Mittwoch, 10. Oktober 2007

Don't Look Back


„Kannst du nicht mal was kochen? Bitte!“

„Koch doch selber.“

„I’m too good-looking to do the cooking. Hat Kate immer zu Pete gesagt. Und Klara immer zu mir.”

Diese wenigen Sätze waren in zweifacher Hinsicht eine Premiere: Erstmals am heutigen Tag hat Arthur so etwas wie ein Hungergefühl geäußert. Und erstmals seit gestern, 22 Uhr, hat er sein Dauerschweigen gebrochen. Mein Freund, der an schlechten Tagen mehr redet als eine Viva-Moderatorin, ist in eine Art Sprechstreik getreten. Man könnte es auch einen Stupor nennen. Er liegt den ganzen Tag auf meinem Bett, hört Joy Division und Cabaret Voltaire – immer nur Joy Division und Cabaret Voltaire – und starrt an die stuckverzierte Decke. Ich hätte ihn ja gar nicht zur Tür hereingelassen. Doch Arthur hat bei seinem kurzen Bad in der Spree nicht nur endgültig seinen Verstand, seine Unschuld und sein T-Shirt verloren, sondern zudem auch noch seinen Schlüsselbund. Zur gewohnten transzendentalen Obdachlosigkeit gesellte sich also eine ganz konkrete, welcher nicht mal ein Hauch von Clochard-Romantik innewohnt. Während die arme Charlotte und ich und unser Tretboot schließlich von einem sehr deutschen Ruderachter in den Hafen gezogen wurden, wo wir dem Bootsverleiher ein gehöriges Schweigegeld entrichteten, bekam Arthur in der neuen und vermeintlichen besseren Welt wider Erwarten kein Bier. Im Gegenteil: Sie setzten den stinkend, gröhlend und halbnackt aus dem Schmutzwasser gestiegenen Eindringling ohne zu zögern vor die Tür. Und etwa 24 Stunden später stand er vor meiner Tür. Was in der Zwischenzeit passiert ist, will niemand wissen. Als er nach seiner langen Reise ans Ende der Nacht merkte, dass ihm der Zugang zu seiner eigenen Wohnung verwehrt bleiben würde, hat Arthur jedenfalls versucht, bei einer ihm bekannten Dame unterzuschlüpfen. Doch auch diese wies ihn brüsk ab, obwohl er extra Bier mitgebracht hatte. Da mein Freund sich nicht mal einen Anruf beim Schlüsseldienst leisten könnte und seine Wohnung ziemlich einbruchsicher ist, wohnt er nun schon seit ein paar Tagen bei mir und schweigt und hört Musik. Vorhin hat er – nach vier Jahren Pause – sogar eine Zigarette geraucht, wo auch immer die herkam. Und alle zwei Stunden etwa ruft Arthur Charlotte an, doch Charlotte geht nicht ans Telefon. Ich fürchte, sie wird noch sehr lange nicht ans Telefon gehen. Sollten noch irgendwelche CDs von Arthur bei ihr zuhause herumliegen, kann er die zweifelsohne schon mal auf die Verlustliste setzen.

Ich weiß: Lulu hat meinem Freund eine Textnachricht geschickt, die ihm riet, er solle doch bei der Bundeswehr als Ausbilder anheuern und statt schwangeren Frauen lieber jungen Rekruten und/oder Brandenburger Nazis das Leben zur Hölle machen. Zu allem Überfluss hat das toxische Spreewasser auf Arthurs Rücken auch noch ein fürchterliches Ekzem entstehen lassen, das – so steht zu fürchten, respektive zu hoffen – schon bald auf seinen ganzen Körper übergreifen wird. Aber abgesehen davon, sieht er, obgleich ich das niemals laut sagen würde, erstaunlich gut aus. Je abgefuckter sein Zustand, desto größer seine Strahlkraft, könnte man meinen. Glanz und Elend gehen bei Arthur eine faszinierende Symbiose ein. Einzig aufgrund dieser Eigenschaft, die ihm bislang nichts und niemand nehmen konnte, könnte ich mir vorstellen, dass Charlotte irgendwann in den nächsten Monaten doch noch ans Telefon geht.

„I’m too good-looking to do the cooking“, sagt Arthur erneut.

„In fünf Minuten ist es wieder soweit. Charlotte anrufen.“

„Meinst du, ich werde ein guter Vater sein?“

Ich unterbreche das Schreiben für einen Moment und wende mich meinem Freund zu.

„Ich finde, du hast Potential“, sage ich. „In beide Richtungen.“

„Angesichts der Tatsache, dass Dimonas oder Kikis oder Delphines Geburt planmäßig in der Heiligen Nacht erfolgen wird, mache ich mir schon meine Gedanken. Joseph hat sich schließlich auch nicht als der allerbeste Vater erwiesen.“

„Hat dein Traubenzucker dir jetzt endgültig das Gehirn zerfressen?“ Ich fasse mir an den Kopf. „Joseph war doch nicht der Vater von Jesus. Joseph war bloß ein armer Zimmermann. Der Vater Jesu war und ist natürlich Gott.“

„Umso schlimmer!“ Arthur stöhnt auf. „Das hatte ich ganz vergessen. Ein Vater, der seinen Sohn mit voller Absicht ans Kreuz schlagen lässt. Für irgendwelche völlig abstrusen Ziele. Der schlimmste Fall von kosmischem Kindesmissbrauch, der mir je untergekommen ist. Was für ein Omen.“

„Euer Kind ist bereits jetzt unsternbedroht.“

„Ich habe Dimona nicht verdient.“

„Charlotte auch nicht“, sage ich.

„Aber es ist auch nicht immer so einfach mit ihr. Sie sagt nie genau, was sie will. Und ich soll dann immer erraten oder fühlen, was sie will.“

„Sie hat schon ziemlich klar gesagt, dass sie unsere kleine Kahnpartie nicht fortsetzen möchte.“

„Findest du? Vielleicht sollte ich in Zukunft ein bisschen netter zu ihr sein.“


Bob Dylan und der Mann von TIME

Aber zwischen Idee und Wirklichkeit, sagt der Dichter, zwischen Regung und Tat, fällt der Schatten – in diesem Fall ein Schatten so gewaltig wie ein Joy Division-Album. Arthur liegt jetzt auf dem Bauch, er trägt meine Hose, die ihm viel zu klein ist, meine Socken, doch kein Hemd und das Ekzem auf seinem Rücken gleicht einem wuchernden Tschernobyl-Pilz. Ein bisschen hasse ich ihn, ein bisschen leide ich mit ihm.

„In Israel war alles so viel einfacher“, sagt er.

„Klar. Vor jeder Bar Sicherheitskontrollen. Nachtclubs, die in die Luft gesprengt werden. Busse, die samstags nicht fahren. Überall Wüste. Überall Fanatiker. Alles viel einfacher.“

„Trotzdem.“

Irgendwie muss ich ihn aufmuntern, so kann das ja nicht weitergehen. Ich deute auf meinen Computer: „Hast du eigentlich mal wieder nachgeschaut, ob sich möglicherweise doch noch eine postmoderne Frau auf die Annonce gemeldet hat?“

Arthur spricht in sein Kissen: „Nein. Aber wahrscheinlich haben noch ein paar Postbotinnen geantwortet.“

„Als der große Fan und Sammler von Liebesbriefen, der du bekanntlich bist, sollte eine Postbotin dir doch hochwillkommen sein.“ Ich ziehe ihm das Kissen weg. „Stell dir mal vor, von einer Frau gestreichelt zu werden, durch deren Finger schon Abermillionen von Liebesbriefen gegangen sind. Das ist besser als eine Konzertpianistin.“

„Wenn schon, dann will ich eine Punk-Bassistin. Oder halt eine Post-Punk-Bassistin. Außerdem schreibt ja sowieso niemand mehr Liebesbriefe.“

Doch anscheinend habe ich sein Interesse geweckt. Arthur steht tatsächlich auf, wankt zum Schreibtisch herüber und ruft den speziell für seine Suche eingerichteten Email-Account auf. Ich vermute mal, das Passwort lautet „Klara“.

„Eine neue Antwort“, sagt er dann.

„Na also.“

„Was soll das denn jetzt schon wieder?“

„Was?“ Ich schaue ihm über die Schulter.

„Solche Spielchen kann ich in meinem Zustand gar nicht vertragen. Schon wieder eine Nachricht von Frau Unsternbedroht. Wieder nur ein Satz.“

„Und?“

DON’T LOOK BACK”, seufzt Arthur. „Sonst nichts.”

„Da will uns wirklich jemand ein Rätsel aufgeben. Wir sollten mal ernsthaft darüber nachdenken. Vielleicht ist es eine Art Code.“

„Wir sind hier doch nicht bei den Drei Fragezeichen.“

„Wer weiß.“

Selbst auf die Gefahr eines erheblichen Distinktionsverlustes hin, muss ich zugeben, dass mir Justus, Peter und Bob – anders als etwa die Knaxianer – immer sehr am Herzen lagen. Und so langsam weckt dieser knifflige Fall mein Interesse.

„Wofür stehen eigentlich die drei Fragezeichen?“ fragt Arthur.

„Pass auf, es könnte sein, dass es nur irgend eine Ex-Freundin von dir ist, die sich einen Spaß erlaubt. ‚Don’t look back’ würde also gewissermaßen genau das Gegenteil meinen. Nämlich: Schau zurück. Da bin ich. Was auch immer das wieder bedeutet.“

„Alle meine Ex-Freundinnen arbeiten inzwischen bei der Sparkasse.“

„Die erste Assoziation, die mir in den Sinn kommt, ist der Dylan-Film.“

Ich meine natürlich D. A. Pennebakers Meisterstück, den Dokumentarfilm über den gerade mal 24-jährigen Bob Dylan aus dem Jahr 1967. Pennebaker begleitet ihn auf seiner letzten Akustiktour vor der epochalen Elektrifizierung, durch ein düsteres, unfassbar tristes Working Class-Nordengland. Die Kamera interessiert sich weniger für das Geschehen auf der Bühne, als für die Vorgänge dahinter. Es ist der beste Rock’n Roll-Film aller Zeiten. Ein schmutziger Film, wie eine Zeitung aus Cleveland damals schrieb – nichts für Kinobesucher, die sich waschen oder rasieren.

„Also wie gemacht für dich“, sage ich zu meinem Freund.

Zufällig hat mir mein Vater die kürzlich erschienene DVD zum 30. Geburtstag geschenkt. Ich solle mir Dylan zum Vorbild nehmen, sagte er, und endlich mal so schreiben, wie Bobby damals sprach. Wenn’s nur das ist. Ich mache also die Musik aus und lege Don’t Look Back ein. Arthur geht Bier aus der Küche holen.

„Vielleicht gibt uns der Film ja tatsächlich irgendeinen Hinweis auf den Absender“, sagt er beim Zurückkommen.

Die nächsten 90 Minuten sitzen wir wie gebannt vor dem Fernseher. Ich hatte beinahe schon wieder vergessen, was für eine coole Sau Bob Dylan – oder Lucky Wilbury, wie Arthur ihn nennt – damals war. Natürlich ist er heute immer noch cool, selbst wenn er für viel Geld vor dem Papst auftritt. Aber auch wenn er teilweise die gleichen – nicht die selben – Lieder singt, hat der heutige Dylan auf seiner ewig währenden Tour durch die Welt praktisch nichts mehr mit der Sechziger-Jahre-Version zu tun. Ein Unterschied wie Tag und Nacht, als handelte es sich um eine völlig andere Person. Der junge Bob, wie er im Film auftritt, ist ein Killer. Ein maßlos arrogantes, unwiderstehliches Arschloch, dessen aggressive Brillanz, der schlichtweg niemand gewachsen zu sein scheint, einen auch heute noch sofort zu fesseln vermag. Während sein Vorbild Woody Guthrie seiner Gitarre den schönen Slogan This Machine Kills All Fascists eingraviert hatte, könnte auf Dylans Gitarre stehen: This Machine Kills Everybody. Aber noch viel stärker als die Gitarre erweisen sich seine Persönlichkeit und sein Mundwerk als Massenvernichtungswaffen. „It’s gonna happen fast“, warnt er einen TIME-Journalisten vor einem Konzert. Und alles bei Dylan geschieht in diesem Film mit elektrisierender Geschwindigkeit – als nähme er seinen kurz darauf vollzogenen Absprung von der Akustik- zur E-Gitarre, vom Folk zum Rock bereits vorweg. Jener Reporter, ein fetter US-Journalist der ganz alten Schule, ist vollkommen überfordert von jedem einzelnen Satz, den Dylan ihm in den Block diktiert. So erklärt der junge Bobby dem älteren Gentleman von TIME mal eben, was die Wahrheit ist: ein Tramp, der in die Gosse kotzt. Oder auch Mr. Rockefeller, der die U-Bahn zur Arbeit nimmt. Ob das alles Sinn ergibt, ist dabei völlig nebensächlich. Die Frage, warum der reichste Mann der Welt mit der U-Bahn fahren sollte, spielt überhaupt keine Rolle. Wenn Dylan es sagt, ist es die Wahrheit. Und er sagt es mit klirrender Kälte, ohne jemals zu lächeln. Nur ganz am Ende des Gesprächs, als er seine eigenen Vokalkünste mit denen Carusos vergleicht, zuckt es beinahe tuntig um seine Mundwinkel.

„Fällt dir auf“, sage ich zu Arthur, „wie seltsam androgyn Bobby trotz dieser ganzen Macho-Attitüde wirkt?“

„Ich finde ihn extrem sexy“, erwidert mein Freund ernst. „Aber du hast recht, obwohl er so feminin rüberkommt und aussieht wie ein kleiner Jewish Prince, ist er ein eiskalter Macho. Er springt mit Joan Baez so um, wie ich mir in etwa den Umgang Andreas Baaders mit Ulrike Meinhof vorstelle.“

„Es ist nur konsequent, dass der junge Dylan jetzt von der schönen Cate Blanchett gespielt wird. Too good-looking to do the cooking.“

„Dieser absurde, blitzende Geist“, sagt Arthur. „Ich glaube, ich habe eine Erektion.“

„Nein“, entgegne ich, „der Don’t Look Back-Dylan ist nur der Arthur Müller, der du immer sein wolltest. Sogar seine Lederjacke ist tausendmal hipper als deine. Und seine Visionen sind es sowieso.“

„Und Charlotte ist Joan Baez.“

Es gibt noch eine weitere Szene, die wir uns gleich mehrfach anschauen: Bobby sitzt mit einigen Freunden und Bandkollegen in einem Hotelzimmer, es wird fröhlich gezecht. Plötzlich kommen ein paar Leute von der Straße nach oben, die sich über ein aus dem Fenster geworfenes Glas beschweren, welches sie beinahe getroffen hätte. Und Dylan begibt sich sofort auf die Suche nach dem Schuldigen, mit einer investigativen Aggressivität, die den Drei Fragezeichen trotz Telefonlawine und der Bibliothekarstätigkeit Bob Andrews’ leider immer abging. Ich muss an Lulu denken, an Lulu und ihre Geschichte. Wenn ihr Lover auch nur annähernd Bob Dylans Attitüde besessen hätte, hätte sie ihm sein blödes Bordeaux-Glas sicher längst ersetzt, in vielfacher Ausführung, und sich nicht mal darüber beschwert. Zum Schluss der Passage singt His Bobness noch „It’s All Over Now, Baby Blue“, um dem im selben Hotelzimmer anwesenden Möchtegern-Konkurrenten Donovan binnen zwei Minuten die allein ihm, Dylan, eigene unerreichbare Meisterschaft unter Beweis zu stellen.


Bob Dylan und das Glas

„It’s All Over Now, Baby Blue“, sagt Arthur. „Mein Rücken fühlt sich nicht gut an.“

„Der Unterschied zur Van Morrison-Version, die viel erfolgreicher war, ist bemerkenswert.”

Ich spule die Stelle noch mal zurück.

„Van Morrison singt wie ein Method Actor“, sage ich. „Total empathisch. So wie sich De Niro für Raging Bull die Pfunde angefressen hat, legt Van hier praktisch extra noch mal ein paar emotionale Pfunde drauf. Damit dieser Song über das Ende einer Liebe auch maximal authentisch wirkt.“

„Und Dylan macht gar nichts.“ Arthur nickt.

„Stimmt. Er tritt völlig hinter den Song zurück, distanziert sich fast von ihm. Wie ein Brecht-Schauspieler. Und damit steigert er letztlich die Intensität.“

„Heute bist du der erste Detektiv“, sagt mein Freund. „Mein Geist ist noch umnachtet. Aber was hat uns der Film jetzt eigentlich über diese mysteriöse Email verraten?“

Ich zucke mit den Schultern. Arthur lacht – erstmals seit langer Zeit.

„Ich habe vor kurzem einen Song im Radio gehört“, sagt er, „vom letzten Dylan-Album. Dem hundertfünfzigsten ungefähr. Da gab es diese eine Zeile.“

„Ja?“

I wanna be with you in Paradise, and it seems so unfair – I can’t go to Paradise no more, I killed a man back there. Genauso fühle ich mich momentan.”

Ich nicke. Und während Arthur mal wieder vergeblich versucht, Charlotte zu erreichen, schaue ich mir noch ein paar Szenen aus Don’t Look Back an – vierzig Jahre alte Aufnahmen von Robert Allen Zimmermann aus Duluth, Minnesota, der sich mit seinem Auszug in die Welt „Bob Dylan“ nannte, nach einem Waliser Poeten und Säufer, weil er mehr sein wollte, als nur ein Zimmermann.

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