Dienstag, 28. August 2007

Bionade vs. Bier

from: charlotte.sevigny@abc-consulting.de

to: arthurrimbaud3@gmx.li

date: 08. 28. 07 / 06. 32 p. m.

subject: Bionade vs. Bier

Lieber Arthur,

obwohl ich es nur ungern tue, muss ich eines zugeben: Es fühlt sich gut an, dass Du nicht mehr schweigst. Diese Stille tat ja schon in den Ohren weh. Nebenbei bereitet mir die Tatsache, dass Du zum Nichtmehrschweigen sogar ein Internet-Café aufsuchen musstest, besonderes Vergnügen. Die dort versammelten „Verlierer“, wie Du sie bezeichnest, werden Dich sicher als einen der ihren erkannt und mit offenen Armen aufgenommen haben. Wie schön. Ich kann mich ja zum Glück von solchen Orten fernhalten. Auf meinem kleinen Balkon mit W-Lan ist es auch heute wieder sehr idyllisch. Nur ein bisschen langweilig, wie üblich. Vorhin gab es ein gewaltiges Gewitter. Sonst ist rein gar nichts passiert. Gerade habe ich die zweite Flasche Holunder-Bionade geöffnet und die vierzehnte Zigarette nicht geraucht. Ich lese zum dritten Mal Anna Karenina. Die einzige Verliererin auf diesem Balkon bin ich. Das ist mein Leben anno 2007, meine persönliche Saison en enfer.
Immerhin: Du bist auch noch am Leben. Die kleinen Soldatinnen mit ihren „scharfen“ Waffen haben Dich offenbar bestens beschützt. Und jetzt kommst Du also nach Hause. Nicht wegen mir oder wegen Deiner Tochter. Der einzige Grund Israel zu verlassen, ist – „beinahe“ – die bloße Anwesenheit Deines Cousins Konrad in diesem Land. Du sagst es ja selbst. Konrad, der Dir überhaupt nichts getan hat und sich rührend um mich kümmert. Was meinst Du, wie ich mich fühle, wenn ich so etwas lese? Außerdem glaube ich erst an Deine Heimkehr, wenn Du vor meiner Tür stehst. Hoffentlich ohne Militär-Bikini – Du weißt, ich betrachte mich als Pazifistin. Vielleicht bin ich dann auch nicht mehr wütend, wenn ich Dich sehe. Vielleicht bin ich sogar noch viel wütender. Ich weiß es nicht. Ich weiß noch immer nicht, was eigentlich in Dir vorgeht und was ich von Dir erwarten kann. Du sagst zwar nicht, dass Du unser Kind nicht willst, das stimmt. Doch zugleich sagst Du mit keinem einzigen Wort, dass Du es willst. Nicht mal jetzt, wo sich dieses Mädchen schon ganz in Deinem Sinne entwickelt – zum „Gainsbourg Girl“, wie Du es nennst und wie Lulu es mittlerweile leider auch nennt. Meine ständigen Zweifel werden dadurch nicht weniger schmerzhaft. Was die Songauswahl betrifft, hast Du mich übrigens mal wieder unterschätzt: „Je t’aime... moi non plus“ halte selbst ich nicht für sehr originell. „Baby Alone in Babylon“, gesungen von Jane Birkin, erschien mir weitaus passender. Ich glaube, unser Baby hat sofort verstanden, worum es in diesem Lied geht. WAS DENKST DU, ARTHUR?

Du schreibst mal wieder von Intensität. Von dem ganz großen, eindrücklichen und tief empfundenen Leben, nach dem Du immer und überall suchst und das Du offenbar bei mir nicht findest. Aber irgendwie habe ich den Eindruck, es ginge da lediglich um eine Illusion von Intensität. Bier, Humus und Karaoke – mit Verlaub, verglichen damit, erscheint mir das Vaterwerden dann doch als die tiefgreifendere Erfahrung. Aber das musst Du selbst entscheiden. Ich will Dich nicht einsperren. Natürlich nicht. Du kannst von mir aus auch mit Deinem Freund zum Mond fahren. Doch mitunter sieht es für mich so aus, als würdest Du gar nichts mehr mit mir teilen wollen. Als wäre ich nur eine schwere Last, die man irgendwie durchs Leben schleppt und die man ansonsten meidet, wo man nur kann. Du fragst explizit nicht, was für eine Mutter ich sein will. Ich sage es Dir trotzdem, höre bitte ausnahmsweise einmal zu: Ich möchte nicht einfach „Charlotte Sevigny“ sein, so wie Du einfach „Arthur Müller“ sein willst. Ich möchte mich verändern. Für mich und für das Kind. Und auch für uns. Charlotte 2.0 sozusagen. Und Dir würde ich das gleiche raten, selbst wenn ich weiß, wie sehr Dich solche Ratschläge nerven. Aber es ist nun mal so. Und Dein blöder Schuhkarton geht mir auch auf die Nerven. Ich habe mich schon tausendmal entschuldigt und kann nur zum 1001. Mal sagen: Es tut mir leid, doch ich habe Deine Briefe nicht „durchwühlt“, sondern nur ein paar verschämte Blicke riskiert. Ich werde das sicher nicht wieder tun, aber es ist eben passiert. So what? Meinst Du, es macht mir Spaß, immer diese Kollektion historischer Liebesbriefe vor der Nase zu haben – selbst wenn sie vordergründig irgendeinem „postmodernen“ Projekt dient? Einem völlig lächerlichen Projekt, nebenbei gesagt. Doch das weißt Du ja selbst. Und jetzt muss ich los. Die arthurfreie Zeit genießen. Lulu und ich werden unsere Pali-Tücher umbinden und uns zu vollkommen unpostmoderner Musik betrinken. Vorher aber schnell noch ein paar Momente, in denen ich in den letzten Wochen an Dich gedacht habe. Einer davon ist erfunden – aber nicht Nummer 10:

Ich habe an Dich gedacht...

1. ...als mir endlich ein Name für das Baby eingefallen ist. Ein wirklich schöner Name. Dein Überraschungsvorschlag – vermutlich „Beck’s“ oder „Joy Division“ – ist hiermit bereits abgelehnt. Einspruch zwecklos.

2. ...als mich vorgestern im Büro eine Kollegin fragte, ob mein „Partner“ ebenfalls deutlich besser verdienen würde als ich. Ich musste erst laut lachen, verteidigte dich dann aber trotzdem: „Er ist zur Zeit mit einem Filmprojekt beschäftigt“. „Ach ja? Wie interessant. Was denn für ein Projekt?“ „Es befindet sich noch im Planungsstadium, ist aber auf jeden Fall sehr, sehr postmodern.“

3. ...als vorhin bei Edeka „My Heart Will Go On“ in einer Fahrstuhlversion lief. Ich habe kurz überlegt, ob Du wirklich an mich gedacht hast bei Deiner Performance – oder an all die kleinen „scharfen“ Jüdinnen im Publikum. Woran Dein Freund bei „Lady in Red“ gedacht hat, will ich gar nicht wissen.

4. ...als mir kürzlich vor dem Fernseher ausgerechnet bei einer Folge von „Flipper“ die Tränen kamen. Erst habe ich geweint, dann darüber gelacht, dass ich weine und dann wieder geweint, und es hörte nicht auf.

5. ...als ich im Wartezimmer beim Gynäkologen im Stern den Test „Sind Sie ein Alkoholiker?“ machte. Natürlich legte ich nicht die aktuelle Bionade-Situation zugrunde, sondern meine normale Existenz. Ergebnis: Ja, ich bin Alkoholikerin. Na gut, dachte ich – aber was zum Teufel ist dann der Vater meiner Tochter?

6. ...als mir ein wildfremder Mann auf der Straße sagte, wie schön ich sei, obwohl ich eindeutig immer mehr einem Nilpferd ähnele.

7. ...als ich beim Aufräumen eine Postkarte entdeckte, die Du mir mal nach Paris geschickt hast. Mit einem selbstverfassten Sonett, das ich bis heute nicht verstehe. Doch damals habe ich mich sehr gefreut.

8. ...als Deine Mutter hier anrief, um zu fragen, ob ich irgendeine Ahnung hätte, wo ihr Sohn sei und ich nicht wusste, was ich sagen sollte.

9. ...als ich meine italienische Freundin Francesca und deren eineinhalbjährigen Sohn zum Friseur begleitete. Jede Locke, die der kleine Antonio verlor, tat der Mama praktisch körperlich weh. Und mir auch.

10. ...als ich nach Erhalt der „Enjoy the Silence“-Mail sofort Deine Traveling Wilburys-CD gesucht habe. Eine halbe Stunde lang. Und siehe da, sie befand sich in der Tat noch in meinem Besitz, versteckt in einem alten Koffer. Daraufhin klingelte ich bei meinem Nachbarn, Herrn Adler aus dem dritten Stock. Er hilft mir manchmal ein bisschen, wie Du weißt. Ich sagte: „Guten Tag, Herr Adler, könnten Sie mir vielleicht einen Hammer leihen?“ „Was will denn eine schwangere Frau mit einem Hammer?“ fragte Herr Adler freundlich, aber leicht besorgt. „Ich muss nur einen Nagel einschlagen“, sagte ich. „Nichts Besonderes.“ Herr Adler erbot sich natürlich, diese Aufgabe für mich zu übernehmen, doch ich lehnte seine Offerte ab. Ein bisschen Bewegung würde mir sogar gut tun, sagte ich. „Seien Sie bitte vorsichtig“, sagte Herr Adler und gab mir einen schönen, großen Hammer, der wirklich schwer in meinen Händen lag. Ich ging also wieder in meine Wohnung. Dort nahm ich dann die Traveling Wilburys-CD („Volume 1“) und legte sie auf den Balkonboden. Dann holte ich aus, so weit ich konnte. Ich schlug auf die CD ein. Einmal. Dreimal. Achtzehnmal. Immer wieder. Minutenlang. Bis Deine Traveling Wilburys-CD mitsamt dem dazugehörigen Cover in viele, viele kleine Teile zersplittert war. Diese kehrte ich mit dem Handfeger auf und übergab sie dem Müll. Und der Müll wurde am Montag, gegen sieben Uhr in der Frühe, von der Berliner Stadtreinigung abgeholt.

Übrigens: Bionade – und nicht Bier – ist das offizielle Getränk einer besseren Welt (http://www.stille-taten.de/). Grüß mir die „Lady in Red“.

Bisous, Charlotte

P. S.: You only tell me you love me when you’re drunk…

3 Kommentare:

Anonym hat gesagt…

Wer ist dieser Junge? Kann man den kaufen? Charlotte erwartet doch ein Mädchen...

? hat gesagt…

Leider musste dieser reizende barocke Knabe auf Betreiben dunkler Mächte hin entfernt werden. Wir trauern.

Freddie Jones hat gesagt…

Dieser reizende Junge ist Guilio. Der kleine Bruder des großen Freddie Jones. Der Beginn einer großen Dynastie. Einer tausendjährigen Tradition und einer mächtigen Familie. Der Ursprung einer Zeitenwende.