Dienstag, 23. Oktober 2007

Charlottes Welt II [Das Aquarium]

Nicht nur in Charlottes Welt – in unser aller Welt gibt es an sich gar keine Möglichkeit, wahrhaft verwegen zu sein, wie Arthur Müller es so gerne wäre. Wir sind gebunden an unsere Lebensbedingungen, passen uns an. Ein Fisch im Wasser hat keine Wahl – er ist das, was er ist. Ein Goldfisch im Glas oder ein Teppichhai im Berliner Aquarium. Wirklich verwegen und groß wäre es, wenn er im Sand schwimmen könnte. Wir sind Fische und ertrinken. James Dean, ausgerechnet, hat dies so oder ähnlich formuliert, und Arthur Müller sagt:

„Ich hasse Fische.“

„Ich weiß“, sage ich.

Mein Freund zuckt mit den Achseln: „Deshalb musste ich Afet und Esra ja damals verlassen. Ein Goldfisch und ich in einem Raum – das geht einfach nicht.“

„Afet hat dich verlassen.“

„Das kann man so sehen. Man kann es aber auch anders sehen. Jedenfalls habe ich Charlotte extra nach diesem Kriterium ausgewählt: Nie wieder, habe ich gesagt. Meine nächste Freundin, da war ich mir sicher, durfte keinen Fisch besitzen. Und jetzt sind wir hier.“

Nachdem Arthurs Schlüsselbund am Bahnhof Zoo nirgendwo zu entdecken war, sind wir nun wieder auf der Suche nach Charlotte, in Charlottenburg, im Zoo-Aquarium. Angesichts der Phantasieeintrittspreise, die dieses Haus verlangt, mussten wir zu einem kleinen Trick greifen. Während mein Freund die Kassiererin mit einer schlichten, doch effektiven Frage („Wo, bitte, befindet sich das Delphin-Becken?“) in heillose Verwirrung stürzte, schlich ich mich auf der anderen Seite durch den Ausgang herein. Arthur präsentierte zudem einen fünf Jahre alten Studentenausweis – und auf diese Weise haben wir letztlich einen zwar immer noch hohen, aber schon eher angemessenen Obolus entrichtet.

„Schau mal!“ ruft Arthur in der Eingangshalle. „Orson, der weiße Wels, ist wieder da.“ Auf dem selben Plakat wird zudem eine Halloween-Party angekündigt, die das Aquarium nächste Woche in ein veritables Spukhaus verwandeln dürfte.

„Da sollten wir alle zusammen hingehen“, sagt mein Freund.

„Wir haben Charlotte noch nicht mal gefunden. Und ob sie jemals wieder mit dir reden wird, steht sowieso auf einem anderen Blatt. Vielleicht ist sie ja auch wirklich verreist.“

„Sie ist auf jeden Fall in Berlin. Wir müssen sie nur aufspüren. Und was die Party angeht, so schlage ich vor: Du gehst als ultraorthodoxer Jude. Lulu als Pocahontas. Charlotte als Bionade-Flasche. Und Dimona als Gainsbourg Girl.“

„Und du?“

Arthur runzelt die Stirn: „Die Eintrittspreise sind wirklich eine bodenlose Frechheit. Meine Freundin kann von Glück sagen, dass sie diese Aktie hat.“

Erst dachte ich, mein Begleiter hätte sich einen Scherz erlaubt, doch es ist wahr: Charlotte besitzt eine der viertausend Zoo-Aktien, die den jeweiligen Anteilseignern lebenslang freien Eintritt in den Zoo respektive sogar in den Zoo und das Zoo-Aquarium ermöglichen. Ihr persönliches Exemplar ist in der zweiten Kategorie angesiedelt. Sie hat das Wertpapier naturgemäß nicht selbst erworben, sondern geerbt, von ihrem Großvater, der letztes Jahr verstarb. Zunächst war Charlotte erstaunt gewesen, zumal sie selbst der Tierwelt eher indifferent gegenübersteht und vor allem – wie ihr Freund – niemals freundschaftliche Regungen für Fische oder gar Reptilien empfand. Zum letzten Mal hatte sie das Aquarium – wie Arthur und ich – als Kind besucht, im Biologieunterricht. Doch als Charlotte vor einigen Monaten die Agentur-Atmosphäre wieder mal unerträglich erschien, ging sie in ihrer Mittagspause ein paar Schritte spazieren. Sie brauchte dringend frische Luft. Nachdem Arthurs Freundin schon fast am Aquarium vorbeigelaufen war, erinnerte sie sich der Aktie in ihrer Krokohandtasche. Spontan betrat sie das Gebäude und wurde dank ihres Sonderstatus beinahe ehrerbietig begrüßt – ihr Opa hatte als großer Förderer dieser Institution einen gewissen Eindruck hinterlassen. Es war recht leer an jenem Tag. Charlotte streifte durch die finsteren Gänge im Erdgeschoss, ziellos und ohne spezielles Interesse. Doch allmählich wurde ihr bewusst, welch herrlichen Ort sie da entdeckt hatte. Diese Tiefseewelt war ein stilles Paralleluniversum zur Agentur, mitten in der Stadt. Solange nicht gerade die Piranhas gefüttert wurden, schwammen die Fische ruhig und gleichmütig ihre endlosen Bahnen. Überall künstliche Paradiese, für jeden war etwas dabei: die Krustentiere verbargen sich in den für sie geschaffenen Höhlen, die Anakonda schmiegte sich an ihren Ast und für die Ameisen hatte man eigens einen Ameisenhaufen angelegt, in dessen Umkreis sie ungestört ihre ätzende Ameisensäure verspritzen konnten. Jene Insekten im dritten Stock sollten Charlotte auch später stets fremd bleiben. Doch die somnambule Stimmung im Erdgeschoss, die Picasso- und Kugel- und Kofferfisch und selbst die Gepunkteten Wurzelmundquallen verbreiteten, war genau das, was sie gesucht hatte. Schon bald kehrte sie zurück, immer dann, wenn ihr Chef sich mal wieder als das Arschloch erwiesen hatte, das er fraglos ist – und vermutlich auch, wenn ihr Freund sich mal wieder als das Arschloch entpuppt hatte, das er manchmal sein kann. Charlotte ging dann ins Aquarium. Sie sah: den Paarungstanz der Seepferdchen. Die Tarnung der Stabheuschrecke. Die Kletterkünste des Grünen Leguans. Den irisierenden Glanz der Achatschnecken. Die Pracht der Traumkaiserfische. Den hypnotischen Blick des Rotaugenfroschs. Sie hörte Musik, sie dachte nach.

„Charlotte denkt ohnehin sehr viel nach“, sagt Arthur, während wir den ersten dunklen Gang erkunden. „Ich könnte das gar nicht.“

„Meinst du wirklich, dass wir sie hier und heute finden?“

„Folge einfach den Sternchen auf unserer Karte. Wir dürfen nichts unversucht lassen. Obwohl hier viel zu viele Kinder sind.“

„Bei diesem Lärm würde ich auch Musik hören“, sage ich.

„Mmmh.“ Arthur leckt sich die Lippen. „Schau mal. Die Pferdekopfmakrele. In etwas zerlassener Butter könnte die mich als Mitbewohnerin durchaus überzeugen.“

„Wo ist eigentlich der Zitteraal? Der war doch immer hier gleich am Anfang des Rundgangs.“

Keine der im Aquarium ausgestellten Kreaturen hat mich früher so begeistert wie dieser Zitteraal – insbesondere natürlich wegen seines Talents, tatsächlich messbare Elektrizität zu produzieren. Über seiner Einzelvitrine befand sich eine Anzeige, auf der die aktuelle Voltzahl aufleuchtete. Nun ist der Zitteraal verschwunden.

„Je bunter der Fisch, desto dümmer“, meint Arthur. „Auch die Sägefische wurden offenbar ausquartiert. Hier geht alles den Bach runter.“

Wir passieren den wohl gelungensten Bereich, die Landschaftsbecken, an die sich auch die Hai-Abteilung anschließt. Dort ist bereits eine kleine Menschentraube versammelt. Von Arthur nach dem Grund für die wartende Menge befragt, erklärt uns ein älterer Herr, dass die Fütterung der Haie unmittelbar bevorstünde. Er selbst käme mindestens einmal pro Woche hier vorbei, um sich dieses Schauspiel nicht entgehen zu lassen. Das sei schon etwas Faszinierendes. Natürlich warten wir ebenfalls.

„Hast du die Plakette bemerkt?“ fragt mich Arthur.

Im Dämmerlicht kann ich die Aufschrift nur mühsam entziffern, doch offenbar hat Monsieur Sevigny, Charlottes Opa mütterlicherseits, noch vor seinem Tod eine Patenschaft für das Haibecken übernommen, was sicher nicht ganz billig war. Und natürlich mussten es die Haie sein, und nicht etwa die Butterfische oder die Seepferdchen. Nach allem, was mir Arthur erzählt hat, dürfte jener Großvater der einzige erträgliche Mensch in Charlottes Familie gewesen sein. Schon deshalb, weil er sogar Arthur mochte. Er war ein Entdecker, ein Schmetterlingssammler und Naturforscher französisch-schweizerischer Provenienz, der sich nach erfolgreicher Vermehrung des Sevigny-Vermögens mittels undurchsichtiger Handelsgeschäfte früh zur Ruhe setzte, um sich seiner wahren Passion zu widmen. Von Ruhe konnte gleichwohl keine Rede sein, bis zum Schluss bereiste dieser Mann den Globus und schickte seiner Enkelin Ansichtskarten aus den entlegensten Erdgegenden. Ich erinnere mich, dass Monsieur Sevigny ihr zum Geburtstag mal einen Fesselballonflug schenkte. Dies wäre weiter nicht erwähnenswert, da täglich tausend Touristentölpeln am Potsdamer Platz dieselbe Ehre zuteil wird. Doch Charlottes Opa flog den Ballon eigenhändig und ohne fremde Hilfe. Sie schwärmt noch heute von diesem Erlebnis. Und immer wenn sie den Briefkasten leert, hofft sie auf eine letzte, fehlgeleitete Karte aus Tibet oder Madagaskar.

Arthur erinnert sich: „Es war nicht allzu schwer für Charles, wie ich ihn nennen durfte, meine Sympathien zu erlangen, da er, im Vergleich zum Rest des Clans, verblüffend unsadistisch war. Er fiel inmitten der Sevignys allein schon deshalb positiv auf, weil es ihm kein Vergnügen bereitete, anderen Menschen Schmerzen zuzufügen.“ Er schaut mich an, traumverloren und klar: „Die Liebe ist ein Haifischbecken“, fügt er plötzlich hinzu.

„Sie sind schon ganz unruhig.“

„Die Liebe ist ein Blutbad“, sagt Arthur.

Im selben Moment geht ein Raunen durch die Menge, die ersten Fischstückchen werden von oben in das Becken geworfen. Binnen Sekundenbruchteilen hat ein Tigerhai sie verschlungen, sein Konkurrent und Kollege ist weniger erfolgreich – er knallt mit dem Kopf gegen die Scheibe. Für die Dauer eines Wimpernschlages kann man hinter dem Spezialglas seine spitzen Zähne erkennen. Der nächste Fisch, erneut schnellen zwei Haie auf ihn zu, reißen sich um die Beute. Einer ist stärker. Im Hintergrund lauert ein wenig versteckt das wohl niederträchtigste Tier der Erde: Verglichen mit der Grünen Muräne wirkt sogar die Tüpfelhyäne wie eine Lichtgestalt. Sie wartet offenkundig nur darauf, das größtmögliche Unheil anzurichten. Selbst die Haie legen sich mit ihr nicht an. Aber vielleicht tut man der Muräne da ja auch Unrecht, und sie ist eigentlich ganz nett. Wer weiß das schon.

„Ich dachte, das Wasser würde sich rot färben“, bemerkt mein Freund enttäuscht.

Doch der ältere Herr neben uns klärt ihn auf, dass er mit einer derartigen Erwartungshaltung im Kino – er spricht das Wort aus wie: Swingerclub – wohl besser aufgehoben wäre.

„War das schon alles?“ frage ich. „Diese Haie lassen sich aber billig abspeisen. Das waren maximal drei ganze Fische.“

Ich esse ja mehr als diese Haie“, erwidert Arthur. „Erst ziehen sie uns das Geld aus den Taschen, um dann ihre Hauptattraktionen verhungern zu lassen. Fische mögen zwar kein Herz haben – doch der werte Herr Zoodirektor hat auch keins.“

„Ist das da drüben nicht Charlotte?“

„Nein, das ist Kate Moss. So einen Maskenwimpelfalterfisch könnte ich mir übrigens vortrefflich mit etwas Knoblauch, Zitrone und einer Prise weißem Pfeffer vorstellen.“

Unser Gesprächspartner von eben hat diesen Satz mit angehört. Er ist entsetzt: „Junger Mann, der Maskenwimpelfalterfisch ist ein Zierfisch. Den können Sie doch nicht einfach braten.“

„Das Auge isst mit“, entgegnet Arthur und gibt mir einen sachten Stoß.

Wenig später sind wir – etwas abseits, hinter dem Haibecken – wahrhaftig auf dem Meeresgrund angelangt. Außer Arthur und mir ist niemand in diesem Raum. Wir wissen erst gar nicht, wie uns geschieht. Ich kann weder meinen Freund, noch meine eigene Hand erkennen, laufe fast gegen eine Wand. Doch sobald sich die Augen an die ewige Finsternis gewöhnt haben, zeichnen sich winzige Lichter hinter der Scheibe ab. Wie Glühwürmchen in einer Sommernacht kreuzen sie durchs Aquarium. Es sind Laternenfische, ausgestattet mit bakterienbetriebenen Leuchtorganen als Orientierungshilfe und Lichtköder für Beutetiere.

„Hätten wir auch solche eingebauten Laternen“, sagt Arthur, „wäre das Leben viel einfacher.“

„Was ist denn das für ein Lichtspalt?“ frage ich.

Nicht nur die Laternenfische illuminieren diesen Nebenraum, es fällt noch ein anderer schwacher Schein in die Tiefseewelt. Arthur tastet sich darauf zu und bekommt irgendwie die Klinke einer nur angelehnten Tür zu fassen. Er öffnet sie vorsichtig. Wir betreten eine Art Abstellkammer mit einem Fenster, durch das etwas Licht fällt, hier lagern Putzmittel, aber auch allerhand andere Materialien.

„Da ist irgend etwas Pelziges.“ Arthur lässt kurz ein Streichholz aufblitzen, während er offenbar eine Kiste durchwühlt.

„Lass uns sofort hier verschwinden. Ich glaube nicht, dass Charlotte in diesem Karton ist.“

„Charlotte vielleicht nicht“, sagt mein Freund triumphierend. „Aber schau dir das mal an. Das sind Kostüme, Tierkostüme. Wahrscheinlich für die große Halloween-Party nächste Woche.“

„Schön. Ich warte bei den Krokodilen.“

Kurz nachdem ich die Finsternis verlassen habe und wieder vor den Landschaftsbecken stehe, kriecht auch Arthur gleich einer Muräne aus der Höhle hervor. Sein Grinsen erinnert allerdings eher an einen Clownfisch.

„Hast du eigentlich noch Bier in diesem riesigen Rucksack?“ frage ich ihn. „Die Luft ist hier so trocken.“

Wir nehmen die Treppe zum ersten Stock, ins Herz des Berliner Aquariums, dem an ein Tropenhaus erinnernden Krokodilsgehege. Arthur hat sofort Schweißperlen auf der Stirn, es ist wirklich sehr warm hier. Doch zum Glück gibt es ja kühles Bier. Wir stehen ganz allein auf der Brücke, mit der man diesen Raum durchquert, es scheint, als wäre die gesamte Krokodilsfamilie kürzlich verblichen. Nur ein besonders großes und hässliches Exemplar liegt in einer Ecke im Wasser und rollt bisweilen mit den Augen.

„Sieh nur, es lächelt“, sagt Arthur.

Ich wundere mich, wie niedrig das Brückengeländer ist – jedes Kleinkind könnte es problemlos überwinden und würde daraufhin ebenso problemlos von einem Alligatorenschwanz erschlagen werden. Nirgendwo Aufsichtspersonal oder Kameras.

„Würdest du mir mal bitte deinen Schlüssel geben?“ Mein Freund hat zwei Beck’s aus seinem Rucksack geholt. „Du hast doch diesen alten Jugendstilschlüssel. Zum Öffnen.“

Ich gebe ihm meinen Schlüsselbund und widme mich dem Studium der Informationstafeln. Charlottes Opa wäre zweifellos in seinem Element: Hier hausen nicht nur müde Krokodile, sondern zudem die verschiedensten Schmetterlingsarten, vom so genannten Postboten bis hin zum Julia-Edelfalter.

„Scheiße!“ ruft Arthur plötzlich aus.

„Was?“ Ich drehe mich um.

„Der Schlüssel. Er ist runtergefallen.“

„Dann spring’ hinterher“, sage ich, denn natürlich glaube ich ihm kein Wort.

Doch Arthur reicht mir zunächst das geöffnete Bier und zieht mich dann auf die andere Seite der Brücke. Und wenn man herunterblickt, sieht man – unterhalb der Brüstung – trübes Wasser und ein paar Schlingpflanzen. Außerdem liegt dort mein Schlüsselbund, erkennbar an dem roten Schlüsselband.

„Du bist ein verdammter Idiot“, sage ich.

„Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte. Er ist mir irgendwie abgerutscht.“

Ich merke, dass Arthur das Lachen nur mühsam unterdrücken kann und würde ihm am liebsten ins Gesicht schlagen, doch ich sage bloß:

„Ich warte hier und du holst Hilfe. Wenn uns dieser Schlüssel auch noch abhanden kommt, sind wir beide obdachlos.“

Arthur schüttelt den Kopf: „Mach dich doch nicht lächerlich. Ich hole ihn ja schon.“

Einen Moment lang denke ich, mein Freund begäbe sich auf die Suche nach einem Aquariumsangestellten, der uns behilflich sein könnte, doch da hat er bereits ein Bein über das Brückengeländer geschwungen.

„Nein“, sage ich. „Nein, nein, nein. Auf gar keinen Fall.“

„Jetzt stell dich nicht so an. Hier ist doch niemand. Das dumme Krokodil liegt da hinten und pennt. Es dauert nur zwei Sekunden. Du solltest dir ein Beispiel an Monsieur Sevigny nehmen – der war niemals so ängstlich wie du. Meine Peitsche, bitte.“

Tatsächlich befindet sich der Schlüsselbund beinahe in Reichweite, aber allein schon die Tatsache, dass außer uns nun auch ein kleines Mädchen das Tropenhaus betreten hat, lässt mich von Arthurs Aktion entschieden Abstand nehmen. Doch was soll ich machen: Es ist wie immer. Ich könnte wegrennen. Ich könnte meinen Freund erschießen. Mich selbst erschießen. Oder eben bleiben. Das Kind schaut ihn mit großen Augen an, er lächelt zurück – und schwingt das zweite Bein über die Brüstung. Ich beobachte das Krokodil. Einmal neigt es leicht den Kopf, als witterte es den Eindringling in sein Revier. Doch das Biest verharrt weiterhin regungslos in der Ecke.

„Hab’ ihn schon!“ ruft Arthur und hält eine nasse Hand mit dem Schlüsselbund in die Höhe.

„Sehr gut. Dann kannst du das Krokodilsgehege ja jetzt verlassen.“

Während mein Freund noch die Faust in die Luft reckt, landet plötzlich ein Schmetterling auf seiner Hand. Arthur schaut ganz erstaunt, auch ich kann mich der Schönheit dieses Falters nicht entziehen. Er hat keinerlei Berührungsängste, bleibt sekundenlang auf der Menschenhand sitzen. Aufgrund meiner Tafellektüre erkenne ich sofort, dass es sich um einen Passionsblumenfalter handeln muss.

„Sonst meiden mich Schmetterlinge eher immer“, bemerkt Arthur nachdenklich.

In selben Augenblick ertönt ein greller Schrei: Das kleine Mädchen, das wir – gebannt vom leuchtenden Blau des Passionsblumenfalters – völlig vergessen hatten, hat ihn ausgestoßen und steht nun mit offenem Mund auf der Brücke.

„Arthur!“ rufe ich.

Er dreht sich um, sieht – wie ich, wie das Mädchen – das Nilkrokodil, welches sich aus dem Wasser erhebt, begleitet von monströsem Augenrollen. Zwar ist das Tier bestimmt noch zehn Meter entfernt, doch Arthur wirkt irgendwie schockgefroren, in der Bewegung erstarrt, hält er weiter die Hand mit dem Schlüsselbund und dem Schmetterling in die Höhe. Das Kind schreit ein zweites Mal auf. Ich reiche Arthur meinen Arm und ziehe ihn, der mehr wiegt als ein Rhinozeros, über das Geländer. Dabei verschütte ich mein Bier. Das Krokodil taucht wieder unter, mit Ausnahme der verschlagenen Augäpfel. Dass all dies passieren konnte, ohne dass sich irgend jemand in diesem Aquarium dafür interessiert hätte, ist mir völlig unbegreiflich.

„Jetzt ist der Passionsblumenfalter weggeflogen“, sagt Arthur. „Ich hätte ihn gerne Charlotte mitgebracht.“

„Dieser Schmetterling würde in der Berliner Luft innerhalb von dreißig Sekunden verrecken“, entgegne ich. „So wie du gerade beinahe.“

„Ach, komm. Was für ein Kasperletheater. Hier hast du deinen Schlüssel.“

Er reicht mir den feuchten, nach Krokodilswasser stinkenden Schlüsselbund. Das kleine Mädchen ist verschwunden. Es wird nun wohl seinen Eltern eine seltsame Geschichte erzählen und von diesen Eltern dafür als Lügnerin gescholten werden. So wie es mir geht, wenn ich von Arthur Müller erzähle.

„Ich habe dir das Leben gerettet“, sage ich.

„Das Leben ist ein Krokodilsgehege. Ich habe das dumpfe Gefühl, meine Freundin ist heute nicht im Aquarium. Wir schauen noch bei den Schlangen nach und suchen dann woanders weiter. Die blöden Insekten können wir uns sparen. Außerdem habe ich Wasser in den Schuhen.“

„Früher mochte ich immer die Rokokokröte am liebsten.“

„Ich mochte schon immer am liebsten Hummer.“

Es tut mir fast weh, das zu sagen, denn eigentlich habe ich das Berliner Aquarium stets sehr geschätzt – doch heute bin ich enttäuscht. Nicht nur, weil wir Charlotte nicht gefunden haben, und Esra auch nicht, weil der Zitteraal, die Sägefische und die bizarren Vergrößerungsgläser mit den aufgespießten Vogelspinnen verschwunden sind. Das Zoo-Aquarium erscheint mir immer noch als erhabener und geheimnisvoller Ort, doch sein Geheimnis ist nicht mehr so verführerisch, das Unbekannte längst nicht mehr so fremd wie damals. Natürlich nicht. Außerdem hatte ich den Bau an der Budapester Straße etwa zehn Mal so groß in Erinnerung. Man passt sich da zwangsläufig an. Wir sind Fische – und ertrinken.

Charlotte ist weiterhin nirgendwo zu sehen, nur Kinder, überall. Arthur und ich stehen vor dem Glaskasten des Königspythons. Durch das Außenfenster kann man einen Blick in den Zoo werfen: Zwei Löwen räkeln sich auf einem Kunstfelsen. Die Schlange windet sich glitschig um ihren Ast, das schwarze Zünglein schnellt ab und zu hervor.

„Charlotte hat Schlangen früher verabscheut“, sagt Arthur. „Wie Indiana Jones. Aber inzwischen ist das, glaube ich, nicht mehr so.“

„Ich habe heute einiges über deine Freundin gelernt, das ich nicht wusste.“

„Es gibt noch viel mehr, was du nicht weißt. Aber der Python weiß alles. Man kann ihn wie ein Orakel befragen. Ist im Eintrittspreis enthalten.“

„Lieber Python“, frage ich daraufhin feierlich, „was ist nur mit dem Zitteraal passiert?“

Die Schlange zeigt keinerlei Reaktion. Mein Freund klopft ein paar mal an die Scheibe.

„Es muss schon was Persönliches sein“, sagt er. „Hallo, Python! Wo ist Charlotte? Ich vermisse sie. Sehr sogar. Kannst du mir vielleicht helfen?“

Jetzt gleitet das Reptil langsam von seinem Ast in den Sand, legt sich dort nieder.

„Das ist es!“ ruft Arthur. „Der Anker!“

„Der Anker?“

„Siehst du das nicht? Die Schlange hat sich genau in der Form eines Ankers hingelegt. Charlotte ist also in der Ankerklause. Oder mein Schlüssel. Oder beide.“

„Ich kann überhaupt keinen Anker erkennen.“

The better you look, the more you see“, sagt Arthur. „Außerdem ist die Ankerklause das nächste Sternchen auf unserer Karte. Ein rotes und ein blaues Sternchen. Danach können wir dann auch gleich bei Lulu vorbeischauen. Aber erst mal muss ich jetzt dringend was essen. Ich wünschte, mein Großvater hätte mir eine Anker-Aktie vererbt.“

Draußen ist es bereits dunkel. Zum Glück gibt es gleich vis-à-vis vom Aquarium ein hervorragendes Fischrestaurant namens Roter Sand. Dort wird heute ein halber Karpfen mit zwei Beilagen zum Sonderpreis offeriert – eine Einladung, der wir nach diesem aufregenden Tag nicht widerstehen können. Während Arthur erneut versucht, Charlotte anzurufen, öffne ich seinen Rucksack, um ein Apéritif-Beck’s herauszuholen. Ein pelziges Stück Stoff quillt hervor.

„Was ist das denn?“ frage ich.

„Ein Löwenkostüm“, sagt Arthur. „Für Halloween. Aus dieser Kammer.“

„Du hast das gestohlen?“

Ein Löwe hat im Aquarium nun wirklich nichts verloren. Er steckt sein Handy wieder ein. Meinst du, ich könnte statt eines halben auch einen ganzen Karpfen bekommen?

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

haie sind schwule delphine.