Dienstag, 2. Oktober 2007

Le Bateau Ivre I

„Delphine in der Ostsee“, sage ich. „Als Folge des Klimawandels. Habt ihr das gelesen?“

„Delphine ist auch ein schöner, altmodischer, französischer Vorname“, bemerkt Charlotte.

Arthur bleibt abrupt stehen: „Hallo? Erde an Charlotte? Wie oft soll ich es noch sagen: Unsere Tochter wird keinen französischen Namen bekommen.“

„Wieso denn nicht? Muss es unbedingt ein deutscher sein? Außerdem habe ich letztlich die Entscheidungsgewalt.“

„Gewalt“, sagt Arthur. „Eben. Deutscher geht es ja gar nicht.“

Sonntagsspaziergang im Treptower Park, mit einer schwangeren Schönheit und einem verfressenen Psychopathen. Arthur und ich saßen vis-à-vis vom Osthafen am Wasser und tranken minderwertiges Dosenbier, da wir uns Barbesuche vorerst nicht mehr leisten können. Dass wir spätestens nächste Woche wieder in einer Bar sitzen und trinken werden, selbst wenn wir die Zeche prellen oder den Wirt töten müssen, steht gleichwohl außer Frage. Was sollen wir auch sonst machen. Arthur hat binnen sechzig Minuten drei Bismarckbrötchen auf meine Kosten gegessen, wir haben ohne große Leidenschaft über die enigmatische Antwort auf seine Annonce, welche postmoderne Frauen und Männer per se zu unsternbedrohten Geschöpfen erklärt, diskutiert, und irgendwann fragte mich mein Freund, ob er mir eigentlich schon von seiner Vision berichtet hätte.

„Nein“, sagte ich. „Welche Vision?“

„Als ich in der Jewish Princess auf den Tresen gefallen bin, hatte ich eine Vision. Hast du das nicht gemerkt?“

Arthur befühlte die fast verheilten Wunden in seinem Gesicht, wollte mir gerade von seinem Erlebnis erzählen – doch im selben Moment kam Charlotte dazu, um uns abzuholen. Und seitdem streiten sich die beiden über Mädchennamen. In Wahrheit haben beide ja längst ihre Wahl getroffen, nur dummerweise unabhängig voneinander. Und da Arthur sich nicht traut, seiner Freundin endlich den „Dimona“-Vorschlag zu unterbreiten, welchen Charlotte naturgemäß ohnehin nie akzeptieren würde, behält sie auch ihre Idee für sich. Ein Kompromiss scheint ausgeschlossen.

„Vielleicht solltest du entscheiden“, sagt Arthur zu mir.

Charlotte nickt: „Ja, schlag’ du mal was vor.“

„In Asien soll ja ‚Manchester United’ ein überaus beliebter Vorname sein. Für Jungen und Mädchen. Wäre das hier eine TV-Serie oder irgend so ein Ding im Internet, würde ich an eurer Stelle einfach die Leser abstimmen lassen.“

„Die Leser“, sagt Charlotte, „würden sich auch für die Todesstrafe aussprechen.“

„Die Leser“, sagt Arthur, „würden Princess Diana zur Heiligen erklären lassen.“

„Das kann man schon so sehen“, entgegne ich. „Aber man kann es auch anders sehen. Als die Macher des KNAX-Heftes vor einigen Jahren eine neue Figur einführen wollten – ein keckes, possierliches Eichhörnchen –, haben sie einfach eine Umfrage durchgeführt. Die allerjüngsten Sparkassenkunden durften ihre Meinung abgeben. Mit durchschlagendem Erfolg.“

„Ich hätte da auch ein paar Ideen gehabt“, murmelt Arthur.

„Nach einigen Monaten wurde das Ergebnis feierlich bekannt gegeben: Kiki.“

„Kiki?“

„Ja, und so heißt das kleine Eichhörnchen heute noch.“

„Soviel zur so genannten Schwarmintelligenz“, sagt Charlotte.

„Ich könnte noch so ein Fischbrötchen vertragen“, bemerkt Arthur. „Charlotte, wenn du mir für den Rest des Tages – also bis zum Sonnenaufgang – meinen Fischbrötchen- und Bierkonsum finanzierst, darfst du das Kind in deinem Bauch nennen, wie du willst. Nur nicht Delphine.“

Seine Freundin lächelt leicht bösartig: „Ich werde es auf jeden Fall so nennen, wie ich will – ohne dass für dich auch nur ein Tropfen Bier abfällt.“

„Du bist heute so hasserfüllt“, sagt Arthur. „Was ist mir dir?“ Er schaut mich an. „Für dich gilt das selbe Angebot, allerdings nicht auf deinen, sondern auf Charlottes Bauch bezogen.“

„Ich kaufe ja schon Bier“, sage ich. „Und die Namensrechte werde ich versteigern. Wie es bei Fußballstadien schon lange üblich ist.“

Die Stahlskulptur Molecule Man wirft einen löchrigen Schatten über den Fluss, in den auch heute Nacht wieder die Milchstraße fließen wird. Während Charlotte sich auf einer Bank niederlässt, folgt Arthur mir zur Fischbude.

„Dimona klingt ja ganz verführerisch.“ Ich fasse ihn am Arm. „Aber willst du dein eigen Fleisch und Blut wirklich nach einem Atomreaktor benennen?“

Arthur schüttelt den Kopf: „Das ist nicht fair. Du weißt, dass ich Atomstrom ablehne. Doch ich will meine Tochter ja nicht ‚Krümmel’ oder ‚Brunsbüttel’ taufen, sondern Dimona. Das hat doch eine ganz andere Qualität. Wir reden hier immerhin vom Herzstück der gesamten – ambivalenten – israelischen Abschreckungsstrategie. Oder willst du Israel das Existenzrecht absprechen?“

„Schon gut“, sage ich. Und: „Könnten sie die Flaschen bitte gleich öffnen?“

Charlotte gähnt, als Arthur ihr seine Hand reicht. „Ich habe jetzt fünf Minuten die blöde Spree ganz genau beobachtet und keinen einzigen Delphin gesehen.“ Sie bindet ihr langes dunkelblondes Haar zu einem Zopf.

„Wir müssen Geduld haben“, erwidere ich. „So nah ist die Ostsee nun auch wieder nicht. Es gab übrigens keine Bionade.“

„Zum Glück“, sagt mein Freund. „Dieses ekelhaft snobistische Getränk sollte sowieso verboten werden. Ebenso wie Hybrid-Autos und Windräder und die ganze so genannte bessere Welt an sich.“

„Du willst das einzige Getränk verbieten, das ich noch trinken darf?“

„Auf Einzelschicksale können wir in dieser prinzipiellen Frage leider keine Rücksicht nehmen.“

„Ich hätte dir das Bier nicht bezahlen sollen“, sage ich.

„Oh wie gerne hätt’ ich es allen, allen Kindern der Erde geschenkt“, erwidert Arthur fröhlich, „und ihnen auch die lustigen, drallen, kleinen Delphine zugelenkt.“

Wir passieren den Biergarten der so genannten Eierschale Zenner, wo – wie jeden Sonntag – zahllose Seniorenschnapsdrosseln und interessanterweise auch ein paar Träger des Down-Syndroms ausgelassen und ziemlich freizügig zu Schlagerklängen übers Tanzparkett schweben. Arthur schlägt vor, entweder mitzutanzen, und wenn schon, dann richtig, oder bei der behutsam in das historische Gebäude integrierten Burger King-Filiale eine Kleinigkeit zu essen. Wir legen in beiden Fällen unser Veto ein.

„Das heute ist vielleicht der letzte Sommertag“, sage ich. „Der Winter wird sehr kalt werden. Wir könnten doch zurücklaufen zum Club der Visionäre. Musik hören. Vielleicht kommt Lulu auch dahin.“

Charlotte schüttelt den Kopf: „Das glaube ich kaum. Die ist beschäftigt.“

„Außerdem“, sagt Arthur, „ist der Zutritt dort ausschließlich Visionären gestattet. Ihr beide habt im Club der Visionäre nichts verloren.“

„Und was genau ist deine Vision, Schatz?“

„Mehr Bier, natürlich.“

In diesem Moment entdecken wir den Tret- und Ruderbootverleih am Ufer, wo Hobby-Kapitäne und Profi-Skipper gleichermaßen zu fairen Preisen versorgt werden. Charlotte, ermüdet von unserem Spaziergang, ist sofort begeistert – eine kleine Bootspartie zu dritt sei jetzt genau das Richtige.

„Wie stellst du dir das vor, Charlotte?“ fragt ihr Freund. „Du bist doch viel zu fett. Das Boot wird untergehen.“

Ich habe in meinem ganzen Leben noch kein Elchfleisch gegessen. Du hast an einem einzigen Abend einen halben Elch gegessen.“

„Ich hätte auch Lust“, sage ich. „Aber ich bestehe auf einem Tretboot. Das hat wesentlich mehr Stil.“

Arthur seufzt: „Dieses Schiff ist bereits jetzt unsternbedroht.“

„Was faselst du da wieder?“ Charlotte schubst ihn Richtung Wasser.

„Mannschaft und Maat, von Indianern erschlagen, liegen schon lang und sehr weit hinter mir.“

Der Betreiber des Bootsverleihs, ein Seebär alter Schule, geht auf Nummer sicher und lässt sich meinen Personalausweis als Pfand aushändigen.

„Keine Sorge, mein Freund“, beruhigt Arthur den guten Mann, „wir fahren nur mal eben ans Ende der Welt. Nachschauen, ob es dort trinkbares Bier gibt.“

Charlotte zahlt für unsere große Überfahrt, während der Bootsverleihbetreiber sich in Berliner Mundart nach dem Geschlecht des noch ungeborenen Kindes erkundigt. Sie sagt es ihm lächelnd.

„Wenn es ein Eichhörnchen wird, nennen wir es Kiki“, ergänzt Arthur. „Haben Sie nicht ein etwas futuristischeres Modell?“

Doch hier sitzen alle im gleichen Boot, die Auswahl ist auf ein einziges, himmelblaues Fabrikat beschränkt. Ich steige als erster ein, platziere meine Flasche unter dem Sitz und helfe dann Charlotte, die sich am Heck niederlässt. Arthur hüpft auf einem Bein hinterher, so dass unsere bescheidene Barkasse bedenklich ins Wanken gerät.

„Gute Fahrt!“ wünscht der Seebär. „In einer Stunde bitte wieder hier sein. Und passen Sie gut auf Madame auf.“

Er lässt die Leinen los, Arthur und ich treten gleichzeitig in die Pedale.

„Schneller!“ ruft mein Freund. „Viel, viel schneller!“ Und: „Achtung, ein Eisberg!“

Wir fahren los, lachend, in Richtung Elsenbrücke, die im Sonnenlicht wie ein Messer aufblitzt – horizontwitternde Abenteurer in einem viel zu kleinen Boot, einsame Herzen auf seetollem Floß.

Keine Kommentare: