Mittwoch, 18. Juli 2007

Arthur Müllers Konzept der Liebe

"Wir werden alt, mein Bester", sagt Arthur, "dreckige, fette, gewissenlose, alte Männer."

Ich nicke. Im hedonistischen Eilat gibt es exakt eine Jahreszeit, eine Lebensform, die sonst nur in Nordamerika vorkommt: Spring Break. Den Begriff könnte man wohlwollend mit „Frühlingserwachen“ übersetzen. Und der Frühling gehört nun mal der Jugend. Wer zuhause kein MTV empfängt, kann sich ebenso gut in eine Strandbar am Roten Meer setzen. So wie Arthur und ich. Wir würden ja gerne miteinander reden, es gibt – wie immer – einiges zu besprechen, doch der penetrante Eilat-Soundtrack (R’n’B-Eintopf gewürzt mit einer Messerspitze Oriental Pop) übertönt selbst die Schreie der fünf Argentinierinnen am Nebentisch. Sie sind viele gefühlte Dekaden jünger als wir und werden momentan von einer Horde Heranwachsender belagert. Soldaten auf Fronturlaub. Es scheint sich um eine Sondereinheit der Israel Defense Forces zu handeln, sie tragen allesamt die Haare stoppelkurz. Das ist untypisch. In der gesamten westlichen Welt, wozu wir den Judenstaat jetzt mal zählen wollen, existiert keine schlampigere Armee als die IDF. Gemeint ist gewiss nicht die Kriegsführung, wohl aber die alltägliche, lässige Oberfläche. Soldatinnen mit Lipgloss, langen Fingernägeln und aufblitzenden Arschgeweihen sind Legion, ihre männlichen Kameraden verzichten gerne mal auf die Morgenrasur. Alle kauen entweder Kaugummi oder rauchen oder rauchen beim Kaugummikauen. Eine Teenager-Armee. Und genauso sieht sie auch aus. Das balzende Platoon auf den Loungemöbeln nebenan macht da schon einen professionelleren Eindruck, vielleicht sind es Air Force-Piloten. Und deren Motto, soviel haben wir durch einen aufschlussreichen Lehrfilm im Luftwaffenmuseum gelernt, lautet: „Results without Apologies“. Das verpflichtet natürlich. Die sich noch zierenden Argentinierinnen, so scheint es, wollen ebenso erobert werden wie einst die Höhen von Golan.

"Her name is Rio and she dances on the sand.
Just like that river twisting through a dusty land."

Arthur, der heute aus irgendeinem Grund ein Störtebeker-T-Shirt trägt, nutzt ein paar stille Sekunden, um mir rasch eine Notiz aus der Sun vorzutragen. Das Meistermannequin Kate Moss, steht dort zu lesen, hat alle Liebesbriefe ihres blässlichen Musiker-Freundes den Flammen übergeben. Sie sollen lichterloh gebrannt haben. Dass mir Arthur ausgerechnet diese Meldung vorliest, ist kein Zufall. Denn mein Freund ist nicht Kate Moss. Er pflegt einen anderen, innovativeren Umgang mit den Ergüssen seiner Verflossenen. Briefe, Postkarten und ausgedruckte Emails seiner unzähligen Ex-Freundinnen bewahrt er nicht nur ewig auf, sondern trägt sie immerzu mit sich herum. Das meine ich ganz wörtlich. Selbst hier in Israel nimmt sein persönlicher Liebesroman in mindestens dreihundert Kapiteln einen guten Teil unseres Marschgepäcks ein. Dazu gehören sogar Textnachrichten, die er mit rührender Akribie von seinem Handy-Display in ein rotes Büchlein überträgt. Mitunter liest er mir daraus vor. Der Hintergrund dieser speziellen Vergangenheitsbewältigung ist vordergründig folgender: Arthur befindet sich, wie er jeder Kneipenbekanntschaft freimütig berichtet, zeit seines Lebens auf der Suche nach der perfekten postmodernen Frau. Leider steht dieses Vorhaben der zentralen These meines Freundes, nach der genuin postmoderne Frauen – zumindest für ihn – gar nicht existieren, unversöhnlich gegenüber.

„Alle Frauen, die ich treffe, sind höchstens ein klein bisschen postmodern“, klagt er immer. „Die meisten würde ich sogar als prämodern bezeichnen.“

Unklar bleibt, was Arthur damit meint. Ich vermute, es hat etwas mit Ironie zu tun. Mit Popmusik und Spielen ohne Grenzen. Vor allem aber versteht die Frauenwelt Arthurs Humor nicht. Was kaum verwunderlich ist – selbst ich, sein bester Freund, verstehe ihn ja manchmal nicht. Außerdem ist sein Humor nihilistisch. Das mag nicht jeder. Doch Arthur hält diese Problematik für eine grundlegende, wenngleich keinesfalls naturgegebene Fehlentwicklung im Verhältnis der Geschlechter.

„Ich will wieder ich sein, zumindest in dem, was ich sage, auch wenn es unmoralisch ist“, lamentiert er sogar hier am Strand. „So wie ich es mit Dir sein kann. Wie soll ich denn jemals mit einer Frau glücklich werden, wenn nichts, was ich sage, so stehenbleibt, wie ich es eben gesagt habe? Alles muss immer erläutert und gerechtfertigt werden. Niemand versteht mich. Das macht mich ganz krank.“

Die Kampfpiloten singen jetzt ein wüstes Lied, die Damen zeigen sich befremdet.

„Dir geht es doch ebenso“, fährt Arthur deutlich lauter fort, „Du traust Dich nur nicht, es auszusprechen.“

Ich protestiere, das ist nicht wahr, er schüttelt traurig den Kopf. Natürlich wird Arthur mir nun wieder sein Projekt erläutern, ich weiß nicht, zum wievielten Mal: Sein von Briefen berstender Schuhkarton, der ihn überall hin begleitet, hat demzufolge nichts mit Sentimentalität zu tun. Es ist eine Sammlung verlorener Illusionen. In Arthurs Händen wird dieser Adidas-Karton – wie eigentlich alles andere auch – zu einem, nun ja, postmodernen Spielzeug.

„Wenn es die eine Frau nicht gibt, wenn keine auch nur über, sagen wir, 65 % meiner Witze lachen kann, und zwar begründet und nicht bloß aus Höflichkeit, bleibt als einzige Möglichkeit, die Frauen deines Lebens in ihrer Akkumulation zu betrachten. Alle zusammen werden dann eine. Und jede bezieht sich ständig auf die jeweils anderen.“

Arthurs Liebeschronik ist, nüchtern betrachtet, der Versuch, die postmoderne Frau golemgleich zu erschaffen. Sie wird gewissermaßen täglich neu aus der vorhandenen Zeichenmenge zusammengesetzt. Hauptsächlich in Arthurs Kopf, versteht sich, sowie in all seinen wirren, phantastischen Erzählungen. Ich frage ihn, ob er denn selber gerne Teil eines derartigen Schuhkarton-Experiments wäre, nicht mehr als eines unter vielen Puzzleteilen, die in ihrer Gesamtheit den perfekten Mann ergäben.

„Das würde mir nichts ausmachen“, entgegnet er, „es wäre sogar eine große Ehre.“

Ich glaube ihm kein Wort. Sein Schuhkarton ist nur Requisite in einer Farce ohne Hoffnung. Weil mein Freund gerade einen Cheeseburger verdrückt hat und sofort danach zur Verdauung ins Rote Meer gesprungen ist, kann ich es ja schnell verraten: Falls alle meine Beobachtungen und Erkenntnisse zutreffen, hat er die postmoderne, genauer: die postmodernste Frau längst getroffen. Vor Jahren schon. Es handelt sich nicht um die zukünftige Mutter der kleinen Dimona, sondern um eine mythische femme fatale, die mir nur einmal begegnet ist, da ich damals ganz woanders wohnte. Zudem war ich an jenem Abend sehr berauscht und kann mich kaum an sie erinnern. Sie existiert also exklusiv in Arthurs Erzählungen – und er erzählt nicht viel von ihr. Ich weiß nur: Sie hieß Klara. Die alte Geschichte. Erst wollte sie ihn. Dann wieder nicht. Dann ein bisschen. Und dann gar nicht mehr. Sie hat ihm niemals einen Liebesbrief geschrieben. Und Arthur war ihr – das vermute ich jedenfalls, auch wenn es schier unglaublich klingen mag – einfach nicht postmodern genug.

Das ist schon ziemlich tragisch. Arthur Müllers Schuhkarton-Konzept der Liebe ist daher ein Betrug. Es verstellt virtuos den Blick auf seinen wahren Charakter. Im Gegensatz zum Riesenarschloch Chris de Burgh und den vermeintlichen New Romantics von Duran Duran ist Arthur wirklich ein Romantiker. Noch mehr als Pete, der Eigenblut verspritzende William-Blake-on-Crack. Noch mehr als ich, obwohl er mir immer wieder vorwirft, durch mein beständiges Romantisieren das Eigentliche nicht zu sehen oder bewußt zu kaschieren. Die postmodernste Frau ist Arthurs blaue Blume. Niemand, der ihn nicht ganz genau kennt, würde auf diese Idee verfallen. Er selbst würde niemals sein wahres Wesen enthüllen. Doch ich weiß, dass es so ist. Klaras Motto, könnte man sagen, war ebenfalls „Results without Apologies“. Und deshalb trägt Arthur jetzt diesen Schuhkarton mit sich herum.

"Her name is Rio she don't need to understand.
And I might find her if I'm looking like I can."

Am Nebentisch scheint die Gefechtslage noch immer unklar, einige Jetpiloten halten inzwischen die argentinische Couch besetzt. Die Flagge, welche die Grenze zu Jordanien markiert, wirkt selbst aus der Ferne noch gigantisch. Ein Statement. Vergesst niemals unser kleines Königreich, euren einstigen Erzfeind, nicht mal am durch und durch eskapistischen Strand von Eilat. Wahrscheinlich musste zur Produktion dieser Fahne eigens eine spezielle Fabrik gebaut werden. Oder tausend jordanische Frauenhände durften tausend Tage weben. Schwerfällig steigt mein Freund aus dem Wasser. Er setzt sich neben mich in den Designersessel, seine Haut trocknet binnen Sekunden. Und dann erzählt mir Arthur, über Christina Aguileras „Dirty“ hinweg, von einem Theaterstück, dass er vor kurzem in Berlin gesehen hat. Es stammt aus Belgien oder Holland, spielt teilweise in Eilat und enthält eine bemerkenswerte Szene:

Ein Mann befindet sich in der relativ heiklen Lage, seiner todkranken Frau, welche er seit langem nicht mehr anfaßt, eröffnen zu müssen, dass er sich, während sie, die Naturkundlerin, beruflich die Negev-Wüste erforschte, regelmäßig in den Bordellen Eilats verwöhnen ließ. Der entscheidende Aspekt, der seiner Gattin nicht gefallen kann, ist dabei gar nicht so sehr sein Geständnis, einer russischen Prostituierten im Affekt ein Auge ausgestochen zu haben, sondern schlicht die Frequenz der Bordellbesuche. Auf ihre bohrenden, vielfach wiederholten und immer hysterischer werdenden Nachfragen hin stellt sich heraus, dass ihr Ehemann jahrelang nicht einmal, nicht dreimal und auch nicht fünfmal pro Woche bei den Huren lag. Sondern siebenmal. 364 Tage im Jahr. Zum Versöhnungsfest Jom Kippur bleibt der Puff nämlich geschlossen.

„Das muss dann immer ein ziemlich komischer Tag für ihn gewesen sein“, meint Arthur und streicht sich über seinen dreckigen, fetten, alten Männerbauch.

Keine Kommentare: