Freitag, 27. Juli 2007

Irgendwie geht die Welt aus dem Leim.Teil I


Ein Anflug eines Katers bei sehr, sehr großer Hitze ist wirklich eine feine Sache. Man ist dann gewissermaßen bewegungsunfähig, nicht rastlos, wie wir es sonst immer sind, und fühlt sich trotzdem gar nicht mal so schlecht. Ein fast perfekter Zustand, finde ich. Erholsam und anregend zugleich, beflügelt er jedes noch so banale Gespräch. Und so sitzen mein Freund Arthur und ich, abgesehen von einer kleinen Anti-Terror-Unterbrechung, seit ein paar Stunden regungslos auf der Terrasse des YMCA. Diese Dependance des sympathischen Christlichen Vereins Junger Männer ist das erhabenste Gebäude Jerusalems – außerhalb der Altstadt jedenfalls. Sein sandfarbener Turm, Mittelstück dreier orientalisch anmutender Bögen und wohl ikonisch zu nennen, ist von überall aus zu sehen. Die Zimmerpreise sind entsprechend unchristlich. Was für eine Enttäuschung – das fröhliche Lied der Village People entpuppt sich als Lügengeschichte:

„Young man, there's a place you can go. Young man, when you're short on your dough.“

Von wegen. Das YMCA Jerusalem ist leider kein schwuler Jugendclub, sondern ein Luxushotel wie jedes andere. Doch hier auf der Terrasse kann man für wenig Geld den ganzen Tag im Schatten sitzen und die heilige Hektik mal hinter sich lassen.

Eine Plakette zitiert aus General Allenbys Eröffnungsrede:

„Here is a place whose atmosphere is peace, where political and religious jealousies can be forgotten and international unity fostered and developed.“

Verblüffend ist, wie recht er hatte, damals in den Dreißigern, bevor das eigentliche Balagan, die uferlose Unordnung, erst so richtig in Gang kam. Nirgendwo in Jerusalem ist es so friedlich wie hier. Bedient werden wir von gelackten, unfassbar servilen Christen arabischer Provenienz, die alle fünf Minuten nach dem Rechten sehen und uns bei jedem Satz mit „Sir“ anreden. Reizende Menschen. Am Trinkgeld werden wir sicher nicht sparen.

Ein perfekter Kater-Tag, wie gesagt, es könnte ewig so weitergehen. Arthur und ich haben uns gegenseitig aus der Jerusalem Post vorgelesen, der deprimierendsten Zeitung dieser Erde.

„Irgendwie geht die Welt aus dem Leim“, hat Arthur Müller dazu bemerkt, und ich glaube, es war irgendein Zitat.

Doch all die ernsten Themen und schlechten Nachrichten haben auch etwas Reinigendes an sich, so dekadent das klingen mag. Von Pete und Paris und Posh ist in dieser Zeitung jedenfalls niemals die Rede, vermutlich sind solche untoten Gestalten der Redaktion gänzlich unbekannt. Themen wie Pendlerpauschale, Leitkultur oder Blutdoping sucht man im Inhaltsverzeichnis ebenfalls vergeblich. Dafür widmet sich selbst die Jerusalem Post dem – so steht zu hoffen – wirklich allerletzten Harry Potter-Band, dessen Erscheinen am Shabbat hierzulande einen Skandal auslöste. Einige Ultraorthodoxe, so erzählte man uns, wollten angesichts dieses Sakrilegs öffentlich das Romanende ausplaudern, was ich naturgemäß nur unterstützen kann und mit allen Mitteln unterstützen werde.

Nach der Presseschau fragte mich Arthur unvermittelt nach den fünf besten Alben der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, und das ist wirklich eine schwere Frage, denn es gibt in der Geschichte der Popmusik keine fürchterlichere, keine lähmendere, kurzum: keine deprimierende Phase, nicht mal in den wahrlich deprimierenden Siebzigern. Wir haben lange überlegt. Als Arthur zu meinem Entsetzen gerade die Traveling Wilburys auf Platz fünf gesetzt hatte, kam zum Glück eine Terrorwarnung dazwischen. Der koptische Kellner bat uns sehr freundlich, sofort die Terrasse zu räumen, es sei ein verdächtiges Fahrzeug entdeckt worden. So etwas lässt uns völlig kalt.

„Wir lassen uns die Popmusik auch von den Taliban nicht verbieten“, bemerkte Arthur energisch.

Mein Freund und ich setzten das Spiel einfach drinnen fort – ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Nun ist die Gefahr endlich gebannt, falscher Alarm, alles friedlich, „All is well!“ – so der Kellner – und wir befinden uns wieder im Freien, umgeben von vermögenden Ralph Lauren-Amerikanern, wie sich das gehört. Arthur hat mir soeben bei einer Flasche San Pellegrino gestanden, dass er in jungen Jahren mal in Anne Frank verliebt war. Und zwar so richtig verliebt.

„Um ehrlich zu sein, auch wenn das geschmacklos ist, ich finde sie immer noch attraktiv“, sagt er jetzt. Ich hoffe, uns hört niemand zu. „Stell dir Anne Frank mal als erwachsene Frau vor. So mit 27 ungefähr.“

„Themawechsel“, sage ich.

Ich frage ihn, was Charlotte, die zukünftige Mutter der kleinen Dimona, ihm geschrieben hätte. Wir haben den Morgen im Internet-Café verbracht. Ich hatte Post aus Tel Aviv, von Sarah, einer hochgradig antisemitischen israelischen Semitin, mit der ich in Berlin mal die Nacht durchmachen durfte. Und auch den Tag danach. Das war im Sommer vor zwei Jahren. Nun will sie mich nächste Woche in ihrer Heimatstadt treffen, ganz zwanglos, und ich kann nicht verhehlen, ich freue mich sehr. Arthur ist, glaube ich, ein bisschen eifersüchtig, doch das geschieht ihm mehr als recht. Seinen Schuhkarton hat er diesmal nicht dabei, er lagert noch im Kofferraum. Einen Ausdruck von Charlottes Email kann er allerdings problemlos präsentieren. Er hat ihre Nachricht – ich schwöre es – extra in diesem Café ausgedruckt, um sie so schnell wie möglich in seine Schuhkartonsammlung eingliedern zu können. Die besten, die klügsten, die schönsten meiner Freunde – alle vom Wahnsinn befallen. Womöglich bald davon zerstört. Ausnahmslos. Und Arthur steht unangefochten auf Platz eins dieser rein privaten Wahnsinns-Hitparade. Er ist geradezu auf diese Chartposition abonniert. Während er jetzt aus der Email vorliest, wird mir einmal mehr bewusst, dass sich daran auch so schnell nichts ändern wird.

„Ich liebe dich nicht, aber ich hasse dich auch nicht“, trägt er gelassen vor. „Damit bringt sie unsere Beziehung wohl ganz gut auf den Punkt. Ich hätte es nicht besser sagen können.“

„Vielleicht ändert sich das ja mit dem Kind“, sage ich.

„Das Kind hat einen Namen“, bemerkt mein Freund beleidigt.

„Verzeihung. Vielleicht ändert sich das ja mit Dimona.“

„Du meinst, dann hassen wir uns nur noch?“

Fuck off“, sage ich, „lass uns lieber wieder von deinem feuchten Traum Anne Frank sprechen.“

„Zusammenfassend muss ich feststellen“, konstatiert Arthur, „dass Charlotte vielleicht nicht gerade die allerpostmodernste, wenngleich beileibe auch keine prämoderne Frau ist. Doch die Beziehung, die wir führen, ist in jedem Fall postmodern. Überdurchschnittlich postmodern, würde ich sagen. Und Dimona wird unsere postmoderne Prinzessin. Hör dir das an, meine Freundin schreibt: ‚Ich habe keine Ahnung, was Du in Israel machst, und ich will es gar nicht wissen – aber Du hast auch keine Ahnung, was ich in Berlin mache, und wahrscheinlich willst Du es auch gar nicht wissen.’ Immer diese Dialektik.“

„Aber stimmt das denn nicht?“ frage ich.

„Es kann sein“, sagt Arthur, „es kann aber auch nicht sein“.

Er will das gerade näher ausführen, als plötzlich – wie aus dem Nichts – eine Dame an unseren Tisch tritt. Sehr schlank, sehr elegant und recht betagt. Es ist etwa drei Uhr am Nachmittag.

„Guten Tag, meine Herren“, sagt sie leise auf Englisch. „Mein Name ist Delphine Nussbaum. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

All was well.

[Wer ist Delphine Nussbaum? Was werden Arthur und ich mit dieser fremden Dame noch alles erleben? Und schaffen es die Traveling Wilburys wirklich unter die Top Five der besten Alben der zweiten Achtzigerjahrehälfte? Antworten auf diese und andere Fragen gibt’s – vielleicht – im nächsten Post.]

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Auch die Zeiten des Verfalls und Untergangs haben ihr heiliges Recht auf unser Mitgefühl.