Freitag, 26. Oktober 2007

Blutsbrüder

„Lass uns Abschied nehmen“, sagt Arthur. „Mein Herz fühlt mehr, als ich mit Worten sagen kann.“ Er schaut mir direkt in die Augen, sehr ernst und voller Zärtlichkeit: „Wir sind Männer, also weinen wir nicht. Und wenn ich dann tot bin und du dich den anderen Menschen widmest, von denen keiner dich so lieben wird, wie ich dich liebe, so denke zuweilen an deinen Freund und Bruder Arthur Müller, der dich jetzt segnet, weil du ihm ein Segen warst.“

„Hör’ bitte auf damit. Du bist verrückt. Was redest du da?“

Dabei frage ich mich, und die Frage lässt mich innerlich erbeben: Was ist das hier für eine Landschaft? Überall Steine und Geröll. Ein Flackern in der Abenddämmerung, als stünde der Himmel in Flammen – wie man es aus flämischen Ölgemälden kennt. Das Höllenlicht des Westens. Das letzte Licht. Es ist ein Gebirge, das ich noch nie gesehen habe und doch genau zu kennen glaube. Arthur legt mir tatsächlich die Hände auf die Stirn. Ich höre, dass er nur mit Mühe das Schluchzen unterdrücken kann und reiße ihn aus einem plötzlichen Impuls heraus mit beiden Armen an mich, indem ich weinend hervorstoße:

„Arthur, es ist ja nur eine Ahnung, ein Schatten, der vorübergeht. Du musst bei mir bleiben. Du darfst nicht fort! Wie soll ich denn ohne dich die postmoderne Frau finden?“

„Ich gehe fort“, antwortet er leise. „Folge dem Fisch. Wir laufen auf brennendem Wasser.“

Und in diesem Moment bemerke ich das Blut, das ihm aus allen Poren rinnt, als wäre mein Freund von einer Maschinengewehrsalve durchlöchert worden. Ich weiß nicht, wie es dazu gekommen ist, wer ihn gemeuchelt hat, vielleicht sind einfach nur die Umstände schuld, doch mir wird klar: Er wird sterben. Deshalb sind wir hier. Ein Schmerz erfasst mich, wie ich ihn in meinem ganzen Leben nicht gefühlt habe.

Romeo loved Juliet, Juliet she felt the same
When he put his arms around her, he said "Julie, baby, you're my flame"

„Noch wird Hoffnung sein, mein Bruder“, tröste ich ihn – obwohl ich es, wenn ich ehrlich bin, besser weiß.

„Mein Bruder lege mich in seinen Schoß“, erwidert Arthur, und ich merke, dass er es ernst meint. Ich platziere also seinen blutwarmen Schädel zwischen meinen Beinen. Er röchelt und spuckt, ich spüre seinen heißen Atem. Dass das Ende so kommen musste, denke ich, in diesem düstern leuchtenden Todesgebirge. Was für ein Balagan. Und auf einmal merke ich: Wir sind gar nicht alleine. Ein paar Meter entfernt steht Pocahontas, die aussieht wie Lulu, oder umgekehrt. Pocahontas, die – ihrem Namen gemäß – immer alles durcheinander bringt. Sie schweigt, mustert uns prüfend, ist nackt bis auf die Prada-Gummistiefel. Ich will um Hilfe schreien, Pocahontas soll den Notarzt holen, wie auch immer, oder Charlotte oder Klara – vielleicht könnte Klara helfen. Doch jedes Mal, wenn ich sprechen will, bleibe ich stumm. Mir ist so übel, dass ich keine Silben formen kann. Tränen laufen über mein Gesicht. Anscheinend kann ich nur mit Arthur reden: Arthur, der stirbt wie ein verblutendes Raubtier.

„Hat mein Bruder noch einen Wunsch?“ frage ich ihn.

„Mein Bruder vergesse unsere Suche nicht. Bitte, jemand möge das Lied von der Königin des Himmels singen! Bitte!“

Ich starre auf Pocahontas’ kleine feste Brüste. Alles dreht sich, alles flackert. Ihr Blick ist spöttisch. Sie wird bestimmt nicht für uns singen. Doch ganz ohne mein Zutun ertönt schon eine Stimme aus dem Off, sie klingt nach Chris de Burgh, wenn Chris de Burgh des Deutschen mächtig wäre, und Chris de Burgh singt engelsgleich:

Madonna, ach, in deine Hände

Leg ich mein letztes, heißes Flehn:

Erbitte mir ein gläubig Ende

Und dann ein selig Auferstehn!

Ave, ave Maria!

Das Flackern rundherum erlischt. Friede kehrt ein. Am Himmel erscheint das feine, gütige Antlitz der Princess of Wales. Als der letzte Ton verklungen ist, will Arthur sprechen, doch es geht nicht mehr. Er, der immer so viel und so sinnlos und so zauberhaft geredet hat, bringt kaum noch ein Wort heraus. Ich streiche ihm durchs Haar, halte mein Ohr ganz nah an seinen Mund, und mit der letzten Anstrengung der schwindenden Kräfte flüstert er:

„Charlie, ich glaube an den Heiland. Arthur Müller ist ein Christ. Lebe wohl.“

Charlie? Wieso Charlie? Ich bin nicht Charlotte. Arthur, bitte!“

Es geht ein konvulsivisches Zittern durch seinen Körper; ein Blutstrom quillt aus Arthurs Mund. Ich küsse seine Lippen, die sich wie zarte Frauenlippen anfühlen. Mein Freund drückt nochmals meine Hände und streckt seine Glieder. Dann lösen sich seine Finger langsam von den meinigen – er ist tot. Pocahontas macht eine lockende Handbewegung, doch ich kann mich auf keinen Fall von der Stelle rühren. Meine Augen sind geschlossen. Ich will sie mit aller Kraft aufreißen, vergeblich, die Lider sind heiß, sind tränenverklebt. Als es mir endlich gelingt, fühle ich etwas Pelziges auf meinem Gesicht, eine Art Tatze. Ein schweres Gewicht drückt mich nieder, immer tiefer in den Abgrund. Es dauert mindestens zwanzig Sekunden, bis ich begreife, dass Arthur nicht tot ist und auch nicht durchlöchert, sondern durchaus vital auf mir liegt. In seinem Löwenkostüm. Fauchend. Draußen scheint es noch dunkel zu sein.

„Aufstehen!“ Er fährt mir mit der Pelzpranke übers Gesicht. „Wir dürfen keine Zeit verlieren. Wir müssen bei Lulu sein, bevor sie sich verstecken kann.“

Obwohl dieser fraglos epochale Albtraum zum Glück vorbei ist, kann ich nicht sprechen. Ich fühle mich kraftlos wie ein Häftling nach sechs Wochen Hungerstreik. Keine Chance, Arthur, den König der Löwen, von meinem Körper und aus meinem Bett zu werfen. Mein Kopf glüht, das Kissen ist durchnässt. Sollte ich jemals wieder so einen Fiebertraum haben, bringe ich mich um, denke ich. Oder ich leiste mir mal eine nette kleine Analyse. Oder nehme Drogen, welche Träume an sich konsequent ausblenden. Aber nie wieder so einen Traum.

„Wie spät ist es denn?“ frage ich heiser. „Ich glaube, ich bin krank. Geh’ weg.“

Arthur rollt tatsächlich vom Bett auf den Boden, die Erleichterung ist groß. Er nimmt den lächerlichen Löwenkopf ab.

„Es ist gleich sieben“, sagt er. „Wir müssen los.“

„Du willst Lulu um diese Uhrzeit aus dem Bett holen? Bist du jetzt völlig geistesgestört?“ Meine Stimme gehorcht mir noch immer nicht so recht.

Arthur schält sich nun auch aus dem unteren Teil des Kostüms, unter dem er nichts als Shorts trägt. Er wirkt ein wenig angespannt.

„Erstens bin ich schon seit drei Stunden wach und starre auf das Kate Moss-Poster an deiner Wand. Zweitens habe ich Hunger und es gibt nichts zu essen. Und drittens sollten wir uns ein Beispiel an den Bullen nehmen. Die klingeln auch immer frühmorgens, wenn sie jemanden unbedingt antreffen wollen. Falls Charlotte bei Lulu ist, wird sie jetzt auf jeden Fall da sein.“

Ich ziehe mir die Decke über das Gesicht.

„Klar“, sage ich, „sie werden uns sicher herzlich empfangen. Mit Kaffee und Croissants. Außerdem ist das da an der Wand nicht Kate Moss, sondern Charlotte.“

„Ich dachte eher an Champagner und Lachs.“

„Du kannst dir nicht vorstellen, was ich geträumt habe.“

Captain Smith and Pocahontas had a very mad affair
When her Daddy tried to kill him, she said "Daddy-O don't you dare"

Nach unserem Besuch im Aquarium folgten wir gestern pflichtbewusst dem Python-Orakel und setzten die Schlüssel- und Charlotte-Suche in Kreuzberg, in der Ankerklause fort. Dort erinnerte man sich sehr wohl an Arthur, schließlich hat er in diesem Laden schon mehr Fassbier getrunken, als in den Landwehrkanal passen würde. Die zungengepiercte Kellnerin, mit der mein Freund in jener verlorenen Nacht angeblich ein anregendes Gespräch über Gartenarchitektur geführt haben wollte, vertrat allerdings beharrlich den Standpunkt, erst vor zwei Tagen aus dem Karibik-Urlaub zurückgekehrt zu sein, wofür auch ihre bronzefarbene Gesichtshaut sprach. Außerdem, so die Kellnerin, ginge ihr Gartengestaltung wie kaum ein anderes Thema am Arsch vorbei.

„Mir eigentlich auch“, sagte Arthur. „Das ist ja das Seltsame.“

„Was hast du nur gemacht?“ fragte ich. „Alles, woran du dich erinnerst, ist niemals passiert.“

„Wir müssen also das finden, woran ich mich nicht erinnern kann.“

Der Schlüssel lag natürlich nicht im Anker. Die Schlange, das schien offenkundig, hatte uns auf eine falsche Fährte gelockt, denn auch Charlotte zeigte sich nirgends. Wir tranken also drei, vier Bier, erfreuten uns an der Jukebox und gingen dann zu Fuß zu Lulus Wohnung, dem nächsten blauen Stern auf unserer Karte, dem nächsten potentiellen Charlotte-Versteck. Doch niemand machte auf, obwohl Arthur sogar ein paar Kanalkieselsteine gegen das dunkle Fenster warf. Seinen Plan, eine gute halbe Stunde später ein weiteres Mal – diesmal, zwecks besserer Tarnung, im Löwenkostüm – an die Tür zu klopfen, konnte ich ihm erstaunlicherweise ausreden.

„Wenn sie nicht da ist, ist sie nicht da“, sagte ich. „Und wenn Charlotte dich nicht sehen will, will sie dich nicht sehen.“

„Glaubst du, Pete hätte sich davon abhalten lassen? Manchmal muss man hartnäckig sein.“

„Pete hätte sie mit Blut bespritzt.“

„Morgen früh versuchen wir es wieder.“

Nach weiteren fünf Minuten unter der Decke gelingt es mir tatsächlich, mich aus dem Bett zu erheben. Alles tut weh, innen wie außen. Ich versetze dem Löwenkostüm am Boden einen Tritt und wanke zur Dusche, Traumfetzen geistern wie ein Flackern auf der Netzhaut durch mein Hirn. Mein blutender Freund. Das düstere Gebirge. Die kleinen Kate Moss-Brüste der Häuptlingstochter Lulu-Pocahontas, die alles durcheinander bringt.

„Na also“, freut sich Arthur.

Ich habe keine Lust, aufzustehen. Ich habe keinerlei Bedürfnis, jetzt, zu dieser unchristlichen Zeit, bei der Frau zu klingeln, mit der ich einmal den Sex meines Lebens hatte, was sie aber – so steht zu fürchten – für ihre Person ein wenig anders formulieren würde. Ich bin dieser ganzen, unsternbedrohten Suche müde. Aber ich stehe auf – und ich verrate auch, wieso:

Ich will, dass Arthur und Charlotte wieder zusammenkommen. Ich will wieder Zeit mit den beiden verbringen und vielleicht ab und zu ein paar Abenteuer mit ihnen erleben. Ich will nicht, dass Charlotte, Lulu und sogar Dimona für immer aus meinem Leben verschwinden. Ich will, dass diese Geschichte wie ein verfluchter Hugh Grant-Film endet. Wie ein Chris de Burgh-, nicht wie ein Joy Division-Song. Das liegt mir irgendwie im Blut, ich kann es nicht ändern. Doch wie mein Freund Arthur am Flughafen Tempelhof erklärte: Ein sentimentaler Mensch glaubt, die Dinge blieben so, wie sie sind. Ein romantischer Mensch hingegen vertraut verzweifelt darauf, dass sie eben nicht so bleiben, wie sie sind. Inzwischen weiß ich, dass dieser elende Snob nur F. Scott Fitzgerald zitiert hat, ich habe es noch am selben Tag recherchiert. Bezogen auf Arthur und Charlotte müsste ich gleichwohl sagen: Ich will, dass die Dinge wieder so werden, wie sie waren, nur anders, also wie sie idealerweise sein könnten, woran ich nicht glaube, stehe aber trotzdem auf, obwohl ich vierzig Grad Fieber habe und mich vor Lulu Lilienblum fürchte, um – in meiner grenzenlosen Verzweiflung – alles dafür zu tun, dass die Dinge wieder so werden, wie sie niemals waren oder gar niemals sein konnten. Was für ein Balagan. Ave Maria.

„Beeil’ dich!“, ruft Arthur, während ich kochend heiß dusche – mit brennendem Wasser, sozusagen. „Es wird schon hell.“

„Hat mein Blutsbruder noch einen Wunsch?“ frage ich.

[Wird Charlotte bei Lulu sein? Oder gar Arthurs Schlüssel? Letzteres wäre nun wirklich verdächtig. Die Suche geht weiter vielleicht im nächsten Post...]

2 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Habe ich es nicht gesagt? "Ich" ist schwuler als Karl May. Vielleicht hat er sich auch nur seinem besten Freund zugewandt, weil Lulu ihn nicht noch mal ranlassen wollte. Der Arme.

Anonym hat gesagt…

"Ich" und Herr Müller sind aber auch ebenso große Abenteurer wie Charlie und Winnetou oder gar Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar Ben Hadschi Abul Abbas Ibn Hadschi Dawuhd al Gossarah. Das sollte man neben der homoerotische Komponente eben auch betonen, denke ich. Und vielleicht begeben sie sich ja schon bald ins wilde Kurdistan? Oder ins Land der Skipetaren? Oder ins Reich des silbernen Löwen? Jedenfalls wird's fast schon wieder Zeit für eine Reise. Das wird ein Spaß!