Mittwoch, 8. August 2007

Only the Lonely. Oder: Irgendwie geht die Welt aus dem Leim 2.0

[Beim nachfolgenden Text handelt es sich um eine leicht veränderte Zusammenfassung der letzten drei Posts "Irgendwie geht die Welt aus dem Leim Teil I-III". Die Geschichte der Delphine Nussbaum soll auf diese Weise auch in ihrer Gesamtheit zugänglich sein.]

1

Ein Anflug eines Katers bei sehr, sehr großer Hitze ist wirklich eine feine Sache. Man ist dann gewissermaßen bewegungsunfähig, nicht rastlos, wie wir es sonst immer sind, und fühlt sich trotzdem gar nicht mal so schlecht. Ein fast perfekter Zustand, finde ich. Erholsam und anregend zugleich, beflügelt er jedes noch so banale Gespräch. Und so sitzen mein Freund Arthur und ich, abgesehen von einer kleinen Anti-Terror-Unterbrechung, seit ein paar Stunden regungslos auf der Terrasse des YMCA. Diese Dependance des sympathischen Christlichen Vereins Junger Männer ist das erhabenste Gebäude Jerusalems – außerhalb der Altstadt jedenfalls. Sein sandfarbener Turm, Mittelstück dreier orientalisch anmutender Bögen und wohl ikonisch zu nennen, ist von überall aus zu sehen. Die Zimmerpreise sind entsprechend unchristlich. Was für eine Enttäuschung – das fröhliche Lied der Village People entpuppt sich als Lügengeschichte:

„Young man, there's a place you can go. Young man, when you're short on your dough.“

Von wegen. Das YMCA Jerusalem ist leider kein schwuler Jugendclub, sondern ein Luxushotel wie jedes andere. Doch hier auf der Terrasse kann man für wenig Geld den ganzen Tag im Schatten sitzen und die heilige Hektik mal hinter sich lassen.

Eine Plakette zitiert aus General Allenbys Eröffnungsrede:

„Here is a place whose atmosphere is peace, where political and religious jealousies can be forgotten and international unity fostered and developed.“

Verblüffend ist, wie recht er hatte, damals in den Dreißigern, bevor das eigentliche Balagan, die uferlose Unordnung, erst richtig in Gang kam. Nirgendwo in Jerusalem ist es so friedlich wie hier. Bedient werden wir von gelackten, unfassbar servilen Christen arabischer Provenienz, die alle fünf Minuten nach dem Rechten sehen und uns bei jedem Satz mit „Sir“ anreden. Reizende Menschen. Am Trinkgeld werden wir sicher nicht sparen.

Ein perfekter Kater-Tag, wie gesagt, es könnte ewig so weitergehen. Arthur und ich haben uns gegenseitig aus der Jerusalem Post vorgelesen, der deprimierendsten Zeitung dieser Erde.

„Irgendwie geht die Welt aus dem Leim“, hat Arthur Müller dazu bemerkt, und ich glaube, es war irgendein Zitat.

Doch all die ernsten Themen und schlechten Nachrichten haben auch etwas Reinigendes an sich, so dekadent das klingen mag. Von Pete und Paris und Posh ist in dieser Zeitung jedenfalls niemals die Rede, vermutlich sind solche untoten Gestalten der Redaktion gänzlich unbekannt. Themen wie Pendlerpauschale, Leitkultur oder Blutdoping sucht man im Inhaltsverzeichnis ebenfalls vergeblich. Dafür widmet sich selbst die Jerusalem Post dem – so steht zu hoffen – wirklich allerletzten Harry Potter-Band, dessen Erscheinen am Shabbat hierzulande einen Skandal auslöste. Einige Ultraorthodoxe, so erzählte man uns, wollten angesichts dieses Sakrilegs öffentlich das Romanende ausplaudern, was ich naturgemäß nur unterstützen kann und mit allen Mitteln unterstützen werde.

Nach der Presseschau fragte mich Arthur unvermittelt nach den fünf besten Alben der zweiten Hälfte der achtziger Jahre, und das ist wirklich eine schwere Frage, denn es gibt in der Geschichte der Popmusik keine fürchterlichere, keine lähmendere, kurzum: keine deprimierende Phase, nicht mal in den wahrlich deprimierenden Siebzigern. Wir haben lange überlegt. Als Arthur zu meinem Entsetzen gerade die Traveling Wilburys auf Platz fünf gesetzt hatte, kam zum Glück eine Terrorwarnung dazwischen. Der koptische Kellner bat uns sehr freundlich, sofort die Terrasse zu räumen, es sei ein verdächtiges Fahrzeug entdeckt worden. So etwas lässt uns völlig kalt.

„Wir lassen uns die Popmusik auch von den Taliban nicht verbieten“, bemerkte Arthur energisch.

Mein Freund und ich setzten das Spiel einfach drinnen fort – ohne zu einem befriedigenden Ergebnis zu gelangen. Nun ist die Gefahr endlich gebannt, falscher Alarm, alles friedlich, „All is well!“ – so der Kellner – und wir befinden uns wieder im Freien, umgeben von vermögenden Ralph Lauren-Amerikanern, wie sich das gehört. Arthur hat mir soeben bei einer Flasche San Pellegrino gestanden, dass er in jungen Jahren mal in Anne Frank verliebt war. Und zwar so richtig verliebt.

„Um ehrlich zu sein, auch wenn das geschmacklos ist, ich finde sie immer noch attraktiv“, sagt er jetzt. Ich hoffe, uns hört niemand zu. „Stell dir Anne Frank mal als erwachsene Frau vor. So mit 27 ungefähr.“

„Themawechsel“, sage ich.

Ich frage ihn, was Charlotte, die zukünftige Mutter der kleinen Dimona, ihm geschrieben hätte. Wir haben den Morgen im Internet-Café verbracht. Ich hatte Post aus Tel Aviv, von Sarah, einer hochgradig antisemitischen israelischen Semitin, mit der ich in Berlin mal die Nacht durchmachen durfte. Und auch den Tag danach. Das war im Sommer vor zwei Jahren. Nun will sie mich nächste Woche in ihrer Heimatstadt treffen, ganz zwanglos, und ich kann nicht verhehlen, ich freue mich sehr. Arthur ist, glaube ich, ein bisschen eifersüchtig, doch das geschieht ihm mehr als recht. Seinen Schuhkarton hat er diesmal nicht dabei, er lagert noch im Kofferraum. Einen Ausdruck von Charlottes Email kann er allerdings problemlos präsentieren. Er hat ihre Nachricht – ich schwöre es – extra in diesem Café ausgedruckt, um sie so schnell wie möglich in seine Schuhkartonsammlung eingliedern zu können. Die besten, die klügsten, die schönsten meiner Freunde – alle vom Wahnsinn befallen. Womöglich bald davon zerstört. Ausnahmslos. Und Arthur steht unangefochten auf Platz eins dieser rein privaten Wahnsinns-Hitparade. Er ist geradezu auf diese Chartposition abonniert. Während er jetzt aus der Email vorliest, wird mir einmal mehr bewusst, dass sich daran auch so schnell nichts ändern wird.

„Ich liebe dich nicht, aber ich hasse dich auch nicht“, trägt er gelassen vor. „Damit bringt sie unsere Beziehung wohl ganz gut auf den Punkt. Ich hätte es nicht besser sagen können.“

„Vielleicht ändert sich das ja mit dem Kind“, sage ich.

„Das Kind hat einen Namen“, bemerkt mein Freund beleidigt.

„Verzeihung. Vielleicht ändert sich das ja mit Dimona.“

„Du meinst, dann hassen wir uns nur noch?“

Fuck off“, sage ich, „lass uns lieber wieder von deinem feuchten Traum Anne Frank sprechen.“

„Zusammenfassend muss ich feststellen“, konstatiert Arthur, „dass Charlotte vielleicht nicht gerade die allerpostmodernste, wenngleich beileibe auch keine prämoderne Frau ist. Doch die Beziehung, die wir führen, ist in jedem Fall postmodern. Überdurchschnittlich postmodern, würde ich sagen. Und Dimona wird unsere postmoderne Prinzessin. Hör dir das an, meine Freundin schreibt: ‚Ich habe keine Ahnung, was Du in Israel machst, und ich will es gar nicht wissen – aber Du hast auch keine Ahnung, was ich in Berlin mache, und wahrscheinlich willst Du es auch gar nicht wissen.’ Immer diese Dialektik.“

„Aber stimmt das denn nicht?“ frage ich.

„Es kann sein“, sagt Arthur, „es kann aber auch nicht sein“.

Er will das gerade näher ausführen, als plötzlich – wie aus dem Nichts – eine Dame an unseren Tisch tritt. Sehr schlank, sehr elegant und recht betagt. Es ist etwa drei Uhr am Nachmittag.

„Guten Tag, meine Herren“, sagt sie leise auf Englisch. „Mein Name ist Delphine Nussbaum. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“

All was well.

Während ich wohl noch irritiert in die Gegend blicke, ist mein Freund Arthur – bei aller Unverschämtheit stets auch Gentleman – bereits aufgestanden und hat der Dame einen Stuhl zurückgeschoben. Bevor ich mich überhaupt vorstellen kann, bestellt er beim Kellner ein drittes Wasserglas. Delphine Nussbaum ist klein, zierlich und für hiesige Verhältnisse sehr blass. Platinblondes Haar. Altersflecken und spitze Knochen. Sie trägt ein fliederfarbenes Chanel-Sommerkostüm, eine riesige Chanel-Sonnenbrille und einen Hut, der möglicherweise vom selben Label stammt. Ich weiß es nicht. Es ist ein äußerst breikrempiger Hut. Ihr Englisch klingt manchmal wie Französisch.

„Ich komme eigentlich aus Paris“, sagt Delphine, „aber nach dem Krieg hat es mich hierher verschlagen. Haben Sie schon gegessen?“

Wir ordern gerne eine große Portion Humus und endlich auch die erste Flasche Wein. Golan-Wein. Delphine möchte lediglich einen Teller Pommes, die YMCA-Pommes seien stadtbekannt. Auf ihre Bitte hin erzählen mein Freund und ich ihr unsere Lebensgeschichten. Eigentlich redet mal wieder nur Arthur, denn diese wirklich distinguierte und charmante, aber ziemlich neugierige ältere Dame hat den Fehler gemacht, nach unseren Freundinnen zu fragen. Obwohl ich ihm einen missbilligenden Blick zuwerfe, erläutert mein Begleiter nun erneut sein Konzept der postmodernen Frau. Die ewige Suche. Der Adidas-Schuhkarton mit den Liebesbriefen. Wenigstens spricht er nicht mehr von Anne Frank – und vor allem nicht von Sex mit Anne Frank. Frau Nussbaum ist, das steht fest, auf der Stelle fasziniert.

„Was wollen Sie eigentlich machen, Arthur, wenn Sie diese perfekte postmoderne Frau niemals treffen?“ fragt sie.

„Diese Frage stellt sich mir nicht“, entgegnet mein Freund. „Ich weiß ja, dass es sie irgendwo gibt. Diese Frau. Und bis ich sie finde, gilt das Schuhkarton-Konzept.“

Ich weiß auch, dass es sie gibt. Er hat sie schließlich längst gefunden. Delphine lächelt ganz mädchenhaft, was auch daran liegen kann, dass sie die zynischen Facetten von Arthurs postmodernem Liebeskonzept nicht in ihrer vollen Konsequenz erkennt. Zudem haben wir kurz zuvor vom Sonnenaufgang über Masada geschwärmt. Sie möchte nun noch genauer wissen, was ‚postmodern’ eigentlich bedeute. Arthur redet und redet, er wird immer manischer. Seine Tochter erwähnt er diesmal aber nicht. Dimona, jene ungeborene, doch bereits als ‚postmodern’ gebrandmarkte Prinzessin, die hoffentlich niemals Männer wie ihn kennen lernen wird. Ich gehe aufs Klo. Als ich wiederkomme, stehen Weißwein – süß wie Fanta – und Essen auf dem Tisch und Arthur hält endlich den Mund. Gut so. Er redet einfach gar nicht mehr, verschwindet dann plötzlich ebenfalls auf der Toilette.

„Wie war noch mal Ihr Name, bitte?“ will Delphine von mir wissen. Ich sage es ihr. „Das ist ja fast so romantisch wie ‚Arthur’. Aber Sie beide mögen ja auch Sonnenaufgänge.“

Und jetzt erzählt Delphine Nussbaum, unaufhörlich, als könnte gleich wieder eine Terrorwarnung dazwischen kommen. Trotz einiger tiefer Falten im Gesicht, fabelhafter Falten, fällt mir auf, dass diese Dame geliftet ist. Sie muss einmal sehr schön gewesen sein. Natürlich ist sie es immer noch. Delphines Geschichten sind ebenso glamourös wie ihr Look. Sie handeln von: Männern. Vielen Männern. Gutaussehenden und vermögenden Männern. Männern in Hotels. In Eilat, auf dem Canale Grande, am Ku’damm und an der Cote d’Azur. Es sind Geschichten wie aus einem Fitzgerald-Roman, sie spielen fast immer bei Nacht. Delphine Nussbaum kennt sie alle – die großen, mächtigen, reichen Männer. Ich weiß nicht so recht, was ich ihr glauben kann. Doch immerhin hat sie jahrzehntelang für das israelische Außenministerium gearbeitet und scheint sich – zumindest in diesem kleinen Land, wo beinahe jeder mit jedem befreundet oder verfeindet ist – vortrefflich auszukennen. Angeblich war sie sogar in jungen Jahren mit dem Bruder des aktuellen Premierministers liiert. Ihre Erzählungen lesen sich wie eine Hochglanzausgabe der Jerusalem Post, erstellt von der Paris Match-Redaktion. Dabei nippt diese ältere Dame nur an ihrem Wein, ihre Pommes werden kalt.

Arthur ist vom Klo zurückgekehrt, wirkt nun erfrischt, doch immer noch leicht abwesend.

„Passen Sie auf, meine Herren“, sagt Delphine Nussbaum lächelnd. „Ích muss jetzt zu einer Lesung. Aber würden Sie mir nicht heute Abend zum Apéritif die Ehre erweisen? Ich habe nur eine sehr kleine Wohnung. In der German Colony. Allerdings guten Champagner.“

Das glaube ich sofort. Ich zögere keine Sekunde, die Einladung anzunehmen, denn diese Lady hat wirklich Grandezza und Geist. Das sage ich auch zu Arthur, als Delphine sich mit einem knochigen Handschlag verabschiedet hat, ihre Visitenkarte liegt auf dem Tisch.

„Wenn du mich fragst, ist sie übrigens auch ziemlich postmodern“, füge ich noch hinzu.

Arthur schaut mich nur verstört an.

„Ich muss dir jetzt erzählen, was passiert ist, als du auf der Toilette warst“, sagt er ernst: „Ich musste nämlich gerade gar nicht pissen, sondern nur mein Gesicht waschen, weil ich so rot geworden war.“

„Eben. Aber diese Frau hat es geschafft. Während du auf dem Klo warst, hat sie mir erst lauter Komplimente gemacht. Über mein Aussehen und meinen Charme. Sogar über meine Frisur. Und dann hat sie mich gefragt, ob ich jetzt sofort mit zu ihr nach Hause kommen würde. Du müsstest ja nichts davon erfahren. Wir – also diese Frau und ich – könnten uns ja irgendeine Ausrede ausdenken.“

Arthur streicht sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ich schlucke.

„Willst du mir ernsthaft erzählen, dass sie dich abschleppen wollte?“ frage ich meinen Freund.

Er nickt bloß und trinkt sein Weinglas in einem Zug aus. Ich sage ihm, dass er sich das einbilden würde, in seiner grenzenlosen Eitelkeit. Diese Dame sei erstens nicht nur etwa siebzig Jahre alt und wahrscheinlich eine Shoah-Überlebende, sondern besäße außerdem viel zu viel Klasse und Stolz, um so schmierigen Typen wie Arthur, der vier Dekaden jünger ist, derart unmoralische Angebote zu machen.

„Ich kann dir nur sagen“, insistiert Arthur, „du warst nicht dabei. Ich habe es zuerst auch nicht glauben können. Das ist ja noch geschmackloser als meine Anne Frank-Storys.“

„Das sei mal dahingestellt“, sage ich. Und dann sage ich noch, dass wir in jedem Fall an diesem Abend, kurz nach Beginn des Shabbats, Delphine Nussbaum unsere Aufwartung machen würden – wir könnten ja jederzeit gehen, wenn es ihm, Arthur, nicht behagen sollte und ohnehin säßen wir nunmehr viel zu lange auf der Terrasse des YMCA und es sei wirklich Zeit, mal etwas anderes zu unternehmen.

„Charlotte hat recht. Absolut recht. Sie hat wirklich keine Ahnung, was ich hier in Israel so mache“, meint Arthur gedankenverloren.

Wir zahlen beim entrückten Kellner, natürlich auch für Delphine. Ich schicke mich an, diesen friedlichen, schattigen Ort zu verlassen. Mein Kater ist fürs erste weg. Doch Arthur bittet mich, kurz sitzen zubleiben.

Was ist jetzt eigentlich mit den Traveling Wilburys? fragt er.



2

„Blowjobs sind gestattet, Cunnilingus ist es nicht“, sagt Arthur, während wir durch die Straßen streifen. „Findest du das nicht ein bisschen unfair?“

Was soll ich sagen. Die Haredim, unsere ultraorthodoxen Freunde, müssen beim Sex ja auch immer das Licht ausmachen. Welch deprimierende Vorstellung.

„Na ja“, überlegt mein Freund, „wenn es so in der Heiligen Schrift steht, kann man da eben nichts machen. Am Shabbat gilt Geschlechtsverkehr übrigens als doppelt heilig. Das heißt, gleich wird es in den einschlägigen Stadtvierteln hier richtig zur Sache gehen. Im Namen des Herrn, versteht sich.“

Jerusalem hat sich in Schale geworfen. Das elektronisch verstärkte Horn, welches den Shabbat-Beginn ankündigt, ist zwar noch nicht erklungen. Doch der Menschenstrom fließt offensichtlich Richtung Altstadt, hin zur Klagemauer. Arthur und ich gehen – als einzige, wie es scheint – in die andere Richtung. Zudem sind wir, wie üblich, schlecht gekleidet. Soeben kam eine Textnachricht von Konrad, Arthurs lächerlichem Cousin. Wir sollten ihn bereits gestern in der Uganda-Bar auf ein Bier treffen, konnten ihn allerdings mal wieder nicht erreichen. Und jetzt auf einmal diese SMS, in der uns Konrad ungelogen folgendes mitteilt: Er sei schwer verletzt worden. Auf der Gay Pride Parade. Ein etwa siebenjähriger ultraorthodoxer Junge mit Schläfenlocken und finsterer Miene hätte ihm einen Stein an den Kopf geworfen. Da die diesjährige Parade in Jerusalem bekanntlich unter massivsten Sicherheitsvorkehrungen stattfand, seien ansonsten so gut wie keine ultraorthodoxen Steine geflogen. Genauer gesagt, gar keine. Und ausgerechnet jenes einzelne Wurfgeschoss dieses gerade erst siebenjährigen Jungen, dessen Miene wirklich ausgesprochen finster gewesen wäre, hätte ihn, Konrad, Arthurs Cousin, böse verletzt, Folgeschäden seien beileibe nicht ausgeschlossen. Er stünde noch immer unter Schock. Wir müssten also Verständnis haben, dass er sofort in seinen Kibbuz bei Eilat zurückgekehrt sei, um sich dort angemessen pflegen zu lassen. Ich glaube ihm kein Wort. Wahrscheinlich hat er bloß Angst vor uns, warum auch immer. Selbst Arthur, der seinen jüngeren Cousin stets mit einer gewissen Nachsicht behandelt, empfindet dieses Verhalten als Zumutung.

Eigentlich wären wir gerne mitparadiert. In Jerusalem ergibt ein Gay Pride-Marsch noch Sinn. Arthur und ich hätten den Zug sogar angeführt, Regenbogen und Davidstern geschwenkt. Doch zugleich muss ich hier ein für alle Mal festhalten: Alles, wofür Konrad auf die Straße geht, kann mein Anliegen nicht sein. Jedenfalls nicht gleichzeitig. Seite an Seite mit Konrad zu paradieren, wäre geradezu ein schändliches Unterfangen und – zumindest für mich – eine unerträgliche Tortur. Darum bin ich froh, dass wir am Tag der Gay Pride Parade nicht in der Heiligen Stadt waren. Und sollte Konrad wirklich von diesem Stein erwischt worden sein, was ich nicht glaube, kann ich nur sagen: Es hat nicht den Falschen getroffen, ja, unter 20.000 Teilnehmern exakt den Richtigen, Gott sei Dank. Lang lebe dieser kleine Junge. Doch genug davon.

Arthur und ich wollen jetzt endlich wissen, wie Harry Potter endet. Das heißt, in Wahrheit ist es uns völlig egal, nichts könnte uns gleichgültiger sein. Aber wenn wir das Ende nicht kennen, können wir es ja auch nicht ausplaudern. Und Gelegenheiten dazu gibt es genug: Backpacker lieben Harry Potter. Wir hassen Harry Potter. Und wir hassen Backpacker – obwohl wir strenggenommen selber welche sind, doch dieser Widerspruch hat uns noch nie gestört. Erst als wir vor den verschlossenen Türen eines Medienkaufhauses stehen, merken Arthur und ich, dass unser scheinbar so leichter, freischwebender Kater doch schlimmer sein muss, als wir dachten. Das Geschäft hat geschlossen, natürlich hat es geschlossen. Beinahe alle Läden in dieser Stadt haben seit Mittag geschlossen. Es fahren ja nicht mal mehr Busse. Selbst die Fluglinie El Al hat vorübergehend den Betrieb eingestellt. Mein Freund und ich starren also wie zwei Schwachköpfe durch die Schaufenster, drinnen liegen stapelweise Harry Potter 7-Bände im gewohnt geschmacklosen Design. Fleißige Angestellte haben sie zu Pyramiden aufgetürmt. Keine Chance. Arthur kocht vor Zorn.

So eine Tradition wie der Shabbat hätte ja auch ihre guten Seiten, sage ich besänftigend zu meinem Freund. Im Hebräischen gäbe es ganz sicher kein eigenes Wort für „Tod durch Überarbeitung“. Im Japanischen hingegen schon: Karoshi. Arthur nennt mich einen Klugscheißer, verflucht einmal mehr die Religion:

„Scheiß Shabbat! Ich hasse diesen Tag. Ich will den letzten Satz von Harry Potter wissen.“

All was fucked. Plötzlich jedoch macht mein Freund eine Entdeckung, die uns selbst bei vierzig Grad den Atem gefrieren lässt. Der Zauberlehrling ist auf der Stelle vergessen:

„Die Traveling Wilburys“, sagt er nur.

„Was?“

„Da. Die Traveling Wilburys. Schau einfach mal auf diese Liste.“

Bei jener Liste handelt es sich offenkundig um die TOP 100, die bestplatzierten Singles und Alben der bedeutendsten Musikmärkte der Welt. Arthurs leicht zitternder Finger deutet auf die britischen Charts: Auf Platz eins, vor irgendeinem Konfektionsprodukt, stehen tatsächlich die Traveling Wilburys. Wir können es nicht fassen.

„Befinden wir uns etwa gar nicht im Jahre 2007?“ frage ich Arthur entsetzt.

„Es muss sich um ein Re-Issue handeln. Eine Neuauflage. Die beiden Alben waren ja lange vergriffen.“

„Woher weißt du das?“

Er schaut mich prüfend an:

„Kannst du überhaupt die fünf Mitglieder dieser epochalen Supergroup nennen?“

Ich zögere keine Sekunde:

"In alphabetischer Reihenfolge: Bob Dylan, George Harrison, Jeff Lynne, Orbison und Tom Petty."

Arthur nickt.

„Aber warum nur auf dem ersten Platz? Was ist bloß auf der Insel los?“

Dazu muss man wissen: Während heute schon Formationen wie The Good, the Bad and the Queen oder gar The Raconteurs als „Supergroups“ gehandelt werden, waren die Traveling Wilburys wirklich eine. Vielleicht die letzte überhaupt. Zwar würden mich ihre beiden Platten nicht mal auf einer einsamen Insel interessieren, doch zweifelsohne steht jedes einzelne Bandmitglied für ein Kapitel der Rockgeschichte, so dick, so schauderhaft und farbenfroh wie sämtliche Harry Potter-Bände zusammen. Und das macht eine Supergroup ja schließlich aus. Der Legende zufolge bei einem gemeinschaftlichen Abendessen besagter fünf Popgötter in Santa Monica geboren, gaben sich die Traveling Wilburys von Anfang an in raffiniert-humoresker Manier als Halbbrüder aus, als Söhne des früh verstorbenen, fiktiven Charles Truscott Wilbury Jr. Daran kann sogar ich mich noch erinnern. Ich fand das damals witzig. Das erste Album der Band, „Vol. 1“, auf das obskurerweise „Vol. 3“ folgte, gehört nach Arthurs nunmehr unverrückbarer Überzeugung fraglos unter die Top 5 der besten Alben der zweiten Achtzigerjahrehälfte. Wenn auch nur auf Platz fünf. Ich sehe das natürlich völlig anders.

Arthur fasst mich am Arm. Ihm sei immer noch etwas komisch zumute bei dem Gedanken an diese Pariserin, aber er bräuchte jetzt dringend ein Glas Champagner, Konrads Textnachricht und die ganze Traveling Wilburys-Affäre hätten ihn doch etwas aus dem Konzept gebracht.

Ich beruhige ihn: „Alles wird gut, die meisten Geschichten enden gut. Außer Harry Potter, hoffentlich.“

Das dumpfe Shabbat-Horn ertönt, verzerrt wie eine Flying V-Gitarre. Delphine Nussbaum wartet schon.

German Colony. Das feinste Viertel dieser Stadt. Erschaffen von deutschen Templern, leider fast alle in der Waffen-SS. Ihre Baukunst erscheint heute gleichwohl leicht und modernistisch, unvergänglich schön. Delphine wohnt im obersten Stock, in einer Mansardenwohnung.

„Okay“, sagt Arthur und klingelt entschlossen.

Die alte Dame öffnet vorsichtig die Tür.

„Ich dachte, Sie würden gar nicht mehr kommen.“

Gerade noch enttäuscht, scheint sich Delphine nun sehr zu freuen. Die blauen Augen glänzen. Was für ein Outfit, denke ich. Sogar Arthur verschlägt es für einen Moment die Sprache. Ein schwarzes, rückenfreies Satinkleid, vermutlich wieder von Chanel und vorne ein bisschen sehr transparent. Letale Stilettoabsätze. Delphine trägt Schmuck, viel Schmuck, Geschenke und Gunstbezeugungen eines ganzen Lebens. Sie muss sich stundenlang geschminkt und für uns hergerichtet haben. Ich bin ein bisschen peinlich berührt, doch Arthur hat sich schnell wieder gefangen.

„Natürlich kommen wir“, sagt er. „Wie konnten Sie nur so was von uns denken?“

Delphine wirkt ein wenig nervös, sie bittet uns in ihre kleine Wohnung. An den Wänden drängen sich die Bilder. Das einzige Zimmer ist wirklich winzig, Arthur und ich nehmen auf einer Art Futon Platz, Delphine sitzt uns gegenüber. Wir hören Chopin, glaube ich. Ich fühle mich plötzlich sehr müde, das muss die Hitze sein. Mein Kater meldet sich zurück – und zwar mit ungeahnter Wucht. Ich frage mich, was wir hier eigentlich machen.

Delphine füllt die Champagnergläser.

„Wissen Sie, so manch einer hat schon gesagt, er kommt und ist dann doch nicht gekommen.“

Ein Tennessee Williams-Satz, denke ich.

„Als ich so jung war wie Sie“, fährt unsere Gastgeberin fort, „habe ich nie etwas anderes als Champagner getrunken. Ich wollte es gar nicht. Eigentlich mag ich gar keinen Champagner. Aber irgendjemand hat mir immer ein Glas hingestellt.“

„Ich wünschte, das wäre bei mir auch so“, bemerkt Arthur.

Delphine lächelt.

In Cannes. In New York. Immer war jemand da, der mir Champagner ausgeben wollte.“

Wir plaudern über unsere Reise. Ich bin so erschöpft, dass ich mich zwingen muss, etwas zur Konversation beizutragen, selbst der Schaumwein kann mich heute nicht beflügeln. Es ist einfach viel zu heiß in diesem engen Raum. Zudem weiß ich nicht so recht, wo ich hinschauen soll, denn Delphines Kleid – nicht mal zwei Meter entfernt – ist noch transparenter als anfangs gedacht. Ich fixiere das Collier um ihren Hals, Arthur soll jetzt mal ein bisschen reden. Neugierig, wie mein Freund eben ist, zeigt er auf ein gerahmtes Foto an der Wand. Es muss schon sehr alt sein und zeigt einen bärtigen Mann mit strengem Blick.

„Wer ist das?“ will er wissen.

„Mein Vater“, sagt Delphine. „Er war Rabbiner. Orthodox. Aber nicht so orthodox wie diese Fanatiker.“

„Ein Glück“, murmelt Arthur.

„Er hat Modellbauflugzeuge gesammelt.“

Delphine verfällt auf einmal ins Französische, ich verstehe nur „Auschwitz“, aber das reicht ja auch schon. Arthur erkundigt sich offenbar – gleichfalls französisch parlierend – nach ihren Geschwistern. Sie seien drei Schwestern gewesen, so Delphine wieder auf Englisch, drei schöne kluge Schwestern, wie man ihnen überall zu jeder Zeit bescheinigte. Leider hätte die älteste Schwester, welche in der Vichy-Zeit mit einem deutschen Offizier, nun ja, kollaborierte, die gesamte Familie an die Gestapo verraten. Der Verrat sei das Schlimmste gewesen. Delphines Miene wirkt seltsam entrückt. Ich merke, dass Arthur ebenso ausgelaugt ist, wie ich, doch es hilft alles nichts, da müssen wir jetzt durch. Immerhin, auch wenn ihr Outfit einiges enthüllt, die größte Angst meines Freundes erweist sich als unbegründet: Nichts könnte dieser alten Dame, die nun von ihrer Flucht erzählt, ferner liegen, als Harold and Maude in Jerusalem zu spielen und Arthur und mich zu verführen.

„Wir sind aus dem Fenster gesprungen, meine Mutter, meine jüngere Schwester und ich“, berichtet Delphine. „Aus dem zweiten Stock. Das war unsere Rettung. Meinen Vater haben sie auf offener Straße verhaftet.“

Keine Paris Match-Geschichten mehr, kein bisschen Tender is the Night. Unsere Gastgeberin redet nun schneller und beinahe heiter:

„Meine ältere Schwester ist später dann auch aus dem Fenster gesprungen. Nach der Befreiung. Ich bin gesprungen, um zu leben. Sie ist gesprungen, um zu sterben. Freiwillig.“

Delphine erzählt das, als spräche sie immer noch von Monte Carlo. Sätze wie aus dem kitschigsten Holocaust-Film. Ich habe Holocaust-Filme von jeher gehasst – sie sind sogar schlimmer als Harry Potter-Filme, die wiederum noch ekelerregender als die Harry Potter-Bücher sind. Arthur gießt uns Champagner nach. Wortlos. Ich hoffe nur, Delphine fragt ihn nicht, was denn sein Großvater während des Krieges eigentlich so getrieben hätte. Sie scheint jedoch ausschließlich mich anzuschauen.

„Und wer ist das?“ frage ich, um irgend etwas zu sagen, und deute auf ein großformatiges Foto auf dem Nachttisch. Zu sehen ist ein Mann von etwa vierzig Jahren mit dem blendenden Aussehen eines Filmstars – vermutlich ein verflossener Liebhaber.

„Das ist Josef Mengele“, sagt Delphine Nussbaum.

„Shit“, denke ich.

Arthur wacht auf.

„Darf ich fragen, na ja, darf ich fragen, warum Sie ein Foto von Josef Mengele auf ihrem Nachttisch stehen haben?“

„Weil ich ihn jage“, sagt Delphine. „Seit vielen Jahren schon.“

„Aber Mengele ist doch tot“, sage ich.

„Mittlerweile vielleicht. Aber noch nicht so lange, wie alle denken.“

Mein Gegenüber fixiert mich unverwandt aus wässrig blauen Augen. Delphine zieht einen Umschlag aus der Schublade und drückt ihn mir in die Hand.

„Sie können doch Französisch lesen? Da steht alles drin.“

Ein etwa zwanzigseitiges Manuskript, auf einer antiken Schreibmaschine verfasst. Überschrift: „Rendez-vous avec le Dr. Mengele.“ Kein schlechter Titel. Doch wir kommen gar nicht zum Lesen, denn die alte Dame fängt jetzt erst richtig an zu reden. Wir haben ja schon viel gehört, abseitige Geschichten liegen in diesem Land in der Luft. Doch was uns Delphine Nussbaum nun erzählt, hat eine andere Qualität. Sie redet und redet. Ohne uns auch nur zu Wort kommen zu lassen, berichtet sie von ihrer Jagd nach Dr. Mengele. Fieberhaft, doch niemals unzusammenhängend. Es ist die Art von Geschichte, die man sofort Wort für Wort notieren müsste. Delphine spricht allerdings sehr schnell. Und ich kann mir nicht helfen – so spannend diese Geschichte auch sein mag, mir fallen gleich die Augen zu. Die Hitze ist unerträglich. Meine Bitte, ein Fenster zu öffnen, lehnt die Hausherrin kurzerhand ab. Sie fröre immer und überall, so Delphine, das würde sich wohl leider nicht mehr ändern, nicht mal unter der sengenden Sonne des Nahen Ostens, sie sei eben ein hoffnungsloser Fall.

„Ich wusste immer, dass er noch lebt“, sagt sie bereits zum dritten Mal, als führte sie ein Selbstgespräch.

Delphines Erzählungen muten mitunter an wie der Monolog einer Irrsinnigen, doch ihr Geist scheint dabei völlig klar zu sein. Meine Gedanken schweifen trotzdem immer wieder ab, Arthur geht es wohl ähnlich. Wir wollen uns konzentrieren, versuchen, ihre Worte aufzunehmen, schaffen dies aber nur unter Qualen. Was bleibt, sind Fragmente:

Josef Mengele, Todesengel von Auschwitz, der unter dem Namen Dr. Vogel nach dem Krieg jahrzehntelang eine Privatklinik in einem Nobelviertel von Paris betreibt – während die ganze Welt ihn in Südamerika vermutet.

Delphine, die auf der Suche nach Informationen über ihren deportierten Vater eher zufällig hinter die wahre Identität von Dr. Vogel kommt. Zunächst nur als vage Vermutung.

Delphine, die den nunmehr pensionierten achtzigjährigen Dr. Vogel alias Mengele in seinem Landhaus bei Auvillar besucht. „Was für ein unscheinbares Haus für einen Reichenarzt“, denkt sie zunächst. Doch die schäbige Fassade ist eine Tarnung: Das Interieur erweist sich als geradezu prunkvoll, im Wintergarten wachsen Palmen. Der alte Herr Vogel/Mengele ist ein Charmeur. Beim Abendessen präsentiert er Delphine sein KZ-Tattoo. Verdauungsprobleme.

Delphine, die nach diesem Besuch in der Hölle – „Ich habe mit dem Teufel gespeist“ – sicher ist, so sicher wie noch nie in ihrem Leben, dass sie jenen Mann entdeckt hat, dem Mossad und Co. jahrzehntelang vergeblich nachgespürt haben. „Dr. Vogel sah aus wie ein achtzigjähriger Dr. Mengele“, sagt sie heute.

Delphine, die – zurück in Jerusalem – sofort sämtliche offiziellen Stellen informiert. Die sich mit Wiesenthal und, in Paris, mit dem Ehepaar Klarsfeld trifft. Den Super-Nazijägern. Leider – und das ist die große Misere – erklären sie alle für verrückt.

„Sehen Sie mal“, sagt Delphine und greift nach dem Briefumschlag in meinem Schoß. „Hier. Der Brief von Klarsfeld. Dieser ungehobelte Kerl. Was er hier schreibt: ‚une imagination pervèrse’. Redet man so mit einer Dame?“

Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll.

„Und kann es ein Zufall sein, dass sich Klarsfelds Kanzlei nur wenige Meter von Vogels Klinik, die jetzt von seinem Sohn geleitet wird, entfernt befindet?“

Nur eines von vielen Indizien, die uns die alte Dame akribisch präsentiert. Verblüffend ist: Alles zusammen scheint irgendwie Sinn zu ergeben. Und alles ist mit allem in irgendeiner Form verknüpft. Selbst wenn man sich dagegen wehrt und denkt: „Das kann nicht sein“, entsteht doch ein berückendes Mosaik aus Argumenten und vermeintlichen Beweisen. Wir haben es mit einer wirklich famosen Verschwörungstheorie zu tun – wie in einem Oliver Stone-Film oder einem Don DeLillo-Roman: „Everything’s connected.“ Und sogar die Rothschilds stecken am Ende mit dem Todesengel unter einer Decke.

Delphines zentrale, sensationelle These ist die folgende: Josef Mengele war Jude. Er hat als Jude seine unaussprechlichen Experimente begangen, als Jude die Juden ins Gas geschickt, um sich später als Jude in Frankreich und Israel auf durchaus respektable Weise in die Community einzugliedern. Würde diese Tatsache jemals publik, wäre dies – so Delphine – die größte anzunehmende Blamage für das internationale Judentum und ein Traum für jeden Antisemiten. Ein PR-Desaster ohnegleichen. Deshalb hätte die jüdische Elite ihre schützende Hand über Dr. Mengele gehalten. Was für eine These, denke ich.

„Auch wenn Sie mir nicht glauben“, sagt Delphine jetzt eindringlich. „Ich weiß, dass ich recht habe. Aber Sie können das ja alles noch mal nachlesen. Möchten Sie vielleicht andere Musik hören?“ fragt sie dann unvermittelt.

Arthur und ich schauen uns an. Chopin perlt nicht mehr aus den Boxen.

„Haben Sie vielleicht was von den Traveling Wilburys?“ fragt mein Freund, der Idiot.

„Was?“

Arthur erklärt unserer Gastgeberin, was es mit dieser letzten aller Supergroups auf sich hat.

„Roy Orbison!“ ruft sie daraufhin aus.

Zu meiner maßlosen Verwunderung ist Delphine begeistert – und Mengele scheint plötzlich sehr weit weg.

„Natürlich habe ich Roy Orbison!“

Und Delphine Nussbaum geht tatsächlich zum CD-Regal, welches gleich ein ganzes Roy Orbison-Box-Set enthält. Play. Kurzes Vorspiel. Dum-dum-dum-dumdy-doo-wah. So singt nur einer. "Only the Lonely" erklingt. Arthur grinst. Ich fürche, ich verliere den Verstand.

Die alte Dame verschwindet kurz im Bad. Mein Freund gießt uns beiden noch etwas Champagner ein, wir schweigen, lauschen dem Lied. Als Delphine wiederkommt, ist ihr Lippenstift – entgegen ihren Absichten, vermutlich – verschmiert. Ihr geliftetes Gesicht wirkt etwas fratzenhaft. Sie dimmt das Licht.

„Also, wollen wir jetzt Liebe machen, oder nicht?“ fragt Delphine.

Wir schauen sie entgeistert an. Noch bevor wir irgend etwas erwidern können, beginnt die alte Dame zu tanzen. Roy Orbison singt und Delphine Nussbaum tanzt.

"Only the lonely know the heartaches I've been through. Only the lonely know I cried and cried for you."

„Mit zwei Männern ist es manchmal ein bißchen kompliziert”, sagt sie. „Aber das kriegen wir schon hin.“

Und dann zieht sie sich aus. Zunächst schleudert sie lässig ihre Stilettos von sich, dann streift Delphine Nussbaum ihr Kleid ab. Ganz langsam und durchaus mit Anmut. Vulgär ist diese Lady nicht. Arthur und ich schauen ihr dabei zu, gebannt und wie angewurzelt, keiner von uns beiden sagt ein Wort. Wir waren ja schon in einigen tristen Table Dance-Bars – doch das hier ist ganz ohne Zweifel der traurigste Striptease aller Zeiten.

"Maybe tomorrow. A new romance. No more sorrow."

Jetzt fällt der BH. Ich weiß, wir müssen etwas tun. Wir müssen diese Dame stoppen. Der Selbstdemütigung ein Ende bereiten. Sofort. Aber wir tun nichts. Wir starren nur fasziniert auf diesen verwelkten, verblichenen Frauenkörper, der sich da aufreizend im Takt wiegt. Die kleinen schlaffen Brüste. Obwohl ich jetzt wirklich nicht daran denken möchte, kommen mir der Tel Aviver Taxifahrer und sein Ernährungsplan für junge Mädchen in den Sinn: „Humus makes big tits. Big big big tits." Und obwohl ich selber nicht fassen kann, dass ich in diesem Moment so etwas denke, obwohl ich mich natürlich dafür schäme, fällt mir doch auf, dass Delphine Nussbaums Mini-Körbchengröße möglicherweise auf ihre französische, nicht-israelische, humusfreie Herkunft zurückzuführen sein könnte. Das denke ich, als ich sie tanzen sehe. Außerdem drängt sich mir die ähnlich entgrenzte Frage auf, was es unter ultraorthodoxen Gesichtspunkten bedeuten würde, wenn Arthur und ich jetzt, am Shabbat, ganz unorthodox zu zweit mit dieser alten Dame Sex hätten. Wäre das dann vierfach heilig? Aber während ich mich noch mit derlei Ungewissheiten beschäftige, steht Arthur endlich auf. Mit sanfter Gewalt verhindert er die Totalentblößung, indem er Delphine eine Decke um die Schultern legt. Diese reagiert mit Unverständnis.

„Warum besuchen Sie mich überhaupt, wenn Sie keine Liebe machen wollen?“ fragt die alte Dame meinen Freund.

„Wir sind sehr müde“, sagt Arthur freundlich. „Wir müssen jetzt gehen.“

„Ja, wir haben morgen eine lange Autofahrt vor uns“, sage ich.

Delphine ist verwirrt.

„Warum besuchen Sie mich dann überhaupt?“ fragt sie noch mal.

Arthur versichert ihr, dass es uns eine große Freude gewesen sei, noch niemals hätten wir derart interessante Geschichten gehört und so hervorragenden Champagner gekostet, doch jetzt sei es eben Zeit für uns, zu gehen. Er macht das beinahe zärtlich. Auch Delphines Wimperntusche ist nun verlaufen, sie sieht zunehmend aus wie eine Greisin – eine gebrochene Greisin, das steht fest. Mit der Decke erinnert sie mich an ein Erdbebenopfer, das gerade von Rettungstrupps aus den Trümmern geborgen wurde. Delphine, die immer noch Dr. Mengele jagt. Die so viele Männer gejagt hat. Für die es tausend Männer gab und hinter tausend Männern keine Welt. Big big big Balagan, denke ich.

Wir müssen so schnell wie möglich hier raus. Raus aus der Hitze, raus aus dieser Wohnung, raus aus der Hölle der Einsamkeit.

„Haben Sie die Papiere?“ fragt mich Delphine, nun gefasster. „Soll ich Ihnen eine Tüte dafür geben? Damit nichts verloren geht?“

Ich lehne dankend ab und verspreche, das Mengele-Manuskript notfalls mit meinem Leben zu beschützen.

„Ich bin schon sehr gespannt auf die Lektüre“, sage ich.

Delphine nickt. Ich reiche ihr die Hand. Arthur küsst sie sogar auf beide Wangen.

„Wir schreiben Ihnen eine Postkarte aus Tel Aviv“, sagt er.

Dum-dum-dum-dumdy-doo-wah.

"Merci", sagt Delphine.

Sie winkt uns nach, die Wolldecke noch um die Schultern gelegt.

Draußen auf der Straße kann ich endlich wieder atmen. Es dauert allerdings trotzdem einige Minuten, bis Arthur und ich die Sprache wiederfinden. Aber was soll man nach diesem Abend auch noch sagen.

Une imagination pervèrse“, sagt mein Freund. „Anne Frank wäre vielleicht auch so geendet wie diese Frau. Wenn sie überlebt hätte.“

„Weißt du mit Sicherheit, dass Mengele tot ist?“ frage ich ihn.

Wir streunen ziellos durch die dunklen Gassen.

„Ehrlich gesagt, habe ich nicht die geringste Ahnung.“

„Ich bin mir auch nicht sicher“, sage ich.

„Dafür nenne ich dir jetzt die Pseudonyme aller fünf Traveling Wilburys“, sagt Arthur plötzlich.

„Das schaffst du niemals.“

„Oh, doch. Also, George Harrison ist Nelson Wilbury. Bob Dylan ist Lucky Wilbury. Tom Petty ist Charlie. Jeff Lynne nannte sich Otis Wilbury. Und Roy Orbison ist natürlich Lefty Wilbury, das ist ja klar.“

„Du bist krank“, stelle ich fest. „Richtig krank.“

„Vielleicht“, überlegt Arthur, „ist Mengeles Pseudonym ja gar nicht ‚Dr. Vogel’, sondern ‚Joe Wilbury’. Der Todesengel von Santa Monica.“

„Une imagination pervèrse”, sage ich.

„George Harrison und Roy Orbison sind in jedem Fall tot. Das ist bewiesen. Dabei muss Orbison musikalisch eindeutig als der größere Verlust gelten. Von allen fünf Wilburys hatte Roy Orbison nicht nur mit Abstand die coolste Sonnenbrille, sondern auch die beste Stimme.“

„Die hat Bob Dylan“, wende ich ein.

„Klar“, sagt Arthur verächtlich. „Nein, Roy Orbison hatte diese ganz besondere Stimme, wie sonst vielleicht nur Frank Sinatra. Drei bis vier Oktaven. Eine durch und durch romantische Stimme. Eine Stimme, die weh tut. Die dich dazu bringt, mit deinem Auto über ein Kliff in den Abgrund zu fahren. Roy Orbison hatte“, resümiert Arthur zufrieden, „die Stimme eines Berufsverbrechers.“

Das muss er irgendwo gelesen haben.

„Und mit dieser Stimme“, fügt mein Freund noch hinzu, „sang er seine Lieder, die von nichts anderem als von verlorener oder vergeblicher Liebe handeln. Orbison war zudem auch auf dem Gebiet des Modellflugzeugbaus ein ausgewiesener Experte.“

„Das glaube ich nicht.“

„Das hängt alles irgendwie zusammen. Weißt du zum Beispiel, welcher David Lynch-Film ohne den Roy Orbison-Song ‚In Dreams’ überhaupt nicht funktionieren würde?

„‚Mulholland Drive’?“

„Nein, das ist ‚Crying’. Ich meine natürlich ‚Blue Velvet’. Und weißt du, wer diesen Song mit Orchesterbegleitung gecovert hat?“

„Jetzt reicht es langsam“, sage ich, „keine Ahnung.“

„Chris de Burgh“, sagt Arthur bitter. „Das Riesenarschloch Chris de Burgh verarbeitet sogar Roy Orbisons wehmütigste Balladen zu emotionaler Pornographie.“

„Dieses Schwein“, sage ich. „Dieses verdammte irische Wildschwein.“

Die Straßen sind völlig verlassen. Vor meinem inneren Auge erscheinen reich gedeckte Shabbat-Tafeln. Kleine Jungen mit Schläfenlocken. Beischlaf in der Finsternis. Harry Potter. Delphine Nussbaum und Dr. Mengele. Mir ist leicht schwindlig, die Luft glüht.

„Ich habe so ein Karoshi-Gefühl“, sage ich. „Irgendwie geht die Welt aus dem Leim.“

„Ich brauche jetzt dringend einen Blowjob“, sagt Arthur und beschleunigt seine Schritte.

Keine Kommentare: