Dienstag, 30. Oktober 2007

Paradise Lost

Wo die Wahl beginnt, sagt Arthur Miller, endet das Paradies, endet die Unschuld – denn was ist das Paradies, wenn nicht die Abwesenheit jedweder Wahlmöglichkeit? Demnach müssten hier, in Lulus Treppenhaus, paradiesische Zustände herrschen, denn mir blieb mal wieder keine Wahl. Die Schmerzmittel wirken nicht, mein Kopf ist heiß wie eine Herdplatte. Ich weiß kaum noch, wie ich überhaupt in diesen dritten Stock gekommen bin. Doch nun stehe ich vor Lulus Wohnungstür, um halb neun am Morgen, mein Fieberschweiß tropft fast auf ihre Fußmatte. Arthur hält sich eine Etage tiefer verborgen. Es wäre ja sonst denkbar, dass Lulu oder Charlotte – wenn sie ihn, den unerwünschten Gast, erblickten – die Tür sofort wieder verriegeln würden. Dann wäre die letzte Chance vertan. Allerdings gelte ich hier wohl beinahe ebenso sehr als persona non grata – Arthur und ich sind ja irgendwie eins, so unterschiedlich wir sein mögen. Ich stand schon oft vor dieser Tür, aber immer nur gemeinsam mit Arthur oder mit Arthur und Charlotte. Ein einziges Mal war ich mit Lulu allein. Ich kann mich sogar an das Datum erinnern. Ob sie sich überhaupt an mich erinnert, an mich und uns in jener Nacht, bezweifle ich in düsteren Momenten. Wir haben nie wieder darüber gesprochen.

„Jetzt klingel’ schon!“ zischt Arthur von unten.

Ich drücke auf den Klingelknopf, warte. Nichts passiert.

„Noch mal! Länger!“ flüstert mein Freund.

„Sei still.“

Mein Puls rast. Schritte. Lulu öffnet ruckartig und gar nicht vorsichtig die Tür. Auch ohne Gummistiefel, barfuss, nur mit einem übergroßen Herrenhemd bekleidet, ähnelt sie noch der Pocahontas aus meinem fürchterlichen Traum.

„Was ist denn jetzt los?“ Sie starrt mich an. „Was willst du denn hier?“

Ich möchte antworten, doch wie in meinem Traum versagt mir die Stimme. Ich sage – nichts.

„Alles in Ordnung?“ fragt Lulu zum Glück. „Du siehst aus wie eine Leiche. Total blass.“

Ich kann nicht umhin, mich darüber zu freuen. Denn wir berühren hier das Kernproblem meiner gesamten Existenz. Es besteht darin, dass alle immer denken, es ginge mir gut – selbst wenn ich mich miserabel fühle. Je kranker ich bin, desto frischer wirke ich. Je unerträglicher mein Kater, desto besser sehe ich offenbar aus. Damit könnte ich noch leben. Doch sogar schlimmste Depressionen sieht man mir, so scheint es, niemals an. Das liegt natürlich vor allem an mir, daran, dass ich auch lache, wenn ich traurig bin. Ich kann nicht anders. Und während alle Welt glaubt, es ginge mir blendend, schlittere ich an der Oberfläche der Dinge fröhlich lächelnd in den Abgrund. Darum freue ich mich, wenn Lulu Lilienblum mich als Leiche begrüßt.

„Morgen ist ja auch Halloween“, sage ich keuchend, den Blick von ihren bloßen Beinen abgewandt. „Ich glaub’, ich hab’ Fieber. Aber deshalb bin ich nicht gekommen.“

„Das ist ja auch keine Arztpraxis hier. Du hast mich geweckt.“

„Tut mir leid. Wirklich. Wir suchen Charlotte. Wir dachten, sie könnte vielleicht bei dir sein.“

„Wir? Was heißt denn wir?” Lulu guckt nun äußerst irritiert. „Wo ist denn Arthur, dieser Feigling? Hat er dich vorgeschickt, oder was?“

„Ich bin ja schon da“, sagt mein Freund, der im selben Augenblick die Treppe hochkommt. Er lächelt: „Guten Morgen, Lulu.“

„Morgen, Arschloch.“

„Wir waren gestern Abend schon mal hier.“

„Das freut mich. Ich war leider nicht zuhause. Und Charlotte ist sowieso nicht bei mir.“

„Können wir nicht kurz reinkommen?“

Lulu dreht sich wortlos um und geht zurück in ihre Wohnung, lässt die Tür aber offen. Wir treten ein, folgen ihr in die Küche, wo sie unter verschlafenen Flüchen Kaffee kocht. Selbst völlig ungeschminkt ist sie so schön, wie es sich für eine Häuptlingstochter eben gehört.

Arthur freut sich: „Habe ich es nicht gesagt? Bei Lulu bekommen wir immer einen Kaffee!“

„Der ist nicht für euch. Der Kaffee ist für mich. Für mich und meinen Gast. Es handelt sich aber nicht um deine Freundin – beziehungsweise Ex-Freundin.“

Sollte diese freundliche Bemerkung Arthur irgendwie getroffen haben, lässt er es sich jedenfalls nicht anmerken.

„Ich muss sie wirklich dringend sprechen“, sagt er. „Sie geht nicht ans Telefon. Sie öffnet nicht die Tür. Wenn Charlotte nicht bei dir ist, wo ist sie dann?“

„Tja.“ Lulu schaut ihn vollkommen mitleidslos an. „Vielleicht will sie nicht, dass du sie findest.“

„Das ist mir schon klar, aber mein Wille, sie zu finden, ist wesentlich stärker als ihr Wille, dass ich sie nicht finde.“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. So was ändert sich schnell. Viel schneller, als du glaubst – mit deinem grenzenlosen Selbstbewusstsein.“

„Ich würde es eher als gesundes Selbstbewusstsein bezeichnen.“

Mir ist schwindlig. Ich blicke mal auf Lulu, mal auf Arthur, die sich die Wörter wie Ping Pong-Bälle an die Köpfe werfen.

„Jede Frau, die halbwegs bei Sinnen ist“, sagt Lulu, „hätte sich schon von dir verabschiedet, während du in Israel rumgefickt hast. Abgesehen davon, dass so eine Frau natürlich gar nicht erst mit dir zusammen wäre und vor allem nicht auch noch deine teuflische Brut austragen würde.“

„Das war ja alles nicht so geplant. Außerdem habe ich nicht rumgefickt.“

„Seid ihr Teenager, oder was? Meinst du, ich finde es toll, dass sich meine beste Freundin seit Monaten ständig bei mir ausheult?“

„Deshalb suche ich sie ja jetzt. Sie kann sich ruhig auch bei mir ausheulen.“

„Du verstehst einfach gar nichts“, erwidert Lulu. „Bei dir will sie sich ja gerade nicht ausheulen. Was meinst du eigentlich dazu?“ fragt sie dann mich.

„Kann ich bitte ein Glas Wasser haben?“

Arthur geht auf Lulu zu und legt ihr seine Hand auf die Schulter.

„Bitte, sag’ mir, wo sie ist.“

„Was weiß ich.“ Sie stöhnt auf. „An einem dieser komischen Orte, wo sie immer ist und träumt, wahrscheinlich. Im Aquarium oder so. Auf jeden Fall hat die Agentur sie freigestellt. Vielleicht liegt sie auch zuhause im Bett und liest Krieg und Frieden oder irgend so einen Scheiß.“

„Im Aquarium ist sie nicht.“

„Nur weil Charlotte am Dienstag nicht dort war“, bemerke ich, „heißt das nicht, dass sie heute nicht im Aquarium ist.“

„Wir können deshalb aber nicht jeden Tag ins Aquarium gehen. Das ist mir zu gefährlich. Dieses Krokodil hat mich auf seine Todesliste gesetzt. Apropos, ich schau’ mal, was als nächstes auf unserer Liste steht.“

„Was für eine Liste?“ fragt Lulu, die tiefschwarzen Espresso in zwei Tassen gegossen hat, Arthur und mich allerdings Richtung Wohnungstür schiebt.

„Falls sie sich bei dir meldet, sag’ ihr, sie soll mich anrufen.“

„Das werde ich mir noch gut überlegen. Ich fürchte, du hast einfach keinen Kredit mehr bei dieser Bank.“

Sie öffnet die Tür, wir wollen gerade die Wohnung verlassen, doch mein Freund bleibt plötzlich stehen und dreht sich um.

„Moment mal“, sagt er. „Sie ist hier. Natürlich. Sie ist hier.”

Und Arthur schubst Lulu einfach beiseite, stürzt auf ihr Schlafzimmer zu.

„Hey! Spinnst du?“

Aber sie kann ihn nicht mehr aufhalten – ohne auch nur anzuklopfen, öffnet er erwartungsfroh die Tür.

„Oh. Sorry.“ Mein Freund bleibt abrupt stehen.

Wir sind ihm gefolgt, ich schaue über seine Schulter in das Zimmer. Auf Lulus Bett liegt nicht Charlotte, sondern ein Mann, das ist unverkennbar, denn er liegt dort im so genannten Adamskostüm, Arme und Beine von sich gestreckt. Zunächst sieht er uns nicht – ein hellblaues Höschen, das aller Wahrscheinlichkeit nach aus Lulus Besitz stammt, bedeckt seine Nase und seine Augen. Als er diesen Spitzenvorhang dann beiseite schiebt und uns drei erblickt, geht es ihm ganz offenbar wie mir: Lulus Lover ist sprachlos. Zumindest sagt er nichts, guckt nur befremdet. Vielleicht ist es das Fieber, doch ich bilde mir ein, in der allgemeinen Stille ein dumpfes Pochen zu hören: Das muss der Herzschrittmacher sein. Jene Maschine, die das Herz dieses jungen Mannes auch in gebrochen-geschundenem Zustand zuverlässig schlagen lässt. Ich wünschte, die Batterien wären alle. An Lulus Geschichten habe ich mich ja gewöhnt, doch treffen muss ich diese Typen nun wirklich nicht. Schon gar nicht, wenn man ihren Penis sehen kann.

„Raus jetzt“, zischt sie und kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Arthur auch nicht.

„Nichts für ungut, Mann!“ Mein Freund winkt zum Abschied, ohne eine Antwort zu erhalten „Viel Spaß noch. Happy Halloween.“

Lulu schiebt uns ein zweites Mal zur Tür.

„Sucht ihr mal weiter nach Charlotte“, sagt sie. „Vielleicht habt ihr ja Glück. Ich hoffe, nicht.“

„Du hast nicht zufällig meinen Schlüssel gefunden?“

Aber die Tür ist bereits ins Schloss gefallen, Pocahontas schlüpft jetzt wieder unter ihre warme Decke. Es gibt keinen einzigen Platz auf der Welt, wo ich in diesem Moment lieber wäre.

„Es wundert mich, dass er nicht gefesselt war“, sagt Arthur. „An einen Marterpfahl zum Beispiel. Der nächste rote Stern ist übrigens das Paradise. Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, in jener abenteuerlichen Nacht dort gewesen zu sein – doch erfahrungsgemäß erhöht das eher noch die Wahrscheinlichkeit, dass ich dort war.“

* * * * *

„Ich falle gleich um“, sage ich, während Arthur den Klingelknopf des Paradise einige Sekunden lang gedrückt hält.

„Vielleicht ist Aaron ja da. Der macht dir einen schönen Scotch mit Zitrone.“

„Fällt dir eigentlich auf, dass du auf einmal Charlotte mit genau dem gleichen Eifer, der gleichen Leidenschaft suchst, wie bisher nur die perfekte postmoderne Frau?“

Mein Schädel fühlt sich an, als hätte Pocahontas ihn mit einem Tomahawk gespalten – doch gleichzeitig meine ich, klarer zu sehen als sonst. Ein Sehschlitz geht auf. Wir werden gemustert, für derangiert genug befunden und nach dem Zauberwort gefragt. Dem geheimen Zauberwort. Arthur spricht es aus. Und eigens für uns öffnet ein dienstbarer Geist die Pforte zum Paradies.

Lulus Bett ist ein Paradies. Die Osterinseln oder die Antarktis – auf ihre eigene, etwas kühlere Art – sicher auch. Aber das Paradise ist einzigartig. Die Sehnsucht nach dem Paradies, steht in meinem Notizbuch, ist das Verlangen des Menschen, nicht Mensch zu sein. Jene, der Außenwelt und der Wirklichkeit abgewandte Kreuzberger Bar, welche wir nun betreten, gibt diesen Worten eine ganz neue Bedeutung: Hier muss man zum Tier werden. Man muss zum Tier werden, um nicht mehr Mensch zu sein und überhaupt Zutritt zu erlangen. Zum Paradise, wo selbst der existentiellste Schmerz rasant im Rausch verfliegt und sich jeder sein eigenes, künstliches Paradies erschaffen kann. Der Laden, um den sich fabelhafte Mythen ranken, ist ein Relikt aus den frühen achtziger Jahren. Wie die Schlange im Garten Eden hat er sich seitdem unzählige Male gehäutet, ohne sich wesentlich zu verändern. Im Paradise wird die Ursünde Tag und Nacht neu begangen, pausenlos, tausendfach potenziert. Obwohl der Name eher zu einer Großraumdisco an einer Brandenburger Autobahn passen würde, versammelt sich hier ein niveauvolleres Publikum – selbstkonsumierende Drogenhändler, tunesische Stricher, Speed-Freaks, Transen und Studenten sowie der eine oder andere Freigeist. Paradiesvögel eben. Von fünf Gästen hat mindestens einer tätowierte Handknöchel. Das Paradise ist dunkel wie ein Grab. Es schließt niemals vor der Mittagsstunde.

„Mein Gott!“ Arthur ist entsetzt. „Warst du jemals nüchtern hier, um diese Zeit?“

„Natürlich nicht.“

„Ich meine, du hast ja wenigstens Fieber, aber ich bin wirklich stocknüchtern. Guck mal, da ist Aaron.“

Als wir zur Bar gehen, läuft ein Nico-Song. Insgesamt sind im morgendlichen Paradise noch etwa ein Dutzend Gäste versammelt. Manche mustern uns Neuankömmlinge interessiert, andere sehen Arthur und mich, glaube ich, gar nicht. Auf der linken Tresenhälfte räkelt sich eine Frau, die meine Mutter sein könnte, wenn meine Mutter mit sechzehn nicht verhütet hätte. Sie vollführt dort, begleitet von Nicos tiefem Timbre, eine Art Striptease, der jedoch nie zur Vollendung gelangt und immer nur mit den Erwartungen spielt. Von unserem letzten Besuch, Ausklang einer langen Nacht im Anker, weiß ich, dass diese Frau taubstumm ist. Eine Drag-Queen streichelt Arthur im Vorbeigehen durchs Haar. Die beiden scheinen sich zu kennen.

„Habt ihr hier nicht Hausverbot, ihr Geisteskranken?“ fragt Aaron grinsend. „Das heißt, eigentlich nur du.“ Er zeigt auf meinen Begleiter.

„Aaron, ich betrachte dich als guten Freund“, erwidert Arthur, „und ich sage dir ganz offen: Solltest du auf einen eventuellen Besuch meinerseits in diesem Laden innerhalb der letzten vier Wochen anspielen, kann ich mich an nichts erinnern. An gar nichts.“

„Mann, wir haben hier ja schon viel gesehen. Aber es hat sich lange niemand so aufgeführt wie du. Halbnackt. Mit dieser unerträglichen Frau. Diesem Narbengesicht.“

„Narbengesicht?“ Die Stimme meines Freundes klingt nun leicht besorgt.

„Erzähl’ mir nicht, dass du so einen Filmriss hast. Irgendwann haben wir dich auf dem Klo gefunden, halb bewusstlos. Du hast immer nur völlig unverständliche Laute von dir gegeben. Vom Ende der Welt und einem grünen Licht gefaselt. Milton hat dich mit kaltem Wasser übergossen.“

„Und dann?“

„Dann bist du gegangen. Keine Ahnung, wohin.“

„Ihr habt mich in diesem Zustand auf die Menschheit losgelassen?“

„Wir konnten dich ja schlecht anketten. Außerdem wirktest du wieder relativ klar.“

Ich sage: „Habt ihr das in der Zeitung gelesen, von der Rentnerin aus Lichtenrade, die ohne Kopf aufgefunden wurde? Wobei man den Kopf später in einem Gebüsch entdeckt hat, aber ohne Augen? Das könntest du gewesen sein, Arthur.“

„Wodka. Sofort Bier und Wodka. Oder, halt: Weißt du noch, was ich in besagter Nacht getrunken habe? Vielleicht kommt dann, mit dem Geschmack, auch die Erinnerung zurück.“

„Kein Problem“, erwidert Aaron und nimmt einen Zettel von der Pinnwand, die hier „Wall of Shame“ heißt. „Du hast ja noch eine nette offene Rechnung bei uns. Also, neben diversen Bieren waren da insgesamt neun Ramazottis.“

„Willst du mich verarschen? Ich würde niemals so ein Dreckszeug trinken. Das kann gar nicht sein.“

„Du weißt genau, dass ich recht habe“, sagt der Barmann milde lächelnd.

In der Tat: Aaron würde uns nicht anlügen. Er ist, in diesem auf ganzer Linie degenerierten Umfeld, ein guter Mensch geblieben – soweit das überhaupt möglich ist. Wir haben ihn einst am Tresen kennen gelernt und so manche Schnapsflasche mit ihm geleert. Irgendwann stand er dann plötzlich hinter der Bar, hat fortan keinen Tropfen mehr angerührt. Er arbeitet immer nur montags. Denn Aaron schreibt außerdem lyrische Reportagen für ein Kulturmagazin und ist, was mich wirklich beeindruckt, aktives Mitglied im Chaos Computer Club, Hamburg, wo er auch herkommt. Mir wird schon wieder schlecht. Ich halte mich mit beiden Händen an der Theke fest, damit ich nicht umfalle. Wer im Paradise stürzt, steht niemals wieder auf. Das wäre sozusagen der Sündenfall. Die nackten Füße der Tresentänzerin, welche mit klimpernden Kettchen geschmückt sind, streifen immer wieder meine Finger. Jede Berührung ist ein Elektroschock, der mich zusammenzucken lässt. Zugleich will ich die Frau anschreien, sofort damit aufzuhören und nie wieder ungefragt auf meinen Fingern zu tanzen, doch erstens kann ich nicht sprechen und zweitens kann sie weder sprechen, noch hören und eigentlich, mit Verlaub, auch nicht tanzen. Nico, immer wieder Nico. Jetzt singt sie „Heroes“.

„Auf dein Spezielles!“ Arthur erhebt sein Ramazotti-Glas, auf der Suche nach der verlorenen Zeit. „Ich dachte immer, die Erinnerung wäre das einzige Paradies, aus dem uns niemand vertreiben kann. Aber wahrscheinlich ist das einzige Paradies überhaupt eben das verlorene Paradies.“

„Ich kann über solche Fragen jetzt gerade nicht nachdenken.“ Der klebrige Likör wärmt mich immerhin von innen. Ich muss erneut an Lulus Bett denken, das Paradies, aus dem sie mich vertrieben hat, bevor ich mich überhaupt wohnlich einrichten konnte. „Kommt die Erinnerung schon wieder?“

„Nein. Da kommt gar nichts.“

Während die Taubstumme weiter in Zehnsekunden-Intervallen mit ihren Füßen meine Hände touchiert, begrüßt eine andere Dame – neben der Tänzerin die einzige Frau im Paradies – Arthur mit einer innigen Umarmung. Sie ist zurechtgemacht wie Debbie Harry, das aber ziemlich gut, allerdings heißt sie nicht Debbie und auch nicht Blondie, sondern Madeleine, genau wie die D-Jane im Breakfast Club.

„Geht’s dir wieder besser?“ fragt Madeleine meinen Freund.

„Ich vermute: ja.“

„Wir wollten schon den Krankenwagen rufen.“

„Vielleicht hättet ihr das tun sollen.“

„Meinen Lippenstift konnte ich danach jedenfalls nicht mehr gebrauchen. Nachdem du deine Kriegsbemalung erneuert hast.“ Sie lächelt. „Wieso trägst du denn heute ein Hemd?“

Arthur seufzt: „Kauf’ dir einfach einen neuen Lippenstift. Aaron soll ihn bei mir auf die Rechnung setzen. Hey, Aaron, habt ihr eigentlich meinen Schlüssel hier gefunden?“

Der Barmann schüttelt bedauernd den Kopf. „Aber ich gebe euch noch einen Ramazotti aus“, sagt er. „Ich muss euch was fragen.“

„Ich will auch einen“, sagt Madeleine.

„Ich hätte gern einen Apfelsaft“, krächze ich. Vergeblich.

Aaron stellt gleich die ganze Flasche dieses ekelhaft süßen, aber wirkungsvollen Getränks vor uns auf die Theke.

„Also, meine Freunde, wenn ich mich nicht völlig in euch täusche – und das passiert mir selten –, werdet ihr bald auf Reisen gehen. In meinem Auftrag.“

„Eine Reise?“ fragen Arthur und ich unisono. „Wohin?“

„Bis ans Ende der Welt, sofern ihr nichts dagegen habt. Ich hab’ schon die ganze Zeit an euch gedacht. Ihr müsst nur ein paar Seiten schreiben. Und ein paar Fotos machen.“

In diesem Moment werden wir von einem ziemlich taktlosen Araber unterbrochen, der uns wie Blutsbrüder oder wenigstens Sandkastenfreunde begrüßt und sofort danach fragt, ob wir, nun ja, was zum Ziehen für ihn hätten. Haben wir nicht. Madeleine indes verschwindet tatsächlich mit diesem Arschloch auf dem Klo.

„Ans Ende der Welt? Nach Feuerland?“ fragt Arthur.

„Nicht ganz. Aber beinahe bis zum Polarkreis. Ihr werdet nach Norwegen fliegen.“

„Was sollen wir denn in Norwegen?“

Sorgenschluchten zeichnen sich auf Arthurs Stirn ab: „Ist euch auch nur ansatzweise klar, wie viel selbst ein kleines Bier in diesem Land kostet?“

„Also, vielleicht habt ihr schon davon gehört, Stavanger – das liegt im Süden – wird nächstes Jahr Kulturhauptstadt Europas sein.“ Wie ein Laternenfisch erhellt Aarons Klarheit und Freundlichkeit diesen durch und durch finsteren Laden. „Weil dort die ganzen Ölfirmen sitzen, ist Stavanger superreich. Die schmeißen mit Geld nur so um sich, damit das ein richtiges Spektakel wird.“ Er schenkt uns nach, wir hängen andächtig an seinen Lippen. „Sie schicken mir ständig Einladungen in die Redaktion, mich dort mal umzuschauen und ein bisschen was zu schreiben. Die Vorfreude schüren und so.“

Und der Paradise-Barmann führt aus, dass er selbst keine Zeit hätte, aufgrund diverser CCC-Verpflichtungen, und uns deshalb mit Freuden diesen Auftrag zuschanzen würde, wir verstünden es ja schließlich zu reisen, das hätten wir mehrfach bewiesen, und zahlen müssten wir auch nichts.

„Drei Tage. Es gibt kein Geld, aber es kostet auch kein Geld.“

„Also praktisch wie immer“, bemerkt Arthur, „nur doppelt so gut.“

„Wir fahren nach Norwegen“, sage ich. Ich liebe es, mit meinem Freund zu reisen. „Warst du schon mal da?“

„Klar. Der halbe Elch. Erinnerst du dich? Norwegen ist wirklich ein Paradies. Herrlich unberührt. Gute Luft. Vor Gesundheit strotzende Menschen. Keine Narbengesichter.”

„Vielleicht finden wir sogar ein bisschen Öl.“

„Vielleicht fangen wir einen Wal. Oder einen Wikinger.“

Aaron lacht: „Genau deshalb hab’ ich euch ausgewählt. Weil ihr vorurteilsfrei und ohne Klischees im Kopf an solche Aufgaben rangeht. Ich kann euch noch keine hundertprozentige Zusage geben. Aber wahrscheinlich geht das klar. In drei Wochen oder so.“

„Ende November also“, sage ich. „Herrscht dort oben dann nicht ewige Nacht?“

„Wie hier“, sagt Arthur. „Im Paradise. Wie sollen wir dir nur danken, Aaron? Woher wusstest du, dass wir dringend mal wieder verreisen müssen?“

Der Barmann zuckt nur lächelnd mit den Schultern. Madeleine kommt wieder, ohne Araber, und fragt uns, ob nun wir beide, Arthur und ich, interessiert wären, sie auf die Toilette zu begleiten, doch ich ziehe meine linke Hand unter den Zehen der Tänzerin hervor und greife mit der rechten nach meinen Freund. Nach fünf Ramazottis geht es mir etwas besser und viel, viel schlechter zugleich.

„Ich muss ins Bett“, sage ich leise. „Sofort.“

Arthur reagiert ungewohnt verständnisvoll: „Na gut, dann unterbrechen wir die Suche eben für ein paar Stunden.“

Wir umarmen Aaron und Madeleine. Letztere küsst dabei Arthurs Hals.

„Du siehst gut aus“, sagt der Barmann zum Abschied zu mir. „Irgendwie frischer als sonst.“

„Danke.“

Wir winken der taubstummen Tänzerin. Die Transe winkt zurück.

„Was steht denn als nächstes auf dem Plan?“ frage ich. „Wo sind die blauen Sternchen?“

„Erst kommt der Teufelsberg, gefolgt vom Friedhof der Namenlosen.“

„Ach so, natürlich.“

„Aber damit“, Arthur grinst diabolisch, „damit warten wir bis morgen – Halloween.“

Milton, der schottische Hausdealer und Türsteher, öffnet die Pforte ins gleißende Sonnenlicht. Arthur und ich stehen auf der Straße, jenseits von Eden, diesseits des Paradieses.


[Zieht Euch warm an
das große Balagan Blues-Halloween-Special steht kurz bevor...]

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