Mittwoch, 17. Oktober 2007

Esra

„Das kann doch gar nicht sein!“ ruft Arthur. „Was habe ich getan? Wo war ich nur in jener Nacht?“

„Du bist bestimmt irgendwo eingeschlafen. Und hattest wieder eine Vision.“

„Ich kann mich doch noch genau an den Sonnenaufgang erinnern.“ Er presst seine Nase gegen die Scheibe. „Es war wie im Paradies. Allerdings kann ich mich beispielsweise nicht mehr entsinnen, ob ich ein T-Shirt anhatte – und wenn ja, welches.“

„Eben. Dein T-Shirt liegt – wie dein Schlüssel – zehntausend Meilen unter dem Meeresspiegel.“

Wir stehen exakt dort, wo sich einst die Terrassen am Zoo befanden, das offizielle Intercity-Bahnhofsrestaurant West-Berlins. Genauer gesagt: bis vor etwa einem Jahr. Seitdem hat es nämlich, wenn man dem offiziellen Aushang glauben will, geschlossen. Die dunklen leeren Räume bestätigen diese Ahnung. Doch Arthur schwört jetzt bereits zum wiederholten Mal, dass er letzte Woche hier noch Sekt getrunken und sogar mit einer Kellnerin namens Biggi geplaudert hätte. Es sei wie in einem Agentenfilm gewesen, behauptet er, die ganze Atmosphäre, mit Resopaltischen und Filterkaffee und Bildern von Lokomotiven an den Wänden. Dazu der tolle Ausblick auf die Stricherszene.

Ich sage: „Arthur, du kannst deinen Schlüssel hier nicht verloren haben. Das war ein Film in deinem Kopf. Hier fahren ja nicht mal mehr Fernzüge. Die Kinder vom Bahnhof Zoo sind alle tot oder arbeiten inzwischen bei der Sparkasse.“

„Oder sie haben eine Agentur gegründet“, murmelt mein Freund. „Ich war früher ziemlich oft hier. Nicht das Funkturm-Restaurant, sondern die Panorama-Terrassen am Bahnhof Zoo bildeten von jeher das würdige Gegenstück zum Ost-Berliner Fernsehturm.“

„Auf jeden Fall, was das Personal angeht.“

„Diese Kellnerinnen haben mindestens die Hälfte der Milliarden Zigaretten geraucht, die in den Zoo Terrassen bis ganz tief runter zum Filteransatz vernichtet wurden.“ Arthur zeigt auf einen Fahrplan. „Übrigens fahren hier doch noch Fernzüge. Zum Beispiel nach Nowosibirsk. In nur 83 Stunden bist du da.“

„Vielleicht hat Charlotte diesen Zug genommen“, sage ich.

Wir lehnen uns an die Modellbaueisenbahnanlage vor dem Eingang zum Restaurant. Früher konnte man hier Geld einwerfen und dann ein paar Minuten den Miniaturwaggons auf ihrer ewigen Zirkelfahrt zusehen. Schon als Kind fand ich den Anblick deprimierend. Und heute wirkt diese perfekte Modellbauwelt, in der niemals ein Lokführer streikt oder ein Liebeslied nur noch als schwaches Echo erklingt, verstaubt und vergessen – selbst unter Schutzglas fahren am Zoo keine Züge mehr.

„Erst Tempelhof, dann der Bahnhof Zoo – wo soll das noch hinführen?“ Arthur schüttelt den Kopf.

„Hör’ sofort auf mit dieser West-Berlin-Sentimentalität. Das widert mich an.“

„Ich war ziemlich oft mit Afet hier“, entgegnet er und fährt mit einem Finger über das schmutzige Glas.

Afet“, sage ich.

An Afet habe ich seit geraumer Zeit nicht mehr gedacht. Neben Charlotte war sie die einzige Frau, mit der Arthur länger als ein paar Schmetterlingsflügelschläge zusammen blieb. Natürlich lange vor Charlotte – und auch vor Klara. Eigentlich war Afet – Türkin, doch sehr urban, sehr postmodern, mit einer absolut faszinierenden Mimik – Arthurs erste Freundin. Mit neunzehn oder zwanzig.

„Komischerweise kann ich mich genau erinnern“, sinniert mein Freund, „obwohl ich mich ja nicht mal an letzte Woche erinnere. Afet und ich waren genau dreimal hier in den Zoo Terrassen. Ich habe immer ein riesiges Schnitzel gegessen.“

„Ein reizender Ort für ein Date.“

„Was Frauen sich eben so wünschen“, entgegnet er. „Daran siehst du doch, wie cool sie war. Beim ersten Mal – wir hatten noch gar nicht miteinander geschlafen – sagte sie hier zu mir: ‚Ich will dir nicht meine Brüste zeigen und später von irgend jemandem hören, dass ich dir meine Brüste gezeigt habe. Ich will nichts davon lesen, nichts sehen und nichts hören, auch in fünfzig Jahren nicht. Ich will sie nur dir zeigen.’ ‚Zeig her!’, hab’ ich gesagt.“

„Jetzt erinnere ich mich auch“, sage ich. „Ihr graute geradezu vor der Vorstellung, du könntest mir von ihren Brüsten erzählen. Stimmte irgendwas nicht mit denen?“

„Im Gegenteil. Sie waren beinahe so vollendet wie Charlottes. Auf jeden Fall schöner als Klaras.“

„Du hast mir trotzdem von ihnen erzählt.“

„Als ob sie ihren Freundinnen nicht von mir berichtet hätte.“

„Hat sie vielleicht wirklich nicht. Ich finde Afets Ansatz ziemlich romantisch“, füge ich hinzu. „Eine Art Exklusivvertrag.“

„Du bist einfach prüde. Aber insgesamt und retrospektiv betrachtet, war diese Frau tatsächlich großartig. Möglicherweise hätte ich sie heiraten sollen.“

Arthur und Afet waren noch ein Paar, als ich Berlin schon verlassen hatte und wusste, dass mein Leben ohne die beiden an Farbe verlieren würde. Sogar in der buntesten Stadt der Welt. Als sie auseinander gingen, war ich nicht da. Es gab drei Gründe für die Trennung, zumindest an der Oberfläche – einer davon war Afets Goldfisch.

„Esra“, sagt Arthur.

Esra? Was ist denn das überhaupt für ein Name?“

„Sie hatte auch noch einen Kater, der hieß Sabbatai Zwi.“

Ich werfe fünfzig Cent in den Münzschlitz, doch keine Lok bewegt sich von der Stelle. Nicht mal das Licht geht an. Im Modellbauland, im Kinder- und Spießerparadies, herrscht offenbar ewige Nacht. Gut so.

„Was genau war dein Problem mit Esra?“ frage ich.

„Keine Ahnung. Ich hab’ einfach was gegen Fische. Ich kann nicht mit ihnen in einem Raum schlafen.“

„Ich kann nicht mit dir in einem Raum schlafen.“

Afet hat sogar verlangt, dass ich mit Esra spreche und sie füttere. Dabei war sie – Afet, meine ich –, ziemlich postmodern. Abgesehen von dieser einen, unverzeihlichen Schwäche.“

„Hast du eigentlich auf die letzte Email, die Antwort auf deine Annonce – ‚Don’t Look Back’ – noch mal geantwortet?“

Arthur seufzt: „The better you look, the more you see. Das habe ich geschrieben. Mal sehen, was als nächstes kommt.“

Wir steigen die Treppe ins Erdgeschoss hinunter, um Bier zu kaufen und es an Ort und Stelle zu trinken. Trotz der allgemeinen West-Berliner Endzeitstimmung herrscht hier am Zoo ein buntes Bahnhofstreiben. Wahrscheinlich ist soeben der Expresszug aus Sibirien eingetroffen. Auf der Treppe beschreibt Arthur mir seinen zweiten Besuch in den Zoo Terrassen und kommt damit unweigerlich auch auf den zweiten entscheidenden Grund für das Ende des Märchens von Arthur und Afet zu sprechen: ihre Mutter.

„Ich habe sie nicht mal gehasst“, sagt er. „Esra habe ich gehasst. Aber doch nicht ihre – ich meine Afets – Mutter.“

Doch Afets Mutter, bekannt aus Fernseh-Talkshows der zweiten Reihe, hasste Arthur. Ohne jede Chance auf Versöhnung. Sie duldete ihn einfach nicht, ganz gleich, was er auch tat. Ich habe versucht, sie zu verstehen – wer will schon, dass die eigene Tochter mit jemandem wie Arthur Müller zusammen ist. Aber ihre Feindseligkeit, unüberwindbar wie ein Todesstreifen, konnte ich nie begreifen. Zumal Afet ja recht glücklich war mit diesem Arthur Müller.

„Wir saßen in den Zoo Terrassen“, sagt er, „bevor wir Schwiegermama zum Zug gebracht haben. Die einzige Frage, die diese Frau während des Essens an mich richtete, war, ob ich immer so viel Schnitzel essen und immer so viel Bier trinken würde. Ich habe die Frage bejaht. Später hat mich Afet auf der Bahnhofstoilette masturbiert.“

„Auf dem Bahnhofsklo? Dem Christiane F.-Klo?”

„Da war ihre Mutter aber schon weg. Nicht nur Esra, auch Afets Mutter hat mich, glaube ich, wirklich gehasst. Aber bei Afet dachte ich manchmal, dass sie mich liebt.“

„War es wirklich das Christiane F.-Klo?“

Ich war immer leidenschaftlich gerne mit Arthur und Afet unterwegs, so wie ich heute ebenso gerne mit Arthur und Charlotte zusammen bin – obwohl es nicht jedes Mal gut geht. Die beiden – Arthur und Afet – hatten eine sehr eigene und, wie ich fand, manchmal fast verwegene Art, miteinander umzugehen. Sie waren anders als die anderen Paare, die ich kannte und verabscheute. Ich habe dennoch immer vermutet, dass Afet nicht Arthurs große Liebe sein konnte, dafür war er einfach zu cool, zu kontrolliert, wenn er über sie sprach – sogar, wenn er unerlaubterweise von ihren Brüsten erzählte. Erst als ich weg war und meinen Freund am Telefon von Klara reden hörte, wusste ich, dass ich Recht gehabt hatte. Aber damals lag zumindest die Möglichkeit dieser Liebe noch in der Luft, als letzte Utopie gewissermaßen. Auch für mich. Doch Arthur und Afet konnten ebenso wenig glücklich werden wie Arthur und Esra, der Goldfisch. Und die Schuld trug letztlich nicht die böse Schwiegermutter, sondern naturgemäß mein bester Freund selbst. Nachdem er Esra mehrfach nicht gefüttert und Afet noch öfter betrogen hatte, ohne sich auch nur die geringste Mühe zu geben, letzteres zu vertuschen, war die Vertreibung aus dem Paradies unausweichlich. In ihrer Enttäuschung – so banal und abgeschmackt das klingen mag – trank Afet mit Torsten Tequila und hatte zum ersten Mal in ihrem Leben ungeschützten Geschlechtsverkehr.

„Bei unserem dritten Treffen in den Zoo Terrassen hat sie mir eröffnet, dass sie das Kind behalten möchte“, bemerkt Arthur, während wir hinter dem Bahnhof einen Sitzplatz suchen. Stricher oder Junkies sind nirgendwo zu sehen. „Dass sie das Kind behalten möchte und bei Torsten bleiben will. Was für ein abstoßender Name.“

Das war schon damals Arthurs Reaktion gewesen: der Name. Wie um alles in der Welt man bloß einen Arthur mit einem Torsten betrügen könne, fragte er mich, der in Brooklyn im Bett lag und wegen verschiedener Ungezieferplagen keinen Schlaf fand. Allerdings, fügte er durchaus einsichtig hinzu, sei es möglicherweise auch nicht allzu elegant gewesen, eine Afetseine Afet – mit einer Nadine zu hintergehen, deren zweiter Name sogar, wenn er sich recht erinnerte, Chantal gelautet hätte.

„Ihr beide solltet mich doch besuchen kommen“, sagte ich.

Dabei war von Trennung anfangs nicht die Rede gewesen – Mutter und Goldfisch zum Trotz: Eigentlich wollte Afet kein Kind. Noch nicht. Sie wollte zeichnen und nicht stillen und war deshalb zu einem Arzt gegangen, dem selben Arzt, der sie zur Welt gebracht hatte, um auf Torstens, Arthurs und ihre eigenen Kosten eine Abtreibung vornehmen zu lassen. Arthur hatte vor der Tür gewartet. Doch jener Arzt war schon sehr alt und krank und zu diesem Zeitpunkt weder ansprechbar, noch handlungsfähig. Afet suchte sich einen anderen Spezialisten. Und was jetzt kommt, ist wahrhaft unerträglich: Der zweite Arzt machte erst mal ein Ultraschallbild. Dann zeigte er das Fötus-Foto Arthurs Freundin, die völlig fertig auf diesem Stuhl saß – begleitet von den freundlichen Worten: „Schauen Sie mal, junge Frau, es kann schon lächeln.“ Und einige Tage darauf, in den Zoo Terrassen, wie ich jetzt erfahre, teilte Afet Arthur mit, dass sie sehr wohl einem Arthur für einen Torsten den Laufpass geben könne und auch Berlin nicht zwangsläufig Bielefeld vorzuziehen sei. Allerdings wohnt sie meines Wissens heute wieder in der Hauptstadt. Mit Kind und ohne Torsten. Und natürlich ohne Arthur.

„Was für ein abstoßender Name“, sagt dieser ein weiteres Mal. „Kann man sich hier irgendwo hinsetzen?“

„Das Christiane F.-Klo heißt heute McClean“, antworte ich.

„Mein Gott, wo war ich bloß in jener Nacht?“ Arthur schlägt sich erneut gegen die Stirn. „Ich erinnere mich an alles und jeden, und nichts und niemand davon ist wahr!“

Die Sache mit dem Namen – Torsten – hat meinen Freund sehr mitgenommen. Zugleich schien mir diese harmlose Pointe einer wirklich traurigen Geschichte für ihn immer ein bisschen zu bedeutsam zu sein. Es war ja nicht mal hundertprozentig sicher, dass Afet nicht doch ein kleines Arthur-Kind im Leib trug. Doch in einer Welt, in der die Liebe manchmal aus dem Jenseits kommt und allzu oft dahin zurückkehrt, in einer Welt, in der man wie in einem Goldfischglas an der Liebe ersticken kann, musste Afet aus Arthurs Leben verschwinden, damit Klara in dieses Leben treten konnte. Und heute suchen wir Charlotte in der ganzen Stadt und in Nowosibirsk. Charlotte, die – mit all ihren Ängsten und Hoffnungen – Arthurs Tochter erwartet, und Afet und Klara sind nichts als Schatten vergangener Zeiten. Was für ein Balagan. Wir schauen auf den Stadtplan, folgen den roten Heineken-Sternchen und den blauen Charlotte-Sternchen auf dem Papier, und verlieren uns dennoch in einer Art Endlosschleife der Vergeblichkeit. Ich kenne Arthur wie kein anderer, auf jeden Fall besser als Charlotte, und ich weiß: Afets plötzliches Verschwinden hat ihn gewiss gekränkt, keine Frage. Arthur ist eitler als Elton John. Er hat sie sicher oft vermisst – ich habe sie vermisst. Doch zugleich war er erleichtert. Im tiefsten Abgrund seines Herzens wusste Arthur, dass er nicht mit Afet zusammenbleiben konnte, Kuckucksei hin oder her. Er hatte Klara noch nicht getroffen. Inzwischen hat er sie getroffen – aber was das für Charlotte – für Arthur und Charlotte – bedeutet, kann ich nicht sagen. Doch die ziemlich postmoderne und naturgemäß fabelhaft aussehende Türkin Afet hat ihm, entgegen so mancher Broken Heart Theory, jedenfalls nicht das Herz gebrochen. Das war Klara, von der er immer noch jede zweite Nacht träumt. Klara, die niemals mit ihm Romeo und Julia spielen wollte und auch beim Ficken nie in Tränen ausgebrochen ist, wie der Dire Straits-Song es uns weismachen will. Klara, wegen der Arthur heute Liebesbriefe sammelt, Charlotte beleidigt, alberne Zeitungsannoncen aufgibt, ohne T-Shirt durch die Stadt wankt, die Kinder vom Bahnhof Zoo halluziniert und im Herbst in die Spree springt – bevor sie zufriert. Ich selber stehe hier auf dünnem Eis. Klara habe ich, wie gesagt, nur einmal kurz getroffen. Ich spekuliere, ich phantasiere. Das liegt nicht unbedingt in der Natur der Sache. Es liegt im Wesen meines Freundes, der immerfort redet, wenn er nicht gerade isst – einzig, um unauffälliger schweigen zu können.

„Ich rede hier und rede“, sagt Arthur. „Von Afet, von Charlotte, von Klara. Kennst du eigentlich auch irgendwelche Frauen?“

„Ist das da drüben nicht Kate Moss? Die Dame, die gerade Blumen kauft?“

„Das hat hier alles keinen Sinn.“ Arthur fasst mich am Arm. „Der Bahnhof Zoo ist tot. Wir trinken unser Bier auf dem Weg zum Aquarium. Und dann im Aquarium noch eins.“

„Wen oder was suchen wir dort noch mal?“ frage ich. „Charlotte oder deinen Schlüsselbund?“

„Dieser Schlüsselroman geht mir langsam auf die Nerven. Wir suchen Esra. Esra wohnt inzwischen zur Untermiete im Aquarium. Esra, der Goldfisch.“ Er greift nach meinem Bier.

Ich sage: „Ich will dich nicht von meinem Bier trinken lassen und später irgendwo davon lesen, dass du von meinem Bier getrunken hast.“

„Dann solltest du es nicht aufschreiben“, sagt Arthur und nimmt einen kräftigen Schluck.

[Wen werden wir im Aquarium treffen? Charlotte oder Esra? Oder beide? Die Antwort folgt, vielleicht, im nächsten Post...]

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

wasn das? ein tokio hotel text. herrje. aba gut: schriftlich komm ich schneller durch die `lyrics`. muss ich nich son 3 min liedchen durchhalten. aba- wasn das? ich hörte, die seien nun endlich volljährig?! die schreiben wohl wirklich ihre g`schichten selba? prätentiöser shit das. wirklich. hoff, die woche is bald um. dann kommt der shit ins klo. ab dafür!