverbot. Die vergrault mir die Gäste.“

„Du hast keine Gäste“, sagte ich.

„Das stimmt. Und ich hab’ auch keinen Pizzabäcker mehr. Der sitzt in Untersuchungshaft.“

„Hey, Tim“, rief Arthur, nun deutlich besserer Stimmung: „Vielleicht könnte ich das ja machen.“

„Du müsstest schon sehr viele Pizzen backen, unmenschlich viele, um deine Schulden hier zu bezahlen.“

Ich fürchte, Tim ahnte nicht mal, wie eng sich die Schlinge um meinen Freund inzwischen zugezogen hat. Da er seit Wochen seinen Briefkasten nicht leeren konnte, erhält er jetzt fast stündlich Anrufe von Blutsaugern und potentiellen Schlägertypen. Selbstredend schuldet Arthur mir zudem das Geld für den Heimflug aus Israel sowie mehr als zweihundert Biere – und Charlotte in etwa den Gegenwert einer Reise zum Saturn.

„Mein Gott“, sagte Arthur, „ich wollte heute morgen schon eine Kettensäge kaufen, um endlich meine Tür zu öffnen. Bei Aldi sind die gerade im Angebot.“

„Mit einer Kettensäge“, erwiderte Tim ernst, „wird man wohl kaum eine Wohnungstür aufkriegen. Aber du kannst es ja mal versuchen.“

„Jetzt hab’ ich ja meinen Schlüssel wieder.“

„Ich glaube, er meint das Pizzabacken.“

„Ernsthaft?“

Tim nickte traurig: „Komm’ doch morgen um vier mal vorbei.“

Er öffnete die Tür, der eisige Novemberwind fuhr in den pizzaofenwarmen Raum und wehte ein paar Blätter herein.

Ich murmelte: „Seufzer gleiten die Saiten des Herbsts entlang, treffen mein Herz mit einem Schmerz dumpf und bang.“

„Ich habe meinen Schlüssel wieder“, sagte Arthur, „und ich habe einen Job.“

Während Tim an der Bar brütet und bisweilen die Musik wechselt, sitzen wir daneben, verdauen versalzene Pizza und trinken auf die glückliche Fügung. Nach Roxy Music spielt der Wirt nun wieder Television: Tom Verlaine und Richard Lloyd duellieren sich förmlich mit ihren Gitarren, wobei die Instrumente keine Pistolen sind, sondern Floretts, die präzise ins Herz treffen wie die Saitenseufzer des Herbstes. Die berühmte Live-Aufnahme aus Brüssel.

„Wenn ich wieder in meine Wohnung kann, habe ich auch endlich meinen Schuhkarton wieder. Sonst ist mir ja nicht viel geblieben.“

„Vielleicht findest du sogar neue Liebesbriefe in deinem Briefkasten.“

„Ja, vermutlich hat Charlotte einen Sammelband mit herzzerreißenden Elogen auf mich verfasst.“

„Was ist mit der postmodernen Frau? Die Email mit dem Doors-Zitat?“

Arthur zuckt mit den Schultern: „Die postmodernste Frau ist mir egal. Sie war mir schon immer egal.“

„War Scarface eigentlich sehr postmodern?“

„Ich sag’ es jetzt zum letzten Mal: Ich kann mich weder erinnern, wo und wie ich diese Dame kennen gelernt habe, noch wer sie ist. Ich war gerade aus der Spree gestiegen und geistig ein wenig angegriffen.“

„Das kann ich so nicht glauben.“

„Okay, irgendwas ist da in meinem Gedächtnis. Die Frau sehe ich schon, aber keine Narben und erst recht keinen Spazierstock. All diese Erinnerungsfragmente sind durch keinerlei Bänder verknüpft. Weißes Rauschen. Nebel. Tausend Frequenzen zugleich oder keine. So muss sich ein Alzheimer-Patient fühlen.“

„Wir müssen dir unbedingt auf die Sprünge helfen. Wer weiß, vielleicht finden wir dann auch Charlotte.“ Ich winke Tim. „Womöglich haben wir im Paradise einfach nur das falsche Getränk gewählt. Ramazotti kann es nicht gewesen sein. Was hast du in jener Nacht noch getrunken?“

Arthur überlegt: „Bier. Bier. Und Bier. Whiskey, glaube ich.“

„Und eine halbe Flasche Absinth“, wirft Tim plötzlich ein.

„Was?“

„Klar. Zusammen mit deiner Begleitung. Eine Runde nach der anderen.“

„Dann ist also gar nicht das Pulver für meinen Filmriss verantwortlich, sondern der Absinth! Oder vielmehr: für diesen Film in meinem Kopf, der lauter Dinge zeigt, die gar nicht passiert sein können.“

„Natürlich“, erwidert Tim, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich hab’ das mal studiert: Absinth macht kriminell, führt zu Wahnsinn, Epilepsie und Tuberkulose. Aus dem Mann macht Absinth ein wildes Biest, aus Frauen Märtyrerinnen und aus Kindern Debile. Und Familien zerstört er sowieso. Schau’ mich an. Mich und meinen Laden.“

„Wir hätten gerne zwei“, sage ich.

„Vielleicht sollten wir lieber Bionade trinken. Nachdem ich vor kurzem noch dachte, die Erinnerung sei das einzige Paradies, aus dem man niemals vertrieben werden kann, glaube ich jetzt, sie ist die Hölle.“

„Dann werden wir gemeinsam durch die Hölle gehen.“

„Ja, ja. Wie trinken wir ihn?“

„Auf keinen Fall das Feuerritual“, sage ich.

Noch so ein böses Souvenir: Prag, Mitte der neunziger Jahre. Schon damals war jeder einzelne Pflasterstein touristenverklebt. Diese Altstadt bringt es fertig, dass man irgendwann sogar Kafka verabscheut. Arthur und ich, Teenager auf Interrail-Tour durch den Osten, flüchteten also vor zahnlosen Huren und Auftragskillertaxifahrern in die Trabantensiedlungen an der Peripherie. Natürlich fanden wir dort ein anderes Prag, mein Freund liebt ja ohnehin den Beton. Wir tanzten in den anrüchigsten Diskotheken. Und in einem dieser Clubs tranken wir, gemeinsam mit zwei gutgelaunten Vorstadtpragerinnen, Absinth. Dabei bedienten wir uns der so genannten „tschechischen Trinkweise“, man will sich schließlich auch assimilieren. Runde um Runde legten wir ein, zwei in Wermutlikör getränkte Zuckerstücke auf einen Absinthlöffel und zündeten ihn an. Sobald der Zucker karamellisierte und Blasen warf, löschten wir die Flammen und schütteten das Ganze in den Absinth, der sich daraufhin in spektakulärer Manier entzündete. Arthur und ich konnten gar nicht genug davon bekommen. Doch zu vorgerückter grüner Stunde – Lena und Mascha schunkelten gerade zu Alphaville-Klängen – waren wir dermaßen blau, dass wir bei diesem Prozedere immer wieder einige Tropfen verschütteten. Auf den Boden. Über unsere Hände. Und plötzlich – bei „Big in Japan“ – fing meine rechte Hand Feuer. Sie stand lichterloh in Flammen, als hätte ich sie mit Benzin übergossen. Während die Tschechen rundherum hysterisch lachten, fiel ich beinahe in Ohnmacht, bis es mir endlich gelang, meine brennenden Finger zu löschen. Noch Wochen später bot diese Hand einen grauenhaften Anblick. Zum Glück wollte ich nie Pianist werden. Die Erinnerung, das steht fest, kann durchaus ein Inferno sein.

„Einmal das Feuerritual, bitte“, sagt Arthur zu Tim. „Ich werde mich sowieso noch an deinem Pizzaofen verbrennen. So spürt man wenigstens, dass man am Leben ist.“

„Kommt nicht in Frage. Ich bin nicht versichert. Hier wird nach der französischen Tradition getrunken.“

Er stellt drei Gläser des smaragdgrünen Elixiers auf den Tisch.

„Wie schön“, sage ich. „Es gibt wirklich kaum etwas Poetischeres als diese Farbe.“

„Hier sind die Löffel. Ich brauch’ jetzt auch einen.“

Tim, der zwar eine miserable Pizza fertigt, aber ansonsten im gesamten Bezirk für seinen Perfektionismus bekannt ist, besitzt tatsächlich echte Absinth-Löffel. Wir platzieren also jeweils ein Stück Würfelzucker auf dem Löffel und träufeln aus einem Pastis-Kännchen etwas Wasser darüber. Beim Umrühren im Glas trübt sich das klare Getränk sofort milchig.

„Ich liebe diesen Effekt“, sagt Arthur. „Aber er macht mir auch Angst. Etwas eigentlich relativ Klares wird plötzlich undurchsichtig und geheimnisvoll. Genau wie mein Gedächtnis. Es ist, als wären alle meine Erinnerungen aus jener Absinth-Nacht hinter einer Milchglasscheibe verborgen. Ganz ähnlich geht es mir übrigens mit der Zukunft.“

„Das offizielle Getränk für eine bessere Welt.“

„Wenn das so weitergeht, kann ich den Laden bald zumachen. Die ganze Saison war die Hölle.“

Wir stoßen an. Diesmal steht einzig meine Kehle in Flammen.

„Hast du dich damals eigentlich in ‚Tim Verlaine’ umbenannt, weil du in Patti Smith verknallt warst?“ will Arthur wissen.

„Ich war in Toms Gitarrenspiel verliebt, sonst nichts. Die Musik ist wichtiger als alles andere.“

„Und Patti“, sage ich, „hat ohnehin nur schwule französische Dichter begehrt. Und Mick Jagger.“

„Vielleicht kaufe ich diese Kettensäge trotzdem. Jetzt, wo ich mein erstes Glas Absinth getrunken habe, erscheint mir das plötzlich als eine hervorragende Idee.“

„Was macht dein Gedächtnis?“

„Ich sehe eine Art Saturn-Nebel. Einen planetarischen Saturn-Nebel. Milchig und undurchsichtig. Ein Tagebuch, das in saturnischen Versen verfasst ist, die niemand versteht. Oder zumindest auf japanisch. Keiner kennt die Übersetzung.“

„Außer dem Narbengesicht, vielleicht. Hatte sie die Narben eigentlich schon vor oder erst nach dem Absinthgenuss? Habt ihr mit dem Feuer gespielt?“

„Wenn das so weitergeht, kann ich bald zumachen“, klagt Tim.

„Ab morgen bin ich ja hier und backe Pizza.“

„Eben.“

„Wir sollten mehr Absinth trinken“, sage ich. „Und morgen gehen wir auf diesen Waldfriedhof. Den Friedhof der Namenlosen.“

Mir ist so warm wie lange nicht. Das geht mir immer so im Quatro Stagione all’Inferno, selbst ohne Grüne Fee. Auf einmal glaube ich, dass wir Charlotte finden werden.

„Das wäre der richtige Ort für mich“, sagt Tim Verlaine. „Der Friedhof der Namenlosen. Ich bin ein kranker, sterbender Mann. Wie wär’s mit einem kleinen Feuerritual?“

Sonntag, 11. November 2007

Lost in Translation


Wer Balagan Blues verrät, was dieser etwa zwanzig Jahre alte japanische Whiskey-Werbespot mit Arthur Rimbaud zu tun hat, erhält zur Belohnung ein Löwenkostüm sofern das Betriebsergebnis es zulässt.

Mittwoch, 7. November 2007

Charlottes Welt III [Der Teufelsberg, Teil 2]

„Was war das?“ flüstere ich.

Rundherum ist alles dunkel. Einige Äste ächzen im Wind.

„Keine Ahnung. Aber jetzt hört man nichts mehr.“

„Es klang wie ein Stöhnen.“

„Dieser teuflische Berg ist zaubertoll“, sagt Arthur, der nun wieder sein Kostüm trägt. „Vor allem an Halloween. Heute ist alles möglich. Aber sollte das ein Tier gewesen sein, so stehen die Chancen, dass es in der Tier-Hierarchie über mir, dem Löwen, steht, relativ gering.“

„Und wenn es kein Tier war?“

„Dann war es vermutlich Charlotte und alles wird gut.“

Ich nehme einen großen Schluck Tequila. Mein Freund und ich befinden uns noch immer auf dem Teufelsberg, an diesem mit NATO-Draht gesicherten Zaun, der die verlassene und allmählich vom Grünzeug geschluckte Abhörstation vor ungebetenen Besuchern schützt. Ich hätte nicht gedacht, dass es in Berlin so dunkel werden kann – und das bereits am frühen Abend. Die Stadt erhellt zwar den Himmel, doch hier, auf dem Gipfel, herrscht beinahe vollkommene Finsternis. Selbst Arthurs Raubtierkonturen kann ich nur schemenhaft erkennen. Von der zugewachsenen Spionageanlage sehen wir gar nichts, einzig die irgendwie arktisch anmutende weiße Kuppel ist in der Dunkelheit auszumachen.

„Komm’, wir müssen auf die andere Seite – da sind manchmal Löcher im Zaun. Geheimtipp von Aaron.“

I wasn't lookin', but somehow you found me

Als Agent des Chaos Computer Clubs und Connaisseur anachronistischer Fernmeldetechnik hat Aaron eine Fülle an Informationen über diese schattenhafte Station gesammelt und sie eines nachts im Paradise mit uns geteilt. Doch die Festplatte in meinem Kopf braucht keinen Hacker: Als ich meinen blauen Drachen – präziser: einen der 47 blauen Drachen, die ich im Laufe der Jahre verschliss, sie waren immer blau – auf dem Drachenhügel steigen ließ, war diese von der NSA, dem amerikanischen Nachrichtendienst, betriebene Spionageeinrichtung noch online. 1500 Abhörspezialisten horchten dort rund um die Uhr. Während wir Kinder mit dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gelände nur indirekt in Berührung kamen, war der Kalte Krieg also mit Händen greifbar. Meine erste Erinnerung an die Station ist ein Wandertagsausflug, der uns auf Umwegen, die von den Lehrkräften wohl nicht geplant gewesen waren, auch zu diesem Stacheldrahtdoppelzaun führte. Schäferhunde und GIs mit Maschinenpistolen, grimmige Gesichter. Nirgendwo sonst in Berlin durften amerikanische Soldaten mit scharfen Waffen patrouillieren, nur hier. Ansonsten lief der tägliche Betrieb eher unauffällig ab und die wenigsten Spione trugen Schlapphüte. Rund um den Teufelsberg waren nie Militärfahrzeuge zu sehen – heute erscheint es mir nicht unwahrscheinlich, dass die autarke Station aus der Luft versorgt wurde. Seltsame Zeiten. Der Teufelsberg erwies sich für die NSA jedenfalls als optimaler Standort, um die Staaten des Warschauer Paktes (und zweifellos auch die BRD) mit glühenden Ohren abzuhören – zumal es, wie gesagt, nur eine Himmelsrichtung gab: den Osten. Die hier stationierten Einheiten seien so erfolgreich gewesen, resümierte Aaron im Paradise seinen Bericht, dass sie die so genannte „Travis Trophy“, eine Art Meisterschale der Fernmeldeaufklärer, gleich zweimal gewinnen konnten. Ich frage mich, wo dieser Pokal heute steht, da die Anlage vergessen wurde – allerdings nicht von meinem Freund und mir. Vergeblich suchen wir Charlotte, vergeblich suchen wir Arthurs Schlüssel und sein verlorenes Kurzzeitgedächtnis – und finden stattdessen all das, was wir niemals vergessen werden.

„Erinnerst du dich, was Aaron über das Riesenrad gesagt hat?“ fragt er.

„Nein.“

Wir schleichen durchs Gebüsch, am Zaun entlang.

„Also, eines Tages bemerkten die Spione hier, dass sich gewisse Signale zu einer bestimmten Jahreszeit zwei Wochen lang viel besser empfangen ließen. Sie wussten aber nicht, warum. Irgendwann fiel einem besonders schlauen Schlapphut jedoch auf, was genau zu diesem Zeitpunkt immer stattfand: das Deutsch-Amerikanische Volksfest nämlich. Und das Riesenrad dort wirkte für einzelne Frequenzen offenbar wie eine Art Verstärker. Daraufhin blieb es dann Jahr für Jahr einfach ein bisschen länger stehen, es wurde einfach ein bisschen länger gefeiert. Das dumme Volk hat sich gefreut.“

„Das heißt, während wir in aller Unschuld mit unseren nach Himbeerkaugummi duftenden Mitschülerinnen in einer romantischen Riesenradgondel saßen, wurden wir von heimtückischen Agenten des Kalten Krieges als Resonanzkörper missbraucht?“

„Exakt. So wie ich dich missbrauchen werde, wenn du mir noch einmal auf den Schwanz trittst.“

„Pardon“, sage ich, „es ist ein bisschen dunkel hier oben. Aaron meinte auch, dass sich Amerikaner und Briten die Anlage teilten und ziemlich reibungslos zusammenarbeiteten. Nur die Toilettenfrage lösten sie unterschiedlich.“

„Die Toilettenfrage?“

„Während die Briten drei verschiedene Klos hatten – nämlich Damen, Herren und Offiziere –, mussten die Amerikaner mit zwei Varianten vorlieb nehmen.“

„Und das Ganze auf den Ruinen von Germania!“

„Das muss eine komische Gesellschaft gewesen sein, auf diesem Berggipfel. So völlig isoliert. Ich kann mir gut vorstellen, wie die Spione mit dem anbrechenden Tauwetter auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs nach und nach immer dekadenter wurden und irgendwann nur noch Telefonsex-Hotlines abhörten oder irgendwelche Bekannten. Wer weiß, was für Orgien hier im Untergrund, im Inneren des Teufelsberges stattfanden.“

Der Löwe lacht: „Wahrscheinlich haben sie ihre Station gerade noch rechtzeitig verlassen, bevor alle komplett dem Wahnsinn verfielen. Aber wäre es nicht toll, wenn wir das Ding irgendwie flott kriegen könnten, um mal ein bisschen in die Gespräche von Charlotte und Lulu reinzulauschen?“

„Willst du wirklich hören, was die über uns sagen?“

„Ja, natürlich. Beim Barte des Propheten, was bin ich schon wieder besoffen.“

Da wir nun direkt vor dem Haupteingang stehen, scheint offenkundig, dass selbst ein Korps der avanciertesten Fernmeldetechniker diese Station nicht mehr „flott kriegen“ würde. Sie ist nicht nur vergessen, sie ist verloren. Sämtliche Scheiben sind zerstört, sogar die kugelsicheren, als wäre eine Horde Tataren eingefallen. Das ganze Gelände erinnert an einen Schrottplatz.

„Du hast eine Taschenlampe dabei?“ frage ich Arthur, der den Halogenstrahl auf ein durchlöchertes Schild richtet.

„Nein, das ist ein Laternenfisch.“

Resort Teufelsberg Berlin – Fertigstellung 2002.

„Nun ja“, sage ich, „da hat sich wohl jemand ein wenig übernommen.“

„Hier sollte eine Seniorenresidenz entstehen, für Menschen im Herbst ihres Lebens – wie uns beide. Samt Spionagemuseum. Die Investoren waren nach etwa drei Tagen pleite.“

„Ich hätte ein Sanatorium für Lungenkranke eröffnet. Für pensionierte sowjetische Agentinnen mit schwarzen Augen und Schwindsucht.“

Während ich eigentlich nur darum ringe, einigermaßen die Balance zu wahren, sucht Arthur den Zaun nach einem Schlupfloch ab. Die Vandalen haben ganze Arbeit geleistet, er wird schnell fündig.

„Glaubst du wirklich, das passt mit dem Kostüm?“

Mein Freund antwortet nicht, er kriecht bereits unter dem Metallzaun hindurch. Für einen Moment scheint er festzustecken, ich breche etwas vorschnell in schadenfrohes Gelächter aus, doch letztlich gelingt es ihm irgendwie, sich zu befreien. Ich knie ebenfalls nieder. Als ich mich auf der anderen Seite der Absperrung wieder erheben will, fehlt mir plötzlich die Kraft dazu. Ich bleibe liegen, das Gesicht auf dem Boden.

„Gib’ mir den Tequila, mein Bruder, und lass’ mich hier zurück.“

„Schau’ mal, was ich gefunden habe.“

„Charlotte?“

„Negativ.“

„Eine Wehrmachtspistole?“

„Nein, jetzt komm’ schon!“

Ich raffe mich also auf, vielleicht zum letzten Mal jenseits von Eden, und folge dem Löwen mit der Taschenlampe. Arthur steht ein paar Meter entfernt, inmitten irgendwelcher Ruinen, und in den Pranken hält er eine Violine.

„Hör’ mal, sie hat noch drei Saiten. Die Geige ist zwar total kaputt und es ist auch nicht so einfach mit diesen Tatzen, aber wenn du ganz leise bist, kannst du mich zupfen hören. Welcher Zigeunerjunge die wohl verloren haben mag...“

Ich schreie auf.

„Du solltest leise sein, du Idiot“, sagt Arthur.

„Da ist irgend was über meine Füße gelaufen!“

„Meine Güte.“

Wir bewegen uns auf Zehenspitzen über das Areal. Was für ein Balagan. Lulu war hier mal auf einer illegalen Party, die, gelinde gesagt, recht ausschweifend gewesen sein muss. So sieht es auch aus. Als wäre die Station vom Evil Empire bombardiert worden, um sie für immer auszulöschen. Tatsächlich galt der Teufelsberg im Fall eines sowjetischen Luftangriffs als erstes Ziel – sämtliche entsprechenden Übungen der Roten Armee wurden stets mit den Koordinaten unseres scheinbar so friedlichen Abenteuerspielplatzes durchgeführt. Ich kann mich nicht erinnern, dass mir und meinem blauen Drachen das damals irgendjemand erzählt hätte. Außerdem entbehrt die Strategie, ausgerechnet einen Trümmerberg in Schutt und Asche zu bomben, nicht einer gewissen Ironie. „Berlin baut sich aus Trümmern Berge und macht damit aus der Not eine Tugend!“ freute sich eine Wochenschau von 1947. Und heute ist hier kein Stein mehr auf dem anderen, Graffiti an jeder Wand, überall liegt Müll, rostige Fässer, Kanister und Glasflaschen. Die Ruinen des Kalten Krieges auf den Überresten des heißen. Ich frage mich, ob es jemals eine dritte Schicht geben wird.

I tried to hide from your love light

Arthur versucht vergeblich, eine Tür zu öffnen.

„Ha, siehst du! Eine Bionadeflasche! Charlotte muss hier irgendwo sein.“ Er lässt den Lichtschein über das Gelände wandern. „Vielleicht wird Dimona irgendwann auch mal so aussehen.“

„Deine Tochter?“

„Ich rede von der Chocolate Factory. Wenn die letzten Ratten das sinkende Schiff verlassen haben.“

„Ich fürchte, dieses Schiff haben sie gerade nicht verlassen.“

Das Hauptgebäude mit der futuristischen Kuppel ist frei zugänglich – hier existiert schlicht keine Tür mehr, die man absperren könnte. Wir betreten einen dunklen, bunkerartigen Raum, ich habe erhebliche Orientierungsprobleme.

„Und Charlotte ist hier wirklich regelmäßig?“

„Bestimmt nicht jede Woche. Sie arbeitet ja sowieso fast immer. Aber Charlotte mag verlassene Orte. Verlassene Orte sind weniger verlassen als von Menschen überlaufene, hat sie mal zu mir gesagt. Sie ist gern allein. Nur manchmal eben auch nicht – und ich weiß dummerweise nie, wann.“

„Im Wald ist man ja auch allein, ohne sich einsam zu fühlen.“

„Ja, aber der Wald ist für sie nicht so ein Hermann-Hesse-Hippie-Wald. Natürlich nicht. Ich schwängere prinzipiell keine Hesse-Hippie-Huren. Weißt du...“, Arthur zögert, doch ich habe den Eindruck, die Dunkelheit und das Löwenkostüm wirken bei ihm wie ein Wahrheitsserum – vom Schnaps ganz zu schweigen. „Für mich“, fährt er erstaunlich luzide fort, „ist der Wald überflüssig. Auf anderen Planeten gibt es schließlich auch keine Bäume. Ich mag eben Beton. Doch bei Charlotte stört es mich überhaupt nicht, dass sie ab und zu im Wald spazieren geht. Bei ihr ist das völlig okay. Trotzdem war es von Anfang an ziemlich schwer, in diese Einsamkeit, die sie manchmal umgibt, einzudringen. Wahrscheinlich sollte ich da auch gar nicht eindringen. Obwohl sie mir das immer vorwirft, dass ich nie irgend etwas Substantielles von mir preisgebe, ist meine Freundin bisweilen so verschlossen wie meine Wohnung zur Zeit. Es existiert einfach kein Schlüssel. Oder ich finde ihn zumindest nicht.“ Er seufzt. „Und es gab immer wieder Momente, das weiß sie auch selbst, da habe ich sie angeschaut und hatte das Gefühl, ich würde komplett durch sie hindurchsehen, als wäre sie mir völlig fremd. Ich darf sie dann auch nicht berühren, nicht mal mit der Fingerspitze. Seitdem sie schwanger ist, ist alles noch komplizierter geworden. So ein Augenblick, wo ich plötzlich in ihre Seele blicken konnte, wie Pete bei Kate, als er sie auf der Tanzfläche sah, war jedenfalls nie da.“

„Glaubst du, Kate Moss hat eine Seele?“

„Sofern sie sie noch nicht verkauft hat natürlich. Bei Klara“, lallt der Löwe in der Finsternis, „war das ganz anders. Ich musste nie darüber nachdenken. Es gab einfach keinen Zweifel. Dachte ich zumindest. Erst durch meine Vision habe ich das richtig verstanden. Love will tear us apart.“

„Noch mal: welche Vision?“

„Charlotte hingegen – das war von Anfang an Nachdenken und Überlegen, richtig harte Arbeit. Ich musste mir alles erarbeiten, nicht nur ihre Zuneigung, ihr Lächeln und ihre Blowjobs, sondern auch meine eigenen Gefühle. Obwohl Charlotte eindeutig schöner, intelligenter und phantasievoller ist als Klara. Und schwangerer. Außerdem ist sie viel netter und steht auch zu mir – meistens zumindest. Aber noch immer ist es ein Kampf, jeden Tag, und offenbar ist es niemals genug.“

Arthur holt tief Luft.

„Der Kampf muss weitergehen“, sage ich, ein wenig hilflos, „auch wenn alles untergeht und kein Mensch am Leben bleibt.“

„Allerdings. Aber dazu muss ich sie erst mal finden, verdammt.“

„Glaubst du, sie liebt dich?“

„Ich weiß es.“

Die Liebe, das weiß wohl auch Charlotte, ist ein Trümmerberg. Ein vergiftetes Paradies. Unter der pastoralen Picknickwiese liegt das Balagan begraben. Man kann endlos viele Schichten darüber auftürmen und wird das Innere aus Schutt und Asche doch nie ganz verbergen können. Es genügt, ein kleines Loch zu schaufeln, schon kommt die Wahrheit ans Tageslicht. Die Welthauptstadt Germania, eine geladene Wehrmachtspistole oder eben ein gebrochenes Löwenherz. Charlottes Traurigkeit hat nichts mit Naivität zu tun – im Gegenteil. Ich glaube, sie sieht klarer als Arthur und ich. Immer wenn ich meinen Freund fragte, warum ihn Klara damals, nach ein paar Monaten, so plötzlich verlassen hätte wie die Schlapphüte ihre Station, erwiderte er nur: „Keine Ahnung.“ Und ich fürchte, es handelt sich nicht um eine der typischen, ausweichenden Arthur-Antworten. Er hat wirklich keine Ahnung. Das ist der Kern des Problems. Und bereits ein knappes Jahr später, als ich aus Amerika zurückkehrte, war der immer noch genauso ahnungslose Arthur bereits mit Charlotte liiert.

But like heaven above me, the spy who loved me

„Das ist ja großartig!“ ruft er.

Der Lichtkegel erfasst zunächst eine Tür mit der enigmatischen Aufschrift: Military Police – Shadow Watch, dann eine Wand, an der ein Motivationsslogan prangt:

LEAD, FOLLOW OR GET THE HELL OUT OF THE WAY.

„Na, das lass’ ich mir doch nicht zweimal sagen”, bemerkt mein Freund und geht voran. Dabei zupft er den einen oder anderen heiteren Ton auf seiner Trümmergeige.

„Nicht so schnell“, sage ich.

„Psst!“

„Was?“

Ich hole Arthur ein, fasse ihn an der Schulter. Wir scheinen uns nun im Zentrum der Anlage zu befinden, jedenfalls ist dies bislang der größte Raum. Die Lampe brennt nur noch als Funzel, es ist so dunkel wie in der Tiefseeabteilung des Aquariums. Mit den Füßen bleibe ich immer wieder an Kabeln oder anderen, nicht identifizierbaren Objekten hängen. Außer dem Atem des Löwen höre ich nichts, es riecht jedoch auffällig streng.

„Da war es wieder“, flüstert er. „Dieses Geräusch.“

Wir horchen. Tatsächlich: Es ist weniger ein Stöhnen, als ein Quieken. Ich weiß nicht, ob Ratten so klingen.

„Vielleicht ist das eine Art Notruf, eine Botschaft, die der alte Commander der Station hinterlassen hat, bevor er Zyankalikapseln schluckte. Es kommt dahinten aus der Ecke. Von rechts. Pass auf, ich werde nun ganz langsam in diese Richtung leuchten.“

Es raschelt jetzt, es raschelt und quiekt. Ich trete einen Schritt zurück und Arthur richtet die Lampe auf den verdächtigen Winkel. Man kann zunächst kaum etwas erkennen, der Strahl ist viel zu schwach, doch nach und nach zeichnet sich vor meinem Auge die Gestalt einer Kreatur ab. Wir sind nicht allein. Jenes Wesen, welches dort an der Wand hockt, ist gedrungen und massiv und steht auf ziemlich kurzen Beinen. Der Kopf wirkt dafür übergroß, mit winzigen Ohren und schräg nach vorn gerichteten Augen. Zottige Borsten, aufgestellt zu einem Kamm. Die Schnauze scheint zur Stirn hin etwas eingedellt. Eine Ratte ist dies nicht.

„Ein Wildschwein“, flüstert Arthur. „Ich glaube, es hat Angst vor uns.“

„Vor dir. Es hat sicher noch nie einen Löwen gesehen.“

„Das ist ein Frischling. Er sieht genauso aus wie bei Asterix.“

„Lass uns abhauen. Die Mutter ist bestimmt nicht weit.“

Doch das Borstenvieh ist gar nicht so klein, wie es zunächst den Anschein hatte – und kommt plötzlich direkt auf uns zu.

„Scheiße, die Zähne“, zischt mein Freund.

Ich bin zu diesem Zeitpunkt bereits aus dem Raum gestolpert, höre noch, wie Arthur offenbar die Violine auf das Wildschwein wirft und sich mit einem lauten Knall den Kopf an einem Stahlbalken stößt. Sein Fluch muss meilenweit vernehmbar sein. Wir treffen uns erst wieder draußen am Zaun. Vom schwarzen Schwein ist nichts zu sehen.

Lead, follow or get the hell out the way“, keucht Arthur. „Hast du die Zähne bemerkt? Die schöne Geige!“

„Es hat mit den Hinterbeinen gescharrt und Urin verspritzt. Das ist immer ein schlechtes Zeichen.“

Erst auf der sicheren Seite der Absperrung können wir durchatmen.

„Wir hätten das Vieh erlegen sollen. Fällt dir auf, dass ich binnen kürzester Zeit von mehreren Kampfkatzen, einem Krokodil und nun auch noch von einem Keiler attackiert wurde?“

„Er hat dich nicht attackiert.“

„Weil ich mich zu wehren wusste. Und jetzt habe ich eine Gehirnerschütterung. Prost.“

„Zum Wohl. Ich denke, die Tataren hätten sich ganz anders gewehrt.“

Der Tequila brennt in meiner Kehle, viel ist davon nicht mehr übrig. Obwohl ich krank bin, sind meine Sinne geschärft. Die Luft duftet nach feuchtem Laub. Auch wir verlassen nun die Abhörstation, die vielleicht heimlich noch weiter empfängt, weiter sendet, auf Autopilot, bis die Welt untergeht. Wer weiß schon, was unterhalb der Ruinen noch für Strukturen existieren, was diesen Berg im Innersten zusammenhält. Womöglich sind gar nicht alle Spione geflüchtet. Arthur ritzt mit seinem Taschenmesser ein Zeichen in einen Buchenstamm.

„Das ist Rotwelsch“, murmelt er trunken. „Es bedeutet: Charlotte, du bist die allerschönste Frau! Komm endlich zurück zu mir! Ich habe meine Geige für dich geopfert, im Kampf gegen die Bestie. Nur meine Freundin beherrscht noch die Sprache der Räuber und des Waldes. Nur sie kann das verstehen.“

Die Buche blutet. Arthur tunkt seine Pranke in das tropfende Harz und streicht mir mit der klebrigen Masse über den Hals. Ich stoße ihn weg. Dabei stürze ich fast auf diesem Wurzelpfad, von überall dringen sonderbare Laute an unsere Ohren. Möglicherweise formieren sich die Wildschweine des Waldes in diesen Minuten zu einer Art Sturmtruppe. Hier in der Gegend kennt das ja jeder – die Biester sind auf gefährliche Weise assimiliert, sie verwüsten ganze Grundstücke und gehen des nachts auf der vielbefahrenen Heerstraße spazieren. Wir passieren eine Holzbrücke, die über eine kleine Schlucht führt. Während die Halloween-Kids Berlins wahrscheinlich schon von Tür zu Tür ziehen und Süßes sammeln – ein Vergnügen, welches, so steht zu befürchten, auch noch auf Arthurs Agenda steht –, sind wir allein im verzauberten Wald. Die Stadt: ein dumpfes Hintergrundrauschen.

Is keeping all my secrets safe tonight.

„Ich glaub’, wir haben uns verlaufen“, sage ich. „Die Teufelsseechaussee muss woanders sein.“

„Was ist das denn?“

Mein Freund ist wieder mal vorausgegangen. Nun macht er Halt, vor einem Felsblock, der wie ein Kriegerdenkmal mitten im Wald platziert wurde.

„Das ist der Kletterfelsen“, sage ich, ohne eine Sekunde zu zögern.

Errichtet vom Berliner Alpenverein, einer dubiosen Sekte, treffen sich hier die Hobby-Bergsteiger der Hauptstadt, um das Klettern zu üben. Der Felsen hat nicht gerade Alpenniveau, ist jedoch gar nicht so leicht zu bezwingen. Für die weniger Ambitionierten gibt es auch eine Leiter, die Arthur, der Löwe, jetzt erklimmt.

„Ich glaube, ich blute am Kopf. Unter dem Fell. Es ist ganz warm und feucht.“

„Dann komm’ da runter. Du wirst dir noch den Löwenschädel brechen.“

„Du hast keine Ahnung, wie schwer es ist, in diesem Kostüm hier hochzusteigen.“

Mein Freund klettert trotzdem weiter, die Flasche in einer Pranke. Auf der Plattform haben die beflissenen Alpinisten sogar ein kleines Gipfelkreuz aus Holz angebracht. Oben angelangt, lehnt Arthur sich dagegen und nimmt den letzten großen Schluck.

„Ich bin der König der Löwen auf dem Teufelsberg!“ brüllt er. „Ich rufe den Teufel!“

Keine Antwort. Mein Freund reißt sich die Maske herunter und richtet die Lampe auf sein Gesicht. Blut läuft ihm über beide Wangen, es vermischt sich mit dem Schweiß und gibt seinem Antlitz einen monströsen Glanz. Der Zusammenstoß mit dem Stahlbalken war wohl doch nicht so harmlos, wie es schien. Aber ein Löwe kennt keinen Schmerz, erst recht nicht nach einer halben Flasche Agavenschnaps. Arthur wirkt wesentlich besoffener als ich, der kaum noch stehen kann, vermutlich nicht mal liegen könnte.

„Ich rufe den Teufel! Zeige dich jetzt!“

„Was faselst du da?”

„Ich liebe das, was sie ist. Nicht das, was sie tut. Das habe ich nun begriffen. Nur sie kann ich dafür lieben, was sie ist. Und deshalb bin ich für immer verflucht. Und Charlotte auch.“

„Was?“

Mein Freund schwankt, er greift mit beiden Händen nach dem Kreuz und flüstert ziemlich theatralisch: „Klara. Meine Vision. In der Jewish Princess. Ich habe meine Seele an Klara verkauft!“

„Komm’ jetzt da runter!“

Doch auf einmal ist alles erleuchtet. Ein Knallen, gar nicht weit von hier. Schwefelgeruch zieht herüber. Farbige Blitze zucken am Himmel, grüne und gelbe, die Dunstglocke über der Stadt steht lichterloh in Flammen. Wie der Himmel auf CNN, denke ich, der Himmel über Bagdad. Arthur lehnt an diesem Kreuz, blutend, als trüge er das ganze Leid der Welt auf seinen Löwenschultern: „Der Feuersturm!“ ruft er immer wieder, oder: „Ein Tausend-Bomber-Angriff!“. Und selbst als mein vernebeltes Gedächtnis mich endlich nicht mehr alleine läßt und mir mitteilt, dass heute, an Halloween, gleich nebenan auf dem Maifeld am Olympiastadion, das Finale der so genannten Pyronale, der Weltmeisterschaft der Feuerwerker, stattfindet, starre ich noch wie gebannt auf dieses Licht. Das gelbe Licht: Es ist das Höllenlicht aus meinem Todestraum, am Himmel über dem Teufelsberg.

Sonntag, 4. November 2007

Charlottes Welt III [Der Teufelsberg, Teil 1]

„Was für Barbaren!“ schimpft Arthur, während wir trunken durch den herbstgelben Wald stapfen, „Delphine kann man doch nicht essen!“

Wir haben gut gegessen, heute mittag. Weil mein Kopf noch immer glüht, wollte Arthur es sich nicht nehmen lassen, eigenhändig ein stärkendes Mahl zuzubereiten, um danach die Suche mit neuem Elan fortzusetzen: Steak Tartare, wie der Franzose sagt, aus feinstem, sehnenfreiem Rinderhackfleisch. Eigentlich esse ich ja ungern rohes Fleisch, doch Arthur meinte, es würde mir gut tun und meiner Männlichkeit zumindest nicht schaden. Und so salzte und pfefferte er das Hack, formte es portionsweise zu flachen Ballen und schuf in der Mitte eine kleine Vertiefung. In diese gab mein Freund, der selten kocht, dann aber mit Raffinesse und Passion, ein rohes Eigelb, feingehackte Zwiebeln, Sardellenfilets sowie Kapern. Vermischt wurden all diese Zutaten wenig später direkt auf dem Teller, mit einigen Litern Tabascosauce. Der Name Tatar, erklärte mir Arthur, erinnere an die Tataren, die – so die Legende – traditionell rohe Fleischstücke unter ihren Satteln mürbe ritten, um diese anschließend zu verzehren. Ich muss sagen, ich fühle mich tatsächlich besser, nicht gerade wie Dschingis Kahn, doch die Trinität aus Tabletten, Tequila und Tabasco zeitigt eine durchaus reinigende Wirkung. Jedenfalls bin ich aufgestanden, Arthur hat sich noch mal die Lippen geleckt und sein Löwenkostüm angezogen. Wann, wenn nicht an Halloween, fragte er rhetorisch, könne er endlich mal verkleidet aus dem Haus gehen, in jener Haut, in der er sich eben am wohlsten fühle, ohne dass ihn alle Welt dumm anstarre? Dem hatte ich nichts entgegenzusetzen – und kann mich folglich auch nicht beschweren, dass ich nun mit einem lachenden Löwen die Teufelsseechaussee entlang wandere. Das Raubtier trägt eine Tequilaflasche in den Pranken. In der S-Bahn haben die Leute gelacht, heute ist offenbar alles erlaubt. Wir dürfen bloß nicht dem Zoodirektor in die Arme laufen. Ich schwanke ein bisschen, fühle mich dabei tatarisch gut, und auch wenn wir Charlotte wieder nicht finden sollten, was, zugegeben, nicht ganz unwahrscheinlich ist, könnte dieser Ausflug zum Teufelsberg, dem nächsten blauen Stern auf unserer Karte, immerhin recht amüsant werden.

„Wale, okay“, murmelt Arthur erneut. „Aber Delphine? Wollen wir wirklich in dieses atavistische Land fahren?“

Seine Irritation, das sei gesagt, bezieht sich auf eine Ausgabe des Reisemagazins Merian, in der er heute morgen blätterte. Schwerpunkt: Norwegen, jenes verzauberte Reich der Trolle und der Fjorde, welches wir – Aaron sei Dank – in wenigen Wochen erkunden werden. Um die Legionen von in penetrantester Weise um das Walwohl und nichts als das Walwohl besorgten deutschen Touristen zu schocken, hieß es in dem Artikel, mache sich die norwegische Jugend einen Jux daraus, T-Shirts mit dem Aufdruck „Wenn wir Delphine hätten, würden wir die auch töten“ zu tragen. Bei meinem Freund, dem Löwen, stoßen sie damit auf wenig bis gar kein Verständnis.

„Du siehst aus wie Goleo“, sage ich.

„Nimm das sofort zurück. Das ist nicht witzig.“

„Ich nehme es nur zurück, weil man mich dann eventuell für Pille halten könnte.“

Zwar trägt Arthur, genau wie das deutsche WM-Maskottchen, keine Hose, allerdings auch kein Oberteil, was den Anblick erträglicher macht. Ich trete ihm auf den Schwanz.

Er schreit auf: „Lass das. Du machst es dir ein bisschen sehr einfach, an Halloween ganz ohne Kostüm aus dem Haus zu gehen.“

„Ich bin der Raubtierdompteur. Außerdem habe ich bisher erst zwei verkleidete Kinder gesehen.“

„Die kommen später aus ihren Löchern. Im übrigen wird die Fußballweltmeisterschaft 2006 letztlich als Schandsommer und Gräuelmärchen in die Geschichte eingehen. Das Logo war eine Schande für den Designstandort Deutschland. Das amerikanische Budweiser war eine Schande für den Bierstandort Deutschland. Und das Maskottchen, Goleo und sein debiler Freund Pille, war eine Schande für den Maskottchenstandort Deutschland.“

„Das ist wahr. Man denke nur an Waldi, den Münchner Dackel zur Olympiade ’72.“

„Was war eigentlich das Maskottchen von Berlin 1936?“

Das Stadion zum Fest der Völker ist, nebenbei bemerkt, nicht weit, auf den Spuren von Charlotte Sevigny bewegen wir uns einmal mehr in den westlichsten Randbezirken dieser Stadt.

„Deine Freundin ist ein richtiges Kind West-Berlins, kann das sein?“ frage ich.

„Wir doch auch. Aber Charlotte hat wirklich hier um die Ecke gewohnt. In einer Villa, wie sie sich nur Waffenhändler leisten können. Wir haben nachts mal zusammen eine Scheibe eingeworfen. Eine sehr große Scheibe. Es war ihre Idee.“

„Ich war als Kind auch oft auf dem Teufelsberg. Felix hat hier gewohnt, wie du weißt. Tequila, bitte.“

Zwei Rennradfahrer sausen an uns vorbei.

„Hallo!“ ruft Arthur ihnen hinterher. „Was habt ihr denn heute wieder genommen?“

Die Antwort ist eine obszöne Geste.

Mein Freund lacht dröhnend unter Maske: „O thou invisible spirit of wine, if thou hast no name to be known by, let us call thee devil.

Und während der Teufelsberg und das vorgelagerte Plateau langsam in Sichtweite geraten, kehrt die Erinnerung mit ungeahnter Wucht zurück. Der Teufelsberg, das weiß jedes Kind, ist ein Trümmerberg, eine über hundert Meter hohe Aufschüttung von Überbleibseln des Krieges und der Stadt. Es ist der höchste Berg Berlins. Ich war dort regelmäßig mit meinem blauen Drachen, den ich – das lag in der Natur des Hobbys – alle paar Wochen ersetzen musste, nirgendwo gab es so gute Winde. Beim ersten Anzeichen von etwas gemächlicher fallendem Regen im November – wohlgemerkt noch kein Schnee – gingen wir Schlittenfahren, die Schussfahrt ist sagenumwoben. Das Gelände am Rande des Grunewalds bot sich mir damals als ein einziger großer Abenteuerspielplatz dar. Später kehrte ich an diesen Ort zurück, mit meinem alten Kindergartenfreund Felix, der mittlerweile längst die London School of Economics abgeschlossen hat, diesmal allerdings zum Kiffen. Doch selbst das ist jetzt fast anderthalb Jahrzehnte her.

„Wahrscheinlich habe ich Charlotte häufig getroffen. Unbekannterweise. So oft wie sie und ich – unabhängig von einander – auf dem Teufelsberg waren.“

Unter der Löwenmaske, schätze ich, legt Arthur seine Stirn in Falten: „Ich kann mich nur an zwei Erlebnisse genau erinnern. Einmal mit diesem komischen Felix, wo wir stundenlang auf einem dunklen Parkplatz saßen und so stoned waren, dass wir Todesängste ausgestanden haben. Wegen ein paar Kaninchen und Wildschweinen und so. Und 1987. 750 Jahre Berlin. Da waren wir ebenfalls zusammen hier, auf dem Drachenhügel. Mit deinen Eltern.“

„Und einer Million anderen Menschen.“ Ich nicke. „Berlin hat damals so viele schöne Geburtstagsgeschenke bekommen. Absonderlichste Kunstwerke im öffentlichen Raum. Eine Tour de France-Etappe auf der Heerstraße. Einen Weltcup-Slalom am Teufelsberg, den ich natürlich auch gesehen habe. Aber die Chinesen übertrafen alles: Das war nicht bloß ein Feuerwerk, sondern ein pyrotechnisches achtes Weltwunder. Am Flughafen Tempelhof!“

„Und wir auf dem Teufelsberg. Deine Eltern hatten Sekt dabei. Da war ich zum ersten Mal in meinem Leben besoffen.“ Arthur seufzt. „Doch wir sollten nicht zu nostalgisch werden, es war zugleich eine beschränkte, eine bleierne Zeit. Jener verfluchten 750-Jahr-Feier haben wir auch das Nikolaiviertel im Osten und im Westen die erbarmungslose Säuberung der alten Rotlichtmeile Potsdamer Straße zu verdanken.“

„Ja“, sage ich, „es ist schon widerlich, wie steril es da heutzutage zugeht.“

Das eigentlich Faszinierende am Teufelsberg jedoch war für Felix und mich stets die Allgegenwärtigkeit des Krieges. Das kann man sich ja selbst als Erwachsener kaum vorstellen: ein richtiger kleiner Berg, modelliert aus 12 Millionen Kubikmeter Trümmerschutt aus 400.000 zerbombten Häusern. Für uns Kinder in dieser angespannt friedlichen Frontstadt war so etwas jenseits jeder erfahrbaren Wirklichkeit. Obwohl ich mich als Junge nie für Kriegsspielzeug begeistern konnte, malten wir uns schaudernd aus, wie unter einer dünnen Erdschicht unzählige Panzer, Stahlhelme und Sturmgewehre nur darauf warteten, von uns ausgegraben zu werden. Felix und ich haben tatsächlich danach gegraben, mit archäologischer Akribie. Doch alles, was wir fanden, waren dreckige Windeln und latent toxischer Industriemüll. Felix’ Vater, selbst am Teufelsberg aufgewachsen, war es als Kind anders ergangen – zumindest erzählte er uns jedes Mal mit leuchtenden Augen dieselbe alte Geschichte: wie er früher direkt nach dem Krieg auf besagtem Gelände spielte, als dort noch kein Trümmerberg stand, sondern die Reste der Wehrtechnischen Fakultät, Teil des Germania-Masterplans, sich mit ihrem viergeschossigen Keller in den Boden fraßen. Er und Willi fanden eines Tages eine Wehrmachtspistole. Zwei Schuss im Magazin. Die zweite Kugel flog nur haarscharf an seinem Ohrläppchen vorbei – diesen Teil der Anekdote schmückte Felix’ Vater stets besonders gruselig aus, als Warnung vermutlich. Doch naturgemäß suchten sein Sohn und ich daraufhin beinahe täglich nach unserer eigenen Wehrmachtspistole, die irgendwo auf dem Teufelsberg versteckt sein musste.

„Meinst du nicht“, frage ich Arthur, „dass für jeden Menschen irgendwo eine geladene Waffe vergraben liegt?“

Wir steigen die steilen Holztreppen zum ersten Hügel hinauf, keuchend wie zwei pensionierte Kettenraucher. Wenigstens ist mir warm.

„Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie heiß es in diesem Kostüm ist?“

„Ich hatte fast vergessen, dass du überhaupt eins trägst. Langsam gewöhn’ ich mich daran.“

Arthur schnauft: „Wir hätten mehr rohes Fleisch essen sollen. Viel mehr. Es ist wieder eine Email gekommen.“

„Wegen der Annonce?“

„Ja. Es muss sich um ein und dieselbe Person handeln, die mir da immer schreibt. Diesmal nichts von wegen ‚Unstern’, aber wieder nur ein Satz – ein beschissenes Jim Morrison-Zitat: Can you picture what will be, so limitless and free? Verarschen kann ich mich alleine.”

„Überleg’ doch mal, gibt’s da vielleicht irgend einen Zusammenhang zu den anderen Botschaften?“

„Ist mir egal. Die Drei Fragezeichen widmen sich heute erst mal dem Teufelsberg. Die Suche nach Charlotte geht vor. Sie hat Priorität. Sie ist die allerschönste Frau.“

Vielleicht liegt es am Schnaps, vielleicht am Fieber oder an all den Illusionen, die seit 1987 wie jenes chinesische Geburtstagsfeuerwerk am Himmel über Berlin verpufft sind: Mir ist nicht wohl bei den Ermittlungen zu diesem Fall. So sehr ich es instinktiv begrüße, dass Arthur seine ganze Energie und Verwegenheit nicht mehr für unerreichbare postmoderne Prinzessinnen verschwendet, sondern sich auf die Suche nach Charlotte, der Mutter seiner Tochter, konzentriert, so skeptisch bleibe ich. Die Frage, die ich meinem Freund nicht stelle, jedenfalls nicht jetzt, lautet: Suchen wir hier wirklich nach Charlotte Sevigny? Arthur würde dies gewiss bejahen. Vielleicht glaubt er sogar daran. Doch noch in Tel Aviv, als er nach dem wilden Ian Curtis-Tanz in der Jewish Princess auf den Tresen fiel, delirierte er von seinen Klara-Träumen. Genau wie ich, obwohl ich seit Jahren nicht mehr rauche, regelmäßig von Zigaretten träume, wird Arthur das Klara-Gespenst einfach nicht los. Wir geben uns der Liebe hin, ergeben uns ihr mit Herz und Haut und Haaren, weil sie uns wenigstens fühlen lässt, wovon wir sonst nur träumen. Weil sie uns spüren lässt, was wir nicht wissen und vielleicht auch nicht finden können – egal, wie lange wir suchen. Aber möglicherweise, das kann ich schwerlich beurteilen, hat Arthurs neue Zuversicht auch mit den bevorstehenden Vaterfreuden zu tun. Ich bemerke schon einen gewissen Glanz in seinen Augen, wenn mein Freund von Dimona spricht und dabei ausnahmsweise mal keine Löwenmaske trägt. Noch ungefähr acht Wochen. Dimona könnte viel verändern – sofern Arthur sie überhaupt jemals sehen darf.

Ein älteres Ehepaar kommt uns entgegen, mustert meinen Begleiter mit verstörten Blicken.

„Guten Tag“, sagt der Löwe, erhält jedoch keine Antwort. „Hey“, er dreht sich zu mir um, „in welchem Kostüm würde Dimona wohl am großen Halloween-Vergnügen teilnehmen?“

„Vermutlich als nuklearer Sprengkörper.“

„Das wäre schon sehr fein.“

„Oder als Narbengesicht.“

„Schnauze.“

Das Plateau ist erreicht, obwohl mein Handy-Display gerade mal 15:56 Uhr anzeigt, scheint bereits der Abend anzubrechen. Winterzeit. Aus der Luft wirkt der Grunewald wie ein Flickenteppich verschiedener Herbstmuster, das fahle Oktoberlicht gibt der Stadt einen müden, zufriedenen Schimmer. Hier oben halten sich immerhin Menschen auf, wenn auch größtenteils unkostümiert, abgesehen von vereinzelten Kindern in Vampir- oder Zombieverkleidung. Fast alle lassen Drachen in die Lüfte steigen – eine der sinnlosesten, erfüllendsten Beschäftigungen diesseits des Paradieses.

„Das Beste daran“, bemerkt mein mit der rechten Pranke nach allen Seiten grüßender Freund, „das Beste daran ist die Vergeblichkeit. Schau’ mal, die Bäume. In fast jeder Baumkrone hängt ein Drachenskelett. Mal passiert es nach zehn Minuten. Mal erst nach zwei Wochen. Doch es passiert. Jedes Mal geht der Drachen verloren und das Geschrei ist groß.“

„Das kann ich nur bestätigen. Aber dann baut man eben einen neuen Drachen. Das ist das harte, doch irgendwie beglückende Los dieser Menschen. Mein eigenes Schicksal.“

„Und wenn sich so ein Drachen einmal komplett losreißt, sozusagen die Nabelschnur kappt, kommt er mit der neugewonnenen Freiheit auch nicht zurecht. Die Abhängigkeit ist also gegenseitig. Wie bei mir und der Tequilaindustrie.“

Er prostet mir zu. Wir beobachten einige Männer mittleren Alters, die ihr Hobby äußerst ernst zu nehmen scheinen. Keine Romantiker, sondern Techniker, Mechaniker, die noch die letzen Feinheiten ihres Fluggeräts – spezielle state of the art-Drachenvarianten oder ferngesteuerte Segelflugzeuge – justieren wie einen Formel 1-Rennwagen beim Boxenstopp. Selbst ein tequilatrinkender König der Löwen vermag sie in keiner Weise abzulenken. Ich wollte den Drachen immer nur fliegen sehen. Alles andere war mir egal. Wesentlich verwegener als solche Trottel sind die Gleitschirmflieger, die Paraglider, denen die Windverhältnisse auf diesem Hügel ebenfalls in die Schwingen spielen.

„Vielleicht sollte ich mit so einem Ding nach Charlotte suchen“, sagt Arthur. „Ich hänge mich dran, im Löwenkostüm, und schwebe über der Stadt. Eine Art Rasterfahndung aus der Luft.“

„Du darfst nur nicht zu nah an die Sonne fliegen.“

„Genau da liegt das Problem“, seufzt mein Freund. „Das ist mir noch jedes Mal passiert. Sieh’ nur, wie das Corbusierhaus im Abendlicht glänzt – als wäre es Teil des Reichssportfeldes.“

„Ich glaube kaum, dass Charlotte hier oben ist. Was macht sie überhaupt immer auf dem Teufelsberg?“

„Sie mag eben die Berge. Vielleicht erinnert es sie an das Chalet ihres Opas. Der hatte dieses Haus in den Schweizer Alpen.“

„Das glaubst du ja wohl selbst nicht.“

„Mann, ich weiß auch nicht. Ich hab’ manchmal das Gefühl, dass meine Freundin die Welt ganz anders wahrnimmt als ich.“

Arthur lallt bereits deutlich, als wir das Plateau überqueren.

„Das ist ja das Interessante an ihr“, fährt er fort. „Dass ich sie oft nicht verstehe und selbst, wenn ich mir Mühe gebe, ihren Blickwinkel einzunehmen, ihre Welt kennen zu lernen, es mir niemals richtig gelingen wird. Natürlich ist das immer so, mit allen Menschen. Doch bei Charlotte... Sie mag den Wald, als ob im Wald so ein großes Geheimnis verborgen wäre, was ja eigentlich gar nicht der Fall ist. Mir ist der Wald scheißegal. Charlotte hat aber definitiv ein Geheimnis – und das ist sexy.“

Ich glaube, ich verstehe was er meint. Zu etwa dreißig Prozent.

„Mag Charlotte auch Spionagefilme?“ frage ich.

Mein Freund – das vermute ich jetzt mal – lächelt unter seinem Pelz. Auf der anderen Seite der Schlucht, zwischen dem Drachenplateau und dem eigentlichen Teufelsberg, zeichnen sich die weißen, pilz- oder golfballförmigen Umrisse der verlassenen Abhörstation ab. Ich weiß nicht, was Charlottes Geheimnis ist. Doch wenn der Teufelsberg ein Geheimnis hat, muss es eng mit dieser mysteriösen Anlage verknüpft sein – soviel ist sicher. Wir purzeln beinahe einen Geröllhang herunter. Die Luft ist gut, sie brennt beim Einatmen, fast wie echte Bergluft, nur nicht so dünn. Jedenfalls bilde ich mir das ein. Auf dem menschenleeren Gipfel angekommen, umkreisen Arthur und ich zunächst das ehemals streng bewachte Areal.

„Bevor wir uns das näher anschauen“, sagt er, „muss ich mich erst mal setzen und für ein paar Minuten meinen Kopf abnehmen. Als Löwe hat man’s nicht leicht.“

Auf der Westseite des doppelt umzäunten, von allerlei Schlingpflanzen überwucherten Komplexes verläuft ein schmaler Weg. Wir setzen uns auf den kalten Waldboden. Mein Freund nimmt, wie angekündigt, die Maske ab. Mit hochrotem Kopf atmet er einige Male tief durch, ein verschwitzter Footballspieler ohne Helm zwischen zwei Spielzügen.

„Das ist ja wie der Garten Eden hier“, sage ich. „Ein englischer Garten ohne englischen Gärtner.“

„Hier werden noch Blumen gepflanzt statt Kartoffeln. Wie überall sonst in diesem verdammten Kartoffelland.“

Just another Tequila Sunset: Der Blick ins Tal ist – für Berliner Verhältnisse – atemberaubend. Das sind ja fast Peer Gynt-Landschaften, denke ich, und empfinde auf einmal ein warmes Glücksgefühl. Erstmals seit der judäischen Wüste, diesem Regenschattenland, wo wir bei durch und durch kapitalistischen Beduinen schliefen, hat die Natur wieder eine derartige Wirkung auf mich. Ich sehe ein Segelboot auf dem Wasser, die Sonne fällt in die Havel – doch diesmal ist es kein Höllenlicht wie in meinem Traum, es hat vielmehr etwas Sublimes, zu dem der goldene Tequila und das Fieber fraglos ihr Teil beitragen. Ein Western-Setting. Das Licht des Westens in Berlin, wo man noch bis kurz nach der großen Geburtstagssause mit Tour de France, Parallelslalom und Feuerwerk in allen vier Himmelsrichtungen gen Osten blickte. Wir sitzen ziemlich lange an dieser Stelle, schweigend, trinkend, ich denke an Dschingis Kahn, an Pocahontas, an Arthurs allerschönste Frau, und irgendwann, da sich der Teufelsberg langsam in Finsternis hüllt, setzt mein Begleiter den Löwenkopf wieder auf.

„So“, sagt er, „jetzt müssen wir nur noch ein Loch in diesem Zaun finden. Oder einen Tunnel graben.“

„Darf ich was fragen?“

„Klar.“

„Hältst du es auch nur ansatzweise für möglich – und ich spreche hier von einem gerade noch im Bereich des Messbaren liegenden Wahrscheinlichkeitsgrad –, dass sich deine schwangere Freundin momentan, also am Halloween-Abend, in dieser ausrangierten amerikanischen Abhörstation auf dem Teufelsberg aufhalten könnte?“

„Ich sagte doch bereits: Charlotte ist nicht wie die anderen. Sie ist, na ja, anders.“

Als ich gerade nachhaken will, hören wir plötzlich, gut vernehmbar, ein Geräusch – ein Knacken im Unterholz und eine Art Stöhnen, das man mit Worten kaum beschreiben kann. Jedenfalls ist es kein menschliches Stöhnen.

„Psst!“ zischt Arthur.

Wir erstarren.

[Der Spuk geht weiter vielleicht im nächsten Post...]

Donnerstag, 1. November 2007