Dienstag, 24. Juli 2007

Dead Letter Office

„Ich fürchte, ich bin am Jerusalem-Syndrom erkrankt“, sagt Arthur und fasst sich an den Kopf.

Ich muss ihn enttäuschen: Das ist unmöglich. Nicht nur, weil Arthur bekanntlich ein durch und durch gottloser Mensch ist. Hätte ihn diese seltsame Seuche befallen, erkläre ich ihm, wüsste er ja nichts davon, allein ich, sein objektiver Begleiter, könnte die Krankheit bei ihm diagnostizieren. Er, Arthur, würde sich einfach zum Messias ausrufen. Vielleicht auch zur Jungfrau Maria. Und eifrig die nahende Apokalypse verkünden. Der Reiseführer nennt sogar Zahlen: Zwischen 50 und 200 Touristen werden jährlich vom so genannten Jerusalem-Syndrom befallen. Sie tragen Togen, predigen vor Passanten und halten handbemalte Schilder mit Botschaften in die Höhe, wie man das auch aus New York-Filmen kennt. In sehr ernsten Fällen, die aber leider bereits aufgetreten sind, zünden sie sogar Moscheen an. Üblicherweise dauert dieser Zustand eine Woche an – dann sind die Erkrankten geheilt und schämen sich in Grund und Boden. Mir würde es, denke ich, ähnlich gehen.

"Oh, life is bigger. It's bigger than you and you are not me."

Wir stehen wieder auf dem Dach unseres Hotels, des ältesten Hotels Jerusalems, wo schon Mark Twain und ein großer amerikanischer Romantiker – Herman Melville – residierten. Die Abenddämmerung ist stets die allerfeinste Stunde. Wenn die Muezzin singen und die Kuppel von al-Aqsa in der Sonne glänzt, kann sich sogar mein Freund der Magie des Ortes nicht erwehren. Ansonsten ist er, wie bereits angedeutet, eher kritisch eingestellt. In einer Stadt, die sich in erster Linie dem Glauben verschrieben hat, muss sich ein Ungläubiger wie Arthur einfach fremd fühlen. Mir geht es ja nicht anders. Wir beide gehören nach Tel Aviv. Dort pilgern die Menschen am Shabbat zum Strand, nicht zur Klagemauer. Während ich den verdichteten Schaulauf der Haredim, Bible Belt-Christen und Gotteskrieger jedoch mit heidnisch-staunenden Augen betrachte, scheint Arthur bisweilen ernsthaft darunter zu leiden. Er hat ein paar schlechte Erfahrungen gemacht, muss man wissen. Heute kann man ihn getrost als ultraorthodoxen Atheisten bezeichnen.

Arthurs Haltung zur Religion erinnert mich – wenigstens auf diesem poetisch beseelten Dach – an eine Melville-Erzählung: „Bartleby, the Scrivener“. Jener Bartleby erledigt Schreibarbeiten für einen Wall Street-Notar, weigert sich aber konsequent, irgendwelche andersgearteten Aufträge auszuführen. Und zwar immer mit den Worten: „I prefer not to.“ Sie sind sein sanftmütiges Mantra, das jedoch letztlich keinen Widerspruch duldet. Am Ende verweigert Bartleby sogar die Nahrungsaufnahme, verendet elendig im Knast. Der Schreiber ist die einsamste Figur der Literaturgeschichte. Da bin ich mir absolut sicher. Ein einsamerer Mensch als Melvilles Anwaltsgehilfe ist schlicht nicht vorstellbar.

Wenn mein Freund Arthur nun von Religion spricht – und das tut er in diesen biblischen Gefilden recht häufig – schwingt immer auch Bartlebys ziviler Ungehorsam mit: „I prefer not to.“ Im Unterschied zur passiv-schweigsamen Résistance des Schreibers vertritt mein Freund seine Ansichten überaus eloquent. Vor allem mit Christen treibt er mitunter ein perfides Spiel. Gerade etwa, in diesem Augenblick, spricht Arthur mit einer jungen Frau aus Oklahoma, Lizzy, die schon zum zwölften Mal in Jerusalem und vermutlich zum tausendsten Mal auf diesem Dach ist und uns bei Dänenbier einen historischen Crash-Kurs erteilt. Lizzy weiß alles über diese Stadt.

„Was meinst du“, fragt Arthur sie scheinbar ganz ernsthaft, „wie hat Moses sich gefühlt, als er damals vom Berg Horeb hinabstieg, die Gebotstafel im Arm, und das Volk um dieses goldene Kalb tanzen sah?“

Mir wäre der Name des Bergs wohl nicht bekannt gewesen. Doch Arthur – wie ich hier immer wieder mit Verblüffung feststelle – kennt das Alte Testament genau. Die Episode vom goldenen Kalb gehört erklärtermaßen zu seinen Favoriten, es ist ja auch eine ziemlich gute Story, eine ziemlich witzige noch dazu.

„Meinst du nicht, Moses hat sich ganz schön geärgert?“ will er von Oklahoma-Lizzy wissen.

Und Lizzy schaut ihm tief in die Augen, dann mir, die Pupillen wässrig und entrückt, und klärt uns mit trübseliger Stimme auf: „Ich sage euch: In diesem Moment war sein Herz gebrochen. Moses hat sich davon nie wieder erholt.“

„Dieses Kalb“, sagt Arthur noch, „war ja aus den Ohrringen der Frauen gefertigt worden. Das macht es natürlich noch schlimmer.“

Lizzy nickt bloß gedankenverloren.

„Wieso macht es das noch schlimmer?“ frage ich.

„Scheiße, ich habe wirklich das Jerusalem-Syndrom“, entgegnet Arthur.

Wir müssten sofort – so mein Freund – auf den Ölberg steigen, das wäre in dieser Nacht unsere einzige Rettung, und am besten nähmen wir Bier mit, sehr viel Bier, ansonsten sähe er schwarz, und ich sage:

„Wenn wir auf den Ölberg steigen, dann ohne Bier, damit Du mal merkst, wie sich das anfühlt, unbetäubt und nackt“, und Arthur stimmt mir schweren Herzens zu.


"Every whisper of every waking hour I'm choosing my confessions."

Acht Stunden später, an der Klagemauer, sind wir naturgemäß trotzdem betrunken. Ich habe ein schlechtes Gewissen. Vielleicht sollte man diese hochheilige Stätte des Judentums nicht in einem derart derangierten Zustand aufsuchen, blau wie Sinatra und seine Spießgesellen. Doch wir wissen uns immerhin zu benehmen. Zudem fällt auf: Alle wirken irgendwie betrunken – die ultraorthodoxen Haredim in ihrer religiösen Ekstase erwecken sogar noch einen wesentlich trunkeneren Eindruck als Arthur und ich. In weite Tücher gehüllt, betend und monoton singend, tanzen sie sich hier in einen Rausch. Keiner nimmt von uns Notiz. Fraglos ist das alles eher ungewohnt, doch ich muss sagen: Ich schätze diesen Ort – jedenfalls zu so später Stunde. Heute morgen war es viel zu grell, zu voll, zu laut. Die IKEA-Plastikstühle vor der Mauer erschienen uns wie der grässlichste aller Stilbrüche. Doch um drei Uhr nachts sitze ich gerne hier. Selbst Arthur geht es, glaube ich, nicht anders. Ansonsten hätte mich mein ewig rastloser Freund schon längst zum Gehen aufgefordert. „Nenne drei Künstler, die einen Song mit dem Titel ‚Wailing Wall’ aufgenommen haben“, sagt er jetzt. „David Bowie. The Cure“, antworte ich rasch. Ein drittes Beispiel fällt mir nicht ein, Arthur aber auch nicht, obwohl er zaghaft Pink Floyd ins Spiel bringt. Doch nicht alle Mauern sind gleich Klagemauern. Vom Ölberg aus konnten wir kurz zuvor einen Blick auf die andere Mauer erhaschen. Weiß und rostbraun windet sich der neue Hochsicherheitszaun entlang der Grenze zum Westjordanland. Man sieht ihn immer nur aus der Ferne, wirklich nahe sind wir dieser Mauer bislang nicht gekommen.

Aber Arthur und ich müssen jetzt zunächst noch etwas nachholen, was uns heute morgen nicht gelingen wollte. Ich bekenne: Uns ist nichts eingefallen. Was schreibt man Gott, wenn man mal die Gelegenheit dazu hat? Wir haben minutenlang nachgedacht, bei unserem ersten Besuch an der Klagemauer, überlegt, was wir auf unsere kleinen Klagemauer-Zettel schreiben, die man dann irgendwo in die Klagemauer steckt – Gebete und Wünsche und wohl auch Klagen –, doch uns fiel einfach nichts ein. Das ist nun anders. Befeuert vom Bier bringen wir beide etwas zu Papier. Arthur will mir nicht sagen, was er soeben notiert hat, ich halte mich ebenfalls sehr bedeckt. Selbst hier wird nichts verraten. Bei meinem Freund kann ich nur spekulieren. Es ist gewiss nicht unwahrscheinlich, dass er sich erneut die allergröbste Blasphemie zuschulden kommen lässt und die – zum Glück hypothetische – Veröffentlichung seiner Nachricht eine Art jüdische Fatwa, einen Flächenbrand ungekannten Ausmaßes zur Folge hätte. Vielleicht steht auf seinem Zettel: „Wer das liest, ist doof“. Oder: „God is a DJ“. Oder ähnlich Unsagbares. Vielleicht aber auch nicht. Selbst wenn es so abgeschmackt und so brechreizerregend wie ein Chris de Burgh-Song klingen mag: In solchen Momenten sind wir immer ganz allein. Ganz gleich, ob man an Gott glaubt, ob der Ort einem heilig ist oder nicht, man ist allein mit diesem weißen Zettel. Ein Augenblick so schwer wie tausend Jahre Einsamkeit – wie Bartlebys Einsamkeit, die mir jetzt plötzlich wieder im Kopf herumspukt. Melvilles Geschichte erzählt ja ebenfalls von Mauern. Sozialen und realen Mauern. Sie spielt an der Wall Street, in einem von Wolkenkratzern umstellten, lichtlosen Büro. Die ganze Welt scheint nur aus Mauern zu bestehen. Zum Schluss verendet Bartleby in vollkommener Isolation hinter Gefängniswänden, die nicht zufällig „The Tombs“ – die Gräber – genannt werden.

Fast unaussprechlich traurig auch der mögliche Ursprung von Bartlebys Einsamkeit, deren Leitmelodie „I prefer not to“ ist: Glaubt man den Gerüchten, hat sich der Schreiber geradezu mit diesem Virus infiziert. An seinem früheren Arbeitsplatz, der einen unübersetzbaren Namen trägt. Ich spreche vom Dead Letter Office. Einer Art Fegefeuer für falsch oder unzureichend adressierte Briefe. Die Angestellten dieser Einrichtung sind einzig damit beschäftigt, jene irrlichternde Post nach Wertgegenständen zu untersuchen. Dann werden sie den Flammen übergeben – natürlich ohne jemals ihr Ziel zu erreichen. 57 Millionen Mal im Jahr, laut Statistik. Melville schreibt: „On errands of life, these letters speed to death.“ Wer im Büro der toten Briefe arbeitet, wie Bartleby, dem wird die Hoffnung ausgetrieben. Bei der Klagemauer, auf die wir nun zusteuern, ist das anders. Es kommt nur darauf an, ob du glaubst, dass dein Brief den Empfänger erreicht. Oder eben nicht. Keine Ahnung, was mit all diesen Zetteln, den zahllosen Briefchen an Gott in den Mauerritzen, eigentlich geschieht. Man müsste mal bei der Touristeninformation nachfragen. Möglicherweise werden sie schon aus Platzgründen regelmäßig abgeerntet und verbrannt. Für Arthur und mich, soviel steht fest, ist die Klagemauer ein Dead Letter Office.

Dead Letter Office?“ sagt Arthur. „Das ist eine Platte von R. E. M. – nur mit Outtakes.“

Er summt jetzt „Losing my Religion“ vor sich hin. Ich schaue ihn an. Irgend etwas stimmt nicht. Ich kann mir nicht helfen, aber hier ist mein Verdacht: Vielleicht hat mein heillos besoffener Freund heute nacht gar nicht Gott beleidigt, obwohl er ganz sicher noch immer nicht an ihn glaubt. Vielleicht hat er nur einen einzigen Namen – Klara, natürlich – auf seinem Zettel notiert. Vielleicht verspricht er sich etwas davon, vielleicht weiß er es selbst nicht, vielleicht ist er verrückt geworden und tatsächlich am Jerusalem-Syndrom erkrankt, während er nun auf die Mauer zuwankt und in seinem Taumel irgendwie komisch wirkt – komisch und fremd und verzweifelt zugleich.

"I thought that I heard you laughing. I thought that I heard you sing.
I think I thought I saw you try."

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