Dienstag, 14. August 2007

Dolphin

U can cut off all my fins but 2 your ways I will not bend.

Das Angenehme an der Club-Szene hierzulande, sagt Arthur mit einem Seufzer der Erleichterung, ist die Tatsache, dass niemand, wirklich niemand, Pali-Tücher trägt.

Ich stimme ihm zu. Der unsägliche Kult um die Kufiya oder wie auch immer dieses Accessoire heißen mag ist ja in letzter Zeit nicht mehr auszuhalten. Ganz abgesehen von allen politischen Fragen haben wir es dabei mit einem ästhetischen Desaster ohnegleichen zu tun, einem modischen Degenerationsprozess auf ganzer Linie.

„Ricky Martin hat sogar mal ein Pali-Tuch mit der Aufschrift ‚Jerusalem is ours’ getragen“, bemerke ich. „Die einzige Entschuldigung dafür ist sein offenkundiger Analphabetismus.“

„Was für ein Idiot.“ Mein Freund ist erregt. „Schwule Latino-Popper, die in guten Teilen der arabischen Welt gesteinigt würden, tragen Pali-Tücher. Pazifisten tragen Pali-Tücher. Neonazis tragen Pali-Tücher. Und jetzt binden sich auch noch sämtliche Fashion Victims der westlichen Welt diese abstoßend hässlichen Pali-Tücher um den Hals.“

“Die Kaschmir-Variante. Für dreihundert Euro.“

„Wo soll das noch hinführen? Ist das jetzt postmodern? Dabei ist so eine Kufiya doch ein durch und durch vormodernes Kleidungsstück. Ich fürchte fast“, sagt Arthur resigniert, „sogar die postmodernste aller Frauen würde möglicherweise eine Kufiya tragen. Möglicherweise, ich bin mir nicht sicher.“

Womit wir mal wieder beim Thema wären. Arthurs Lebensthema. Wir sitzen seit geraumer Zeit in einer geschmacksicher gestalteten Bar am Mittelmeer, blicken direkt auf die schäumende Gischt. Das Publikum ist schick und schön, vielleicht ein wenig zu schick und schön, doch immerhin trägt hier niemand ein Pali-Tuch und die Bedingungen zum Trinken und Philosophieren könnten vortrefflicher kaum sein. Mein Freund Arthur hat soeben einen kurzen Text formuliert, eine Annonce, die er nach unserer Rückkehr in zwei Berliner Stadtmagazinen aufgeben möchte. Am liebsten würde er sie, glaube ich, sofort dort einreichen, um ja keine Sekunde zu verlieren.

I'll die before I let U tell me how 2 swim.

„Soll das eine Kontaktanzeige werden, oder was?“ frage ich ihn.

„Nein, natürlich nicht. Wenn ich schreibe ‚perfekte postmoderne Frau für postmodernes Projekt gesucht – postmoderne Bewerbungen erbeten’ klingt das ja wohl nicht wie eine Kontaktanzeige. Ich bin schon gespannt, wer sich meldet. Vielleicht kennen wir ja eine der Kandidatinnen.“

„Eventuell meldet sich Charlotte.“

„Das wäre doch großartig“, sagt Arthur unbewegt. „Vielleicht schickt sie mir Fotos, auf denen sie nichts als ein Pali-Tuch trägt. Dann wäre ich auf Umwegen doch noch ans Ziel gekommen und hätte die postmoderne Frau eben dort gefunden, wo ich sie am wenigsten vermute.“

„Hast Du eigentlich auf ihre Email geantwortet?“

„Nein. Was soll man darauf schon antworten. Fuck yourself? Ich spiele ernsthaft mit dem Gedanken, für immer in Tel Aviv zu bleiben.“

„Du solltest ihr trotzdem ein paar Sätze schreiben“, sage ich.

Ich bezweifle, dass Arthur seiner wutentbrannten Freundin auch nur eine einzige Zeile schreiben wird, aber das muss er schon selbst wissen, ich bin ja schließlich nicht die Stimme der Vernunft und werde ihn keinesfalls dazu drängen, zumal in diesem Moment Debbie und Rachel lachend von der Toilette wiederkehren, ein Tablett mit gelblichen Mixgetränken balancierend. Es wäre denkbar, dass zumindest Debbie spätestens jetzt – nach diesem Toilettenbesuch – unter hoch wirksamen Drogen steht.

„Hello, friends“, ruft sie fröhlich.

Debbie muss Kellnerin sein, israelische Kellnerin – anders ist ihr positiver Zugang zur Welt kaum erklärbar. Sie kommt eigentlich aus Belgien, spricht Flämisch, Französisch, Hebräisch und Jiddisch sowie Englisch mit einem täuschend echten Brooklyn-Akzent. Vor allem spricht sie sehr, sehr viel. Debbie ist die Kronprinzessin dieser Bar, ihr Vater der Besitzer. Wir trinken ununterbrochen auf seine Kosten. Und die Bar, das muss ich noch erwähnen, trägt den Namen Clara Bar. Wenn Arthur dies irgendwie aufgefallen sein sollte – und er muss es bemerkt haben – hat er es sich jedenfalls nicht anmerken lassen. Kein Wimpernzucken. Manchmal erschreckt mich seine Coolness.

„Ich glaube ja“, sage ich noch schnell, bevor Debbie und Rachel sich setzen, „eine wirklich postmoderne Frau würde niemals auf eine Anzeige antworten.“

„Das sehe ich anders. Postmoderne Frauen begreifen das Leben als Spiel. Sie lassen sich beispielsweise von Privatdetektiven beschatten, nur um zu sehen, wie sich das anfühlt. Sie gehen als Mann verkleidet in Stripclubs. Oder strippen selber. Living la vida loca, eben. Und so eine Annonce bietet sicherlich eine Menge Möglichkeiten zum Spielen.“

„Ich finde dein Frauenbild nicht unproblematisch.“

Debbie strahlt: „Wir haben Maracuja-Margerithas mitgebracht.“

Die Bässe schwellen an und Rachel setzt sich neben mich. Sie ist bislang kaum zu Wort gekommen. Ich weiß: Ihre Familie stammt ursprünglich aus dem Irak, sie arbeitet als Musiklehrerin an einer Grundschule. Sehr grazil, tiefschwarze Augen – im großen und ganzen mag ich sie sehr. Während Debbies Wesen, das muss man leider so sagen, binnen Minuten enthüllt ist, steckt Rachel voller Überraschungen. Zumindest hoffe ich das. Mein Freund und ich kennen die beiden seit etwa fünfundvierzig Minuten. Sie wollten Arthurs Hut anprobieren. Und seitdem trinken wir eine Gratis-Maracuja-Margeritha nach der anderen.

„Danke, Debbie“, sagen wir.

„Wir müssen nachher unbedingt zusammen in den Breakfast Club gehen“, sagt sie. „Da führt kein Weg dran vorbei. Alle Wege in Tel Aviv führen schließlich zum Breakfast Club.“

„Wenn das so ist“, erwidert Arthur, „bleibt uns wohl nichts anderes übrig.“

„Diese Bar hier“, sage ich zu Rachel, „wirkt sehr neu.“

„Die Clara Bar ist ziemlich neu, antwortet nicht Rachel, sondern ihre Freundin. Ihr könnt euch ja vorstellen, wieso.“

Wir können uns einiges vorstellen, zumindest behaupten wir das immer, doch Selbstmordattentate auf Nachtclubs gehören, wenn man ehrlich ist, nicht dazu. Wer kann sich schon so etwas vorstellen. Aber dies hier, so Debbie, sei das Dolphinarium und gleich nebenan hätte sich der Dolphin befunden – jene Disco, vor der sich vor sechs Jahren ein junger Mann auf seinem vermeintlichen Weg ins Paradies selbst in die Luft sprengte und den Anteil russischer Teenager an der israelischen Bevölkerung erfolgreich dezimierte. Clubbed to Death. Dass C & A seine eigens kreierte Pali-Tuch-Kollektion wieder vom Markt nahm, kann unter diesen Umständen nicht verwundern.

„Wir feiern trotzdem weiter“, sagt Debbie, und natürlich hat sie völlig recht.

If I came back as a dolphin would U listen 2 me then?
Would U let me be your friend? Would U let me in?

Dolphin. Ausgerechnet“, bemerkt Arthur. „Meintest du nicht, Delphine stünden symbolisch für Unschuld?“

Das stimmt. Vorhin, am Banana Beach, lief noch keine House-Musik. Stattdessen: israelische Chansons, danach – zu unserem maßlosen Entsetzen – Coldplay. Und dann David Bowie. „Heroes“ sogar in der teils deutschsprachigen Version vom Christiane F.-Soundtrack. Eine unwirkliche Erfahrung – der Brite Bowie singt am Strand von Tel Aviv in leicht dadaeskem Deutsch von einem Liebespaar an der Berliner Mauer. Ein postmoderner Traum, würde Arthur wohl sagen. Seitdem haben wir über den Song nachgedacht, diese hinreißende Hymne, die ich immer eher instinktiv als intellektuell verstanden habe und auf deren Zeilen „I wish you could swim like the dolphins“ mein Freund soeben angespielt hat.

„Okay“, sagt Arthur jetzt, „dieses Liebespaar an der Berliner Mauer ist unschuldig. Wie die Delphine. Wie Liebespaare eben so sind. Außer vielleicht Bonnie and Clyde. Oder die Ceauşescus. Aber Elena Ceauşescu war ja bekanntlich auch eine Nymphomanin.

„Doch was, bitte“, frage ich, „bedeutet die deutsche Zeile ‚Und die Scham fiel auf ihre Seite’?“

Debbie kennt das Lied leider nicht. Rachel hingegen verabscheut nicht nur, wie sie vorhin kundtat, jeden einzelnen Coldplay-Song, und zwar ohne Ausnahme, sondern entpuppt sich nun überdies als glühender David Bowie-Fan.

„Es geht tatsächlich um Unschuld“, sagt sie ganz ruhig. „Um Adam und Eva im Paradies.“

„Adam und Eva?“

„Ja, Adam und Eva, König und Königin. Dieses Paar an der Mauer kann für die Dauer dieses einen Kusses einen Zustand der Unschuld und Reinheit erleben, der eigentlich längst verlorengegangen ist. Sie sind völlig schamlos. Im positiven Sinne. Die Scham fällt in diesem Fall auf die andere Seite, symbolisiert durch die Mauer. ‚We could steal time just for one day’, heißt es ja später. Sie blenden die Wirklichkeit einfach aus.”

Rachel scheint „Heroes“ recht gut zu kennen. Auf jeden Fall besser als Arthur und ich, dabei haben wir das Stück früher manchmal ganze Nächte lang gehört.

„Aber ist das nicht viel zu romantisch?“ frage ich. „Bowie singt doch auch: ‘And you, you can be mean. And I, I'll drink all the time. 'Cause we're lovers. And that is a fact.’”

“Yes, we’re lovers. And that is that”, ergänzt Arthur. Offenbar können drei von vier Personen an diesem japanisch inspirierten Tisch den kompletten Songtext auswendig.

„Klar.“ Rachel zündet sich eine Zigarette an. Sie wird jetzt richtig leidenschaftlich: „Diese beiden Liebenden sind sich der Vergeblichkeit ihres Unterfangens durchaus bewusst. Sie wissen, dass der Sündenfall bevorsteht und dass sie nie wieder so unschuldig wie Delphine durchs Leben schwimmen können. Also leugnen die beiden die Realität – was bleibt ihnen auch anderes übrig. ‚And we kissed as though nothing could fall’. Sie zelebrieren den Augenblick und werden damit zu Helden. Jedenfalls für einen Tag.“

„Dieser Ansatz beschreibt auch das Grundprinzip des israelischen Nachtlebens sehr treffend“, sage ich, noch beeindruckt von ihrer Analyse. „Jede Party kann die letzte sein. Wie damals in der so genannten Frontstadt Berlin.“

„Leider ist der Zugang zur Klagemauer ja nach Geschlechtern getrennt“, bemerkt Arthur. „Sonst könnte man sich da auch mal küssen, anstatt immer nur zu klagen. Ganz schamlos.“

Debbie trommelt auf der Tischplatte: „Hey, Freunde, gehen wir jetzt in den Breakfast Club?“

„The Breakfast Club is ours“, sage ich.

Arthur zeigt plötzlich auf einen unsichtbaren Punkt mitten im wogenden Nachtmeer, weit weg von der Clara Bar.

„Ich glaube, ich habe gerade einen Delphin gesehen“, sagt er.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Lieber Arthur,

ich kann mir gut vorstellen, dass es Dich gar nicht gibt; falls aber doch, sei bitte nicht enttäuscht: Dies ist keine Antwort auf Deine Annonce. Ich bin nämlich gar nicht besonders postmodern, fürchte ich. Allerdings habe ich den Eindruck, dass Du selbst das auch nicht bist, vielleicht schon eher Dein enigmatischer Freund. Ich glaube, im Grunde möchtest Du nur, dass mit Deiner Frau von Stein alles wieder in Ordnung kommt. Das wünsche ich Dir auch von ganzem Herzen, so prämodern das klingen mag. Hast Du ihr denn inzwischen vielleicht doch geantwortet?
Außerdem denke ich, dass Du mit Deiner Anzeige eigentlich gar keinen Erfolg haben willst. Dir geht es doch vor allem um eine Suche, die gar kein Ende haben soll, wie die nach der Bundeslade, dem Stein der Weisen oder was weiß ich. Am Besten wäre es jedenfalls, Du fährst schnell nach Hause. Dann fällt die Scham endlich auf die Seite. Lass doch Deinen Freund – wie heißt der eigentlich? – all die Soldatinnen, Kellnerinnen oder von mir aus auch Shoa-Überlebenden verführen. Wenn er’s denn jemals hinkriegt.
Aber wahrscheinlich willst Du von mir ja gar keine Ratschläge bekommen, zumal ich gestehen muss, dass ich mein Palituch sehr gern trage. Es ist türkis und war gar nicht mal billig. Und es steht mir wirklich ausnehmend gut! Deine Tochter sollte übrigens Abu Ammar heißen. Und Du solltest Dich gut um sie kümmern.

Moderne Küsse, trotz allem

Deine Babsi