Freitag, 5. Oktober 2007

Le Bateau Ivre II

„Schneller, wir müssen schneller fahren!“

„Arthur, das ist bloß ein Tretboot.“

Charlotte lacht. Sie liegt in einem Liegestuhl und sonnt sich, während ihr Freund und ich wie Galeerensklaven schuften. Obwohl wir bereits erste Schweißtropfen vergießen, kommt das Boot kaum von der Stelle. Arthur feuert uns immer wieder energisch an.

„Auch ein Tretboot kann fliegen, wenn man nur leidenschaftlich genug in die Pedale tritt!“ ruft er. „Mein Gott, das Echolot ist auf einmal verstummt!“

„Was hast du da gerade genommen, Arthur?“ will Charlotte plötzlich wissen.

„Gar nichts.“

„Doch.“ Sie schaut ein wenig irritiert. „Ich hab’ gesehen, wie du deinen Finger in die Tasche gesteckt hast und ihn danach abgeleckt hast.“

„Traubenzucker“, erwidert Arthur.

Charlotte schweigt.

„Wir werden dich den Fischen zum Fraß vorwerfen“, sage ich.

Ich habe nichts gesehen. Mein Freund, das muss man anerkennen, tritt nicht nur mit Verve in die Pedale, sondern bedient auch das Ruder wie ein auf allen Weltmeeren heimischer Skipper. Steuerbord ragt das verfallene Riesenrad aus dem Plänterwald heraus. Es dreht sich nicht. Der alte Vergnügungspark ist seit Jahren geschlossen, was, wenn ich mich recht erinnere, nicht zuletzt damit zusammenhängt, dass der wegen diverser Unregelmäßigkeiten ins Visier von Ermittlern geratene ehemalige Betreiber einige der Fahrgeschäfte gekidnappt und nach Südamerika verschoben hat. Wie auch immer er das anstellen konnte. Ich meine, wie verschifft man heimlich eine Achterbahn? Wir sehen: Rauchende Fabrikschlote am Horizont, ein rotes Wasserflugzeug, das hier vor Anker liegt – und ein Schild: „Durchfahrt zur Liebesinsel verboten“.

„Verdammt“, sagt Arthur, „diese Insel hätte ich ja gern gesehen. Wir müssen umkehren.“

„Das Ende der Welt liegt sowieso in der anderen Richtung“, bemerke ich.

„Die Ostsee auch“, ergänzt Charlotte mit müder Stimme.

„Vielleicht“, sagt Arthur, „ist dort am Ende der Welt gar kein Abgrund, sondern die Pforte zu einer neuen, besseren Welt – der Bionade-Welt, wo alle Menschen immerzu Bionade trinken und kein Bier, und sich einfach, na ja, besser fühlen. Da laden wir dann Charlotte ab. Und Kiki auch.“

Tell me, how could I let go
since I caught a glimpse of your immense soul?

Nach einem eleganten Wendemanöver steuert unser Boot nun Richtung Innenstadt. Arthur strampelt scheinbar mühelos, ich kann gerade noch so mithalten. Er holt eine Wodkaflasche aus seiner Tasche und bietet mir davon an.

„Der ist so scharf, der gehört hinter Gitter“, sagt er.

„Ich wette, der ist geklaut. Du landest bald hinter Gittern.“

„Stimmt.“ Arthur lacht.

Ich nehme einen großen Schluck, mein Freund setzt die Flasche gar nicht mehr von den Lippen.

„Wir fahren nach Äthiopien“, brüllt er, so dass ein Pärchen auf einem vorbeifahrenden Ruderboot sichtlich zusammenzuckt.

„Ich frage mich, wer auf der Liebesinsel wohnt“, sinniert Charlotte.

„Dodi und Di“, entgegnet Arthur. „Als Zombies.“

„Pete und Kate“, sage ich. „Als Zombies.“

„Pete Doherty möchte ich nie wieder sehen oder hören.“

„Natürlich nicht, Charlotte“, sage ich. „Eigentlich will niemand von Pete noch irgend etwas sehen oder hören. Pete Doherty ist die Paris Hilton des Rock’n Roll. Aber die Songs, die Songs will man dann – im Gegensatz zu den Liedern der Hilton – eben doch hören.“

„Mir ist schon bessere Musik untergekommen“, bemerkt Arthur.

„Auf dem neuen Babyshambles-Album“, sage ich atemlos, „ist ein wirklich hinreißendes Abschiedslied für Kate Moss: There She Goes. Pete fragt sich da, wie er sie hätte gehen lassen können, als er sie tanzen sah – zu Northern Soul – und dabei einen kurzen Blick auf ihre Seele erhaschen durfte. Von dem Moment an war er geliefert und musste einfach mit ihr zusammenbleiben.“

„Lieber Kate und Northern Soul als Diana und Duran Duran.“

„Kate Moss hat die spitzen Zähnchen einer Feld- und Wiesenmaus“, konstatiert Charlotte freundlich.

„In der zweiten Strophe beschreibt Pete dann, wie Kate durch seine Wohnungstür trat und mehr Stoff, als er jemals zuvor gesehen hatte, aus ihrer Handtasche hervorholte. Ein weiterer Grund, sie nicht gehen zu lassen.“

„Zweifellos das entscheidende Motiv“, sagt die schwangere Dame im Heckbereich.

„Nur weil er ständig von William Blake redet“, sagt Arthur, „ist Pete noch lange kein Romantiker.“

„Aber allein die Tatsache, dass er ein Junkie und Exhibitionist und, vor allem, ein Idiot ist“, sage ich, „heißt noch lange nicht, dass er kein Romantiker ist. Viele große Romantiker waren Junkies, Exhibitionisten und Idioten. Schau uns an.“

„Wir haben diese Frage doch schon in Eilat diskutiert. Kate hat nach der letzten und endgültigen Trennung alle seine Liebesbriefe verbrannt. Hätte ich auch gemacht.“

„Das solltest du sowieso mal machen“, sagt Charlotte.

„Jetzt geht das schon wieder los. Außerdem schreibt mir Pete nicht so oft.“

Arthur tritt unentwegt in die Pedale, wie ein Bergspezialist bei der Tour de France. Dabei kann er seinen Oberkörper nicht stillhalten und zuckt immer wieder epileptisch zusammen. Er schwitzt wesentlich stärker als ich. Vom Ufer dringt der Duft von Räucherfisch an unsere Nasen, wir steuern auf die stählerne S-Bahnbrücke zu.

„Okay“, sage ich, obwohl ich eigentlich meine ganze Kraft dafür verwenden müsste, nicht aus dem Tritt zu kommen, „jeder nennt einen großen Break-Up-Song. Mein Beitrag war There She Goes.“

„‚Layla’ von Eric Clapton“, erwidert Charlotte.

Arthur schüttelt den Kopf: „Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe.“

Seine Freundin tritt ihm mit voller Wucht ins Kreuz. Er schreit auf.

„Was Arthur sagen will“, doziere ich, „ist folgendes: ‚Layla’ ist – wie so viele grandiose Musikstücke – kein Break-Up-Song, sondern eher eine Art Come-Back-To-Me-Song. Eric Clapton fällt ja mit diesem Lied erklärtermaßen auf die Knie, um die Rückkehr seiner großen Liebe zu erwirken. Naturgemäß vergeblich. Allerdings konnte er den Song später an Opel verkaufen.“

„Das habe ich schon verstanden. Dann eben ‚Visions of Johanna’ von Dylan.“

„Sehr gut“, lobt Arthur.

„Exzellente Wahl.“

„Ich hasse euch“, sagt Charlotte.

Unser Steuermann reißt sich das Joy Division-T-Shirt vom Leib und wirft es seiner Freundin ins Gesicht, die es daraufhin – von Arthur unbemerkt – ins Wasser fallen lässt. Ich sage nichts.

„Ich persönlich“, stößt er nach kurzer Bedenkzeit hervor, „entscheide mich für Eamon – ‚Fuck it (I don’t want you back)’. Tolles Video. Leckere Pizza.“

„Das müssen wir wohl gelten lassen“, entgegne ich, während der Wodka mir bereits das Hirn vernebelt und mein Freund vor entfesselter Energie fast zu platzen droht. Die Augen weit aufgerissen, wie Dianas zugedröhnter Chauffeur auf dem finalen Foto wenige Sekunden vor dem Crash, erhöht er noch mal die Schlagzahl. Unser Tretboot fährt zwar schneller als alle anderen Tret- oder Ruderboote auf diesem Gewässer, viel, viel schneller sogar, das Tempo bleibt jedoch eher bescheiden. Ich brauche dringend eine Pause und lege für einen Moment die Beine hoch. Arthur merkt es gar nicht, er tritt einfach weiter in die Pedale. Auf der Elsenbrücke prangt ein Graffito: „Love is the White Dove of Peace.“

„Was für eine widerliche Hippie-Scheiße“, kommentiert mein Freund. „Das Gegenteil ist wahr.“

You were dancing to Northern Soul

Unter der Brücke ist nicht viel Platz, dafür gibt es ein schönes Echo, das uns sofort dazu verführt, „Lady in Red“ anzustimmen. Charlotte hält sich zunächst die Ohren zu, summt dann aber ebenfalls leise mit. Die Angler am Ufer sind hocherfreut. Auf der anderen Seite – wir nähern uns der Monumentalskulptur Molecule Man – greift Arthur in die Handtasche seiner Freundin, durchwühlt diese hektisch und holt ihren Lippenstift heraus. Bevor sie ihm den Stift entreißen kann, hat er sich bereits ein rotes Kreuz auf seine Brust gemalt.

„Kriegsbemalung“, sagt er und nimmt einen Schluck Feuerwasser, „wir müssen auf alles gefasst sein. Wie viele Menschen hier wohl still ertrunken sind?“

„Wir sollten bald wieder umkehren“, sage ich. „Die Stunde ist fast vorbei. Außerdem regnet es gleich.“

Der Himmel verdunkelt sich in der Tat, doch der halbnackte, am Rücken immer noch katzenzerkratzte Arthur, dem die Schminke binnen Sekunden auf der Haut zerfließt, scheint nicht zu frieren.

„Falsch“, sagt er. „Wir fahren weiter. Immer weiter. Es wartet die bessere Welt.“

Da selbst Charlotte keinen Einspruch erhebt und ich mich angenehm betrunken fühle, kommt es zu keiner Kursänderung. Unser Steuermann lenkt das Boot zwischen den Beinen einer der drei aus dem Wasser ragenden Molecule-Man-Figuren – jener, die angeblich den Bezirk Friedrichshain repräsentieren soll – hindurch. Äußerst stramme Waden sind das, durchlöchert wie die Arme des Pete Doherty. Arthur versucht zur Abwechslung, im Stehen zu strampeln, und fällt dabei beinahe ins Wasser, während links der stillgelegte Osthafen und ein paar lieblos kolorierte Semi-Plattenbauten vorbeiziehen.

„Ich habe übrigens eine Theorie aufgestellt.“ Er setzt sich wieder hin.

„Wir hören“, sagt Charlotte.

„Ich nicht“, sage ich.

„Sie basiert auf der bekannten so genannten Broken Window-Theorie. Ist diese euch ein Begriff?“

Ich fürchte, wenn wir Arthur nicht bald stoppen, wird er nun stundenlang das uferlose Balagan in seinem Kopf ausbreiten und die allgemeine Unordnung auf diese Weise noch vergrößern. Obgleich Charlotte und ich seine Frage bejaht haben, fährt er unbeirrt fort:

„Die Ausgangslage ist folgende: Ein Grundstück ist verlassen. Überall wächst Unkraut. Und, jetzt kommt’s, eine Scheibe wird eingeschlagen. Die Erwachsenen schelten lärmende Kinder nicht mehr. Die Kinder, dadurch ermutigt, werden rebellischer. Familien ziehen aus. Ungebundene“, Arthur malt an dieser Stelle Anführungszeichen in die Luft, „ungebundene Erwachsene ziehen ein. Jugendliche treffen sich vor dem Laden an der Ecke. Der Ladenbesitzer fordert sie auf, wegzugehen. Sie weigern sich. Es kommt zu Auseinandersetzungen. Abfall häuft sich...“

„Ich glaube, das reicht“, unterbreche ich ihn, „wir haben verstanden.“

„Falle ich dir etwa ständig ins Wort? Also: Der Laden an der Ecke. Die Leute beginnen vor dem Laden zu trinken. Erst Bier. Dann Wein. Dann Schnaps. Und dann stürzt ein Betrunkener auf dem Bürgersteig, darf liegen bleiben und mal eben seinen Rausch ausschlafen. Fußgänger werden von Bettlern angesprochen.“ Arthur redet nun wie im Fieberwahn, formt die Silben nicht immer verständlich. „Der Punkt ist“, sagt er, „all das hätte verhindert werden können, wenn nur irgendjemand dieses verdammte zerbrochene Fenster repariert hätte!“

„Wir danken für diese kriminologischen Erkenntnisse“, erwidert Charlotte. „In Manhattan ist es jetzt auch viel schöner und sauberer.“

„Versteht ihr denn nicht?“ Arthur nimmt einen Schluck aus der Flasche. „Die Zerstörung von Fensterscheiben geschieht nicht deshalb übermäßig oft in einer Gegend, weil dort viele Zerstörer von Fensterscheiben leben, während sich in anderen Gegenden Fensterscheibenliebhaber aufhalten. Es ist vielmehr so, dass ein nicht wieder in Stand gesetztes Fenster ein Zeichen, ein grelles Symbol dafür ist, dass an diesem Ort keine Menschenseele an einem zerbrochenen Fenster überhaupt Anstoß nimmt. So können letztlich beliebig viele Fenster zerstört werden, ohne dass damit gerechnet werden muss, jemals für den Schaden aufzukommen. Es macht ja auch eine Menge Spaß, Fenster zu zerstören.“

„Könnte ich bitte mal den Wodka haben?“

Arthur lächelt selbstgerecht: „Ich habe mir nun in einer Mußestunde überlegt, diese urbanistisch-kriminologische Theorie gewissermaßen auf die Topographie der Herzen zu übertragen.“

„Du hast nur Mußestunden“, sagt Charlotte.

„Ich nenne mein Konzept die Broken Heart Theory. Versteht ihr? Das ist doch ganz ähnlich: Ein Mensch wird verlassen. Überall wachsen emotionales Unkraut und Verzweiflung. Nicht das Fenster, sein Herz ist zerbrochen. Er wird immer gleichgültiger gegen das, was um ihn herum passiert – seien es lärmende Kinder, die Probleme seiner Freunde oder der Genozid in Darfur. Dieser Mensch kümmert sich nur noch um sein gebrochenes Herz, ist aber natürlich nicht in der Lage, es zu reparieren.“ Arthur keucht wie ein Asthmakranker. „Die Verwahrlosung schreitet voran. Trunksucht. Drogen. Selbstzerstörung und Aggression auf allen Ebenen. Schmutz. Müll. Außerdem hat unser armer Mensch immerzu panische Angst, dass dieses eine zerbrochene Fenster – sein Herz –, falls es irgendwann einmal notdürftig geflickt sein sollte, sofort wieder zerbrochen werden könnte. Von irgendeinem Vandalen der Liebe. Und deshalb wird er lieber selbst zum Herzensbrecher. Am Ende dieses komplizierten Prozesses sind alle Fenster und alle Herzen zerbrochen und alle Menschen trinken nichts als Schnaps. Quod erat demonstrandum.“

Erstmals seit Anbruch unserer Fahrt hält Arthur einen Moment inne. Er wischt sich den Schweiß vom Gesicht.

„Wieso redest du eigentlich ständig von gebrochenen Herzen?“ fragt Charlotte – weder naiv, noch vorwurfsvoll.

„Überall MTV-Arschlöcher“, erwidert unser Steuermann und deutet auf die entsprechenden Gebäude zu unserer Rechten. „Sobald wir die Oberbaumbrücke passiert haben, sind wir sicher.“

„Vor den MTV-Arschlöchern?“

„Vor dem Tretbootverleiher. Du glaubst doch nicht, dass ich dieses Prachtexemplar von einem Schnellboot jemals wieder zurückgeben werde?“

Ich atme tief durch: „Arthur, was hast du schon wieder genommen? Der Typ hat meinen Personalausweis. Er wird uns die Wasserschutzpolizei hinterherschicken.“

„Aber wir werden schneller sein.“

„Mir ist kalt“, sagt Charlotte, „lasst uns zurückfahren. Bitte.“

„Wir tun das hier auch für dich und unser Kind“, entgegnet Arthur. „Kiki hat eine neue, bessere Welt verdient.“

There she goes a little heartache. There she goes a little pain.

Unsere kleine Barkasse befindet sich nun kurz vor der Backsteinbrücke, über die gerade eine U-Bahn poltert, und an der Brücke hängt ein Schild, welches unmissverständlich verkündet, dass Boote mit weniger als fünf PS diese auf keinen Fall unterfahren dürften. Ich versuche das Ruder zu übernehmen, um eine sofortige Wende zu veranlassen, doch Arthur, der schon immer stärker war als ich, wehrt sich mit aller Gewalt. Die Folge: Stillstand, mitten auf der Spree. Im selben Moment ertönt ein Schiffshorn, ein gar nicht mal kleiner Ausflugsdampfer kommt uns entgegen. Mein Freund ist erstaunlicherweise noch so geistesgegenwärtig, das Ruder sofort Richtung Steuerbord umzureißen. Charlotte schreit auf, die Hände auf ihrem Bauch. Der Kapitän des feindlichen Schiffs brüllt irgend etwas herüber, Touristen fotografieren uns mit Einwegkameras. Mein Freund zeigt mit beiden Zeigefingern herausfordernd auf seine Kriegsbemalung.

„Schiffe versenken!“ ruft er den erschrockenen Provinzlern zu. „Das hättet ihr wohl gern, ihr feigen Wichser! Aber wir fliehen, umkreist von elektrischen Monden, Seepferde jagen hinter uns her, Glutstrahlen stechen wie stählerne Sonden übers magnetisch gespaltene Meer!“

Er prostet ihnen mit der Wodkaflasche zu. Niemand prostet zurück, obgleich auf solchen Schiffen ja bekanntlich maßlos viel getrunken wird. Die Bugwelle des Touristendampfers verpasst uns noch mal einen ordentlichen Schwung, der das Tretboot unter der Oberbaumbrücke hindurchspült. Ich habe jegliche Bewegung eingestellt und trinke lieber Schnaps. Charlotte ist in eine Art Starre verfallen. Sie wehrt sich nicht mal, als Arthur ihr blankes Knie tätschelt.

„Wo ist eigentlich mein T-Shirt?“ fragt er. „War das nicht gerade ein Delphin?“

Und so treiben wir dahin, vom gleichmütigen Strom getragen, trunken und still. Einzig Arthur gibt mitunter ein paar Wortfetzen von sich. Wir treten nun wieder zu zweit in die Pedale, was bleibt mir auch anderes übrig. Die East Side Gallery zieht Bild für Bild vorbei. Eine Bierreklame auf der Leinwand vor der im Bau befindlichen 02 World gleicht in ihrem göttlichen Glanz einer Marienerscheinung. Ich merke, dass ich unmenschlichen Durst habe.

„02 vielmehr: die Anschutz Entertainment Group will hier einen Jachthafen bauen“, sagt Arthur. „Ich könnte kotzen.“

„Ich auch“, sagt Charlotte, aber ich fürchte, sie meint nicht den Jachthafen.

„Der Wodka ist alle.“ Unser Steuermann wirft die leere Flasche gegen die freundlicherweise ebenfalls von 02 errichtete Uferbefestigung. „Wir müssen irgendwo einkehren.“

„Wie wär’s mit der Charité?“

„Seht ihr das grüne Licht da hinten?“ Arthur streckt seinen Arm im Stile eines Feldherren über dem Wasser aus. „Das ist unsere Bar. Die warten schon auf uns.“

Ich kann zwar kein grünes Licht erkennen, doch wahrscheinlich meint er die beliebte Bar am Ufer, die nach ihrer Hausnummer benannt ist, wo spanische Touristen – und bisweilen auch Arthur und ich – eher ungern gesehen sind. „Have a good life!” hat die Türsteherin mal zu uns gesagt. Zur Begrüßung.

Arthur strahlt: „So müssen sich die ersten Siedler gefühlt haben, als sie in der Neuen Welt anlegten. Der Bionade-Welt. Diese Menschen hatten noch die Fähigkeit, zu staunen. Die habt ihr beide völlig verloren. Wisst ihr überhaupt, dass die blauen Pferde dort am Horizont vom Regenbogen gezügelt sind?“

„Es ist nur eine Bar“, sage ich.

Nur eine Bar?“

Während wir noch mitten auf dem Wasser treiben und vermutlich längst polizeilich gesucht werden, stehe ich auf, hocke mich neben Charlotte in den Heckbereich und lege den Arm um sie.

„Wir streiken“, sagt sie mit blitzenden Augen.

„Exakt“, sage ich. „Wir fahren jetzt sofort zurück.“

Arthur dreht sich um, lächelnd, die Pupillen größer als Tellermienen. Er klopft dreimal mit den Fingern auf das Plastikboot, wie es manche Kneipenbesucher zum Abschied tun, und sagt freundlich: „Gut, dann gehe ich eben alleine in die Bar.“

Und schneller als Charlotte, die, glaube ich, mit den Tränen kämpft, und ich, der, glaube ich, gleich kotzen muss, es überhaupt realisieren können, schneller als die ersten Regentropfen in die Spree fallen, ist Arthur schon ins Wasser gesprungen, mit Hose und Schuhen und ohne Verstand. Ein paar Liter schwarzer Schmutz schwappen ins Boot. Wir schauen ihm hinterher: Er krault wie ein Weltmeister, schwimmt auf die Uferbar zu, das grüne Licht in seinem Kopf. Charlotte und ich bleiben sitzen, unser Tretboot tanzt auf den Wogen, leicht wie Kork.

There he goes, sagt Arthurs Freundin.

15 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

So eine Behandlung lässt sich doch keine Frau gefallen! Eine schwangere schon gar nicht. Völlig unrealistisch. Und ein Tretboot wird dergestalt gesteuert, dass ein Tretender schneller, der andere dagegen langsamer oder rückwärts tritt. Demnach wäre das Boot unserer drei Freunde im Kreis gefahren! Ich lass mich doch nicht verarschen. Bei der Liebe Gottes, gebt Charlotte einen Hund!

Anonym hat gesagt…

Ach Freddie, alte Landratte! Leider merkt man allzu deutlich, dass Dein heroischer Urahn kein Admiral in des Führers Kriegsmarine war. Denn ein Tretboot wird für gewöhnlich sehr wohl mittels eines Ruders gesteuert, und demnach kann gar keine Rede davon sein, dass irgendwer im Kreis hätte fahren müssen. Zudem bin ich überzeugt, dass beinahe alle Frauen - insbesondere schwangere - derart romantische Bootspartien nachgerade ersehnen! Probier's also einfach mal aus! Ich jedenfalls freue mich bereits sehr auf "Le Bateau Ivre III". Oder eben auf "Wilhelm Gustloff I". Oder "Panzerkreuzer Potemkin I". Tiere hingegen sind und bleiben vollkommen überflüssig, abgesehen vielleicht von Delphinen. Wir sind hier ja nicht bei Rilke!

Anonym hat gesagt…

Tretboote (schweizerisch auch: Pedalos) sind heutzutage hauptsächlich im Freizeitbereich anzutreffen. Die Bezeichnung Tretboot geht auf die Art des Antriebs zurück. Meist werden Tretboote durch die auf eine Art Kurbelwelle einwirkende Beinkraft von zwei Personen angetrieben. Die eingeleitete Beinkraft wird über eine Antriebskette auf ein Schaufelrad weitergeleitet, welches sich meist am Heck des Tretboots befindet. Am Heck befinden sich ebenso die Ruder, welche über ein Gestänge synchronisiert und über ein Lenkrad sowie Seilzüge oder ein Gestänge angesteuert werden.
Inhaltsverzeichnis.

Tretboote zeichnen sich zumeist dadurch aus, dass sie sehr robust gebaut sind, um auch bei der Benutzung durch „Landratten“ keinen Schaden zu nehmen. So besteht der Rumpf eines Tretboots meist aus Aluminium oder glasfaserverstärktem Kunststoff, was ihn sehr widerstandsfähig macht. Weitere Maßnahmen, um eventuelle Schäden an Mensch und Boot zu begrenzen, sind das sehr robust ausgelegte Schaufelrad, sowie die Rumpfform, welche die Maximalgeschwindigkeit eines Tretbootes auf etwa Schrittgeschwindigkeit begrenzt.

Anonym hat gesagt…

Was heißt hier eigentlich "gefallen lassen"! Die drei befinden sich mitten auf offener See -- in einem "unsternbedrohten" Boot. Was, bitte, soll Charlotte denn machen? Außerdem wird man ja sehen, welchen Preis A. M. dafür zu zahlen hat. Abgerechnet wird am Schluß. Hoffe ich zumindest.

Anonym hat gesagt…

Lieber möchte ich unter dem Kommando des einarmigen Hans Hube an der Ostfront dienen und mir von den asiatischen Horden den Arsch wegballern lassen als noch einmal erleben zu müssen, dass vollkommen geistlose Subjekte den letzten Rest meines Verstandes durch als Kommentar ausgegebene Wikipedia-Artikel zu zerrütten trachten! Meine Fresse! DAFÜR wird ein Preis zu zahlen sein! Oder eher ein veritabler Blutzoll!

Freddie Jones hat gesagt…

Ich gebe zu, mittels eines Ruders gesteuerte Tretboote mag es geben. So wie sich das bei Hans Castrop liest, ist des Führers Kriegsmarine jedenfalls auch in Tretbooten dem Feind gegenüber getreten. Da wird ein Ruder sicher geholfen haben.

Natürlich hätte Charlotte nicht auf offener See das Boot verlassen können, ihre Fehler hat sie schon vorher begangen.
Zunächst der Sex mit Arthur, um etwas weiter auszuholen. Was mag sie dazu bewogen haben? Ist sie von etwas grobschlächtigeren Männern fasziniert? Findet sie Gefallen daran, sich schlecht behandeln zu lassen?
Und was Charlotte hätte machen können, ist ja wohl ganz klar: Schluss machen, noch während des Israel-Aufenthalts dieses schwitzenden, unsensiblen und "verfressenen Psychopathen". Jedenfalls nicht in ein Tretboot steigen als Schwangere mit zwei Säufern. Ich finde die Motive von Charlotte, wie sie sich uns darstellen, etwas dürftig.

Anonym hat gesagt…

Freddie, besoffener Leichtmatrose! Niemals habe ich suggeriert, die ruhmreiche Reichskriegsmarine sei dem Feind in Tretbooten entgegengestrampelt! Das hatte sie auch wirklich nicht nötig, verfügte sie doch über das legendäre Kleinst-U-Boot "Neger". Der zauberhafte Name dieses Einmann-Torpedos ist übrigens auf den Erfinder, den Marinebaurat Richard Mohr, zurückzuführen. Und bevor es nun Beschwerden hagelt: Ja, diese Information entnehme ich der bekannten Weltnetz-Enzyklopädie Wikipedia! Und es ist mir gänzlich gleichgültig, ob das homosexuellen Pizzabäckern wie Aguirre in den Kram passt oder nicht! Ferner denke ich, Arthur Müller sollte jenes schwangere Monstrum unbedingt und umgehend verlassen! Denn ER ist derjenige, der hier über Gebühr zu leiden hat! Du hingegen, Mr. Jones, argumentierst ja schon ebenso verständnislos und verdreht wie einst Konrad. Wo "steckt" der eigentlich?

Anonym hat gesagt…

Gerne würde auch ich mehr über Charlottes Motive erfahren, Faszination für grobschlächtige Männer ist ja nur ein Beweggrund, wenn sich diese mit Sensibilität paart.
Es wäre ja möglich, dass Arthur – wenn er gerade nicht seinem Unstern, dem grünen Licht in seinem Kopf folgt – Glückskekse backt oder Charlotte morgens ein zwar aufgeweichtes, aber liebevoll zubereitetes Sandwich auf den Weg in ihre Agentur gibt.
Entweder existiert diese Seite und wurde dem Leser vorenthalten oder Charlotte ist nicht zu retten und so unglaubwürdig wie Eva Hermann, ohne natürlich so erbärmlich zu sein.
Hatte sie ziemliche Probleme in ihrer Kindheit, ein dominanter Vater etwa?
Anstatt eines Hundes empfehle ich eine Therapie.
Ich mag ja Arthur, kann mich auch nur schwer der Strahlkraft entziehen, die der "Symbiose aus Glanz und Elend" entspringt, niemals wäre ich aber mit diesem Arschloch zusammen.
Und würde meine Verlassenheit durch hilflose CD-Zertrümmerungen und durch nicht beachtete Kommentare à la "Mir-ist-kalt. Lasst uns zurückfahren. Bitte" kundtun.
Oder willst Du uns erzählen, dass mit der Schwangerschaft die hermannsche "Weibliche Selbstbestimmung" zu ihrer Vollendung und damit zu ihrem Ende gelangt, die Schwangere einem angeblichen Wohl des Kindes zuliebe auf Gedeih und Verderb an den Erzeuger kettet?

Anonym hat gesagt…

Aus sicherer Quelle ist mir bekannt, dass Charlottes Großvater als Admiral der französischen Marine eine U-Bootflotte namens Amazone kommandierte, die alle kleinen Negerlein, die sich in den Weltmeeren verirrt hatten, wegfegte. (Ja, das könnt ihr bei Wikipedia nachschlagen.)
Charlotte sollte sich auf diese Tugenden rückbesinnen und selbst im neunten Monat die Kontrolle über ein armseliges Tretboot übernehmen können, das von zwei Trunkenbolden gesteuert wird.

Anonym hat gesagt…

Ich glaube ja, dass Arthur auf jeden Fall noch eine andere Seite hat, auch gegenüber Charlotte. Aber haben wir die beiden jemals zu zweit erlebt? Nein, alles wird imer gefiltert durch diesen seltsamen Erzähler, der offenbar selbst eine Art Love Affair zu seinem besten Freund pflegt. Mit ähnlich masochistischen Tendenzen wie Charlotte übrigens. Der homoerotische Subtext ist unschwer zu verkennen. In der email-Korrespondenz zwischen Arthur und seiner Freundin kam aber zumindest momentweise etwas zum Vorschein, dass Charlottes Bleiben vielleicht ansatzweise erklären könnte, ohne gleich Eva Hermann bemühen zu müssen (das Eva-Prinzip ist nicht das Charlotte-Prinzip, auch wenn es manchmal so aussehen mag). Ob das reicht? Ich glaube nicht. Selbst wenn Charlotte idiotischerweise (oder einfach aus verzweifelter Liebe heraus?) bei Arthur bleibt, wird er nicht ewig bei ihr bleiben können. Ich kann mir das gar nicht vorstellen. Außerdem gibt es ja noch Klara. Den Unstern. Für Arthur und für Charlotte. Zu Euren bizarren Marine-Diskussionen äußere ich mich nächstes Mal. Oder nie.

Anonym hat gesagt…

Lieber S., ich kann Deinem Argwohn nur beipflichten, dass der Erzähler Arthur stets als Stellvertreter benutzt, um seine eigenen Fantasien von Verantwortungs- und Rücksichtslosigkeit auszuleben.
Dabei bleibt er der ewig Verständnisvolle, derjenige, der die Arme schützend um Charlotte breitet, wenn diese sich wieder nicht gegen Arthurs Rohheiten zu wehren weiß. Ein perfides Spiel.

Anonym hat gesagt…

Liebe Klarabelle, auch ich kann Dir nur beipflichten. Aber was mich noch mehr interessieren würde als der latent impotente Erzähler: Wie stellst Du Dir eigentlich Klara vor? (Natürlich kann auch jede/r andere auf diese Frage antworten, aber ich glaube, Klarabelle weiß mehr als wir. Und vom "Ich" erfährt man ja nichts...)

? hat gesagt…

Super_Mark, so sehr ich Dich (unbekannterweise?) schätze, muss ich Deinen defätistischen Kommentar zu dieser für Balagan Blues ansonsten höchst erfreulichen Debatte leider in den virtuellen Papierkorb wandern lassen. Sorry. Dafür mag ich meine Figuren einfach zu sehr. Charlotte, c'est moi.

Anonym hat gesagt…

Ich weiß zwar mehr, aber wie das Orakel von Delphi werde ich die Wahrheit nur so enthüllt und verschleiert preisgeben, dass die Ratsuchenden in die Irre geführt und in ihr Schicksal verstrickt werden.

Hierfür biete ich 6 Glückskekse an, mindestens einer enthält die Wahrheit:

Keks 1: Klara hasst Hunde.

Keks 2: Klara besitzt eine Katze.

Keks 3: Klara ist 170 cm groß und Arthur begegnet ihr manchmal im Hausflur, wenn sie Briefe austrägt. Sie war mal die coolste Sau in Arthurs Gymnasium. Erst gab es einen Kuss, dann ein bisschen Sex, der für Teenie-Sex erstaunlich gut war, wenn auch nicht so gut wie in Arthurs Erinnerung. Doch noch vor dem Abitur zog sie mit ihrer Familie in die Staaten.
Gut zehn Jahre, eine Schwangerschaft und eine gescheiterte Ehe später ist sie zurück in ihre Heimatstadt Berlin gekehrt. Von Fastfood und enttäuschten Erwartungen aufgedunsen und niedergedrückt, hat sie ihre einstige Grazie vollständig eingebüßt. Unmöglich sie mit ihrer tief ins Gesicht gezogenen Postboten-Mütze wieder zu erkennen.

Keks 4: Klara besitzt einen Python.

Keks 5: Klara ist 179 groß und heißt eigentlich Kate. Nach der Trennung von Pete, wendete sie sich wieder ihrem Ex-Freund Johnny Depp zu, wozu sie diesen erstmal seiner französischen Frau, der fragilen Vanessa Paradis, und den zwei gemeinsamen Kindern abspenstig machte.
Kürzlich musste sie aus Versehen an ihre kleine Berlin-Affäre, cute, german Arthur denken, als in den Nachrichten über das peinliche Deutschland und seine unendlichen Bahnstreiks berichtet wurde. Amüsiert erinnerte sie sich seiner Eigenart, Alles in Windeseile aufzuessen, doch dann kümmerte sie sich wieder um Johnny und ihre Line.

Keks 6: Vor vielen Monaten spielte sich folgende Szene ab: Arthur und der Erzähler, Charlotte und noch ein paar Freunde gingen zusammen aus. Zwischen Arthur und Charlotte brach ein Streit aus, in dessen Folge sich Charlotte hemmungslos mit Wodka betrank und Trost in den Armen des Erzählers suchte. Kurz, dieser – ebenfalls betrunken, aber von wegen latent impotent – zeugte Dimona.
Selbstverständlich ist Arthur ahnungslos, niemals verfiele er in seiner Egozentrik auf den Gedanken, ein anderer könnte der Vater sein.
Doch das Schlimmste, auch Charlotte weiß nichts davon. Am darauffolgenden Tag hatte sie keine Ahnung mehr, wie sie nach Hause gekommen war, konnte sich an die letzten 10 Stunden rein gar nicht erinnern, was sonst eigentlich nicht ihre Art war, nur die starken Kopfschmerzen waren ein Zeugnis der Nacht.
Allerdings hat sie seitdem einen starken Widerwillen gegen Wodka entwickelt und trinkt ausschließlich Bionade.

Ich hoffe, lieber S., Du kannst in den Keksen lesen,
aber glaube nicht, Du würdest Deinem Unstern entkommen.

Anonym hat gesagt…

Hab Dank, Orakel. Ich verstehe zwar nicht ganz, wieso ich ausgerechnet in Keksen lesen soll und nicht etwa in den Sternen oder Bionadeflaschen, aber jetzt kann ich mir Clara schon besser vorstellen. Mir schwebt dabei eine Kombination aus Keks Eins und Keks Sechs vor. Werde mir noch mal Gedanken machen.