Mittwoch, 8. August 2007

Lapdance

L. A. ist wie ein boob job, sagt Charlie, es sieht nur gut aus. Tel Aviv hingegen fühlt sich auch gut an.

Zum Glück sind wir nicht in Los Angeles. Boob jobs, also Brustvergrößerungen, sehen bekanntlich – das müsste selbst Charlie längst gemerkt haben – furchtbar aus. Aber ansonsten hat er völlig recht: T. A. fühlt sich gut an, hervorragend sogar, vor allem nach Jerusalem. Für Arthur und mich ist es beinahe wie eine Heimkehr, obwohl wir bislang nur drei Nächte hier verbracht haben. Good vibrations, wohin man auch schaut. Seit ein paar Stunden sitzen wir am Strand, Banana Beach, und plaudern bei Trip Hop-Musik mit einem neuen Bekannten: Charlie, etwa vierzig, Familienname ungewiss, der aussieht, wie man sich einen Mossad-Agenten vorstellen würde. Er behauptet jedoch, für den Chip-Hersteller Intel zu arbeiten, in leitender Position, versteht sich, und deshalb regelmäßig in Tel Aviv zu sein. Das macht ihn froh.

„Ich meine, wo in L. A. kann man sich am Strand Bier servieren lassen!“ sagt er jetzt zum dritten Mal. „Nennt mir einen einzigen Ort!“

Der Gedanke an die Stadt der Engel liegt allerdings auf den ersten Blick gar nicht so fern. Vom Strand aus betrachtet, erinnert Tel Aviv tatsächlich an eine Miniaturausgabe von Los Angeles. Der langgezogene Küstenstreifen, die lose verbundene Ansammlung anonymer Vororte. Scheinbar kein Zentrum. L. A. ist ein riesiger Wurm, sagt Sartre, der es wissen muss, zerhackt in viele, viele Stücke. Das sieht hier ganz ähnlich aus. Tel Aviv ist jung, noch jünger als Los Angeles. Und wie L. A. an guten Tagen ohne Smog, die leider eher selten sind, ist auch T. A. dem Wasser zugewandt. Die Skyline ist erschreckend hässlich. Hotels aus den fünfziger, sechziger Jahren zumeist. Doch sobald man die Strandpromenade verlässt und Richtung Zentrum wandert, öffnet sich einem die Weiße Stadt. Die Bauhausstadt. Elegant, beschwingt und äußerst menschenfreundlich. Man fühlt sich geradezu verjüngt. Vor allem nachts ist Tel Aviv – da sind wir mittlerweile sicher – die schönste Stadt der Welt. Zur Hölle mit Be’er Sheva. Zur Hölle mit Jerusalem.

Arthur und Charlie, der eine werwolfartige Brustbehaarung zur Schau trägt, stoßen zum dreißigsten Mal an. Charlie ist Jude und Katholik zugleich. Sagt er zumindest. Aber in Wahrheit, so Charlie, sei er ausschließlich Hedonist in einer leider viel zu unhedonistischen, kalten, verhärteten Welt, der einzige Sehende unter Milliarden von Blinden. So wie wir also.

„L. A.“, bemerkt Arthur jetzt, „ist eigentlich mehr wie ein Lapdance. It just turns you on."

Dreckiges Lachen und Schulterklopfen von Charlie. Wenn Los Angeles ein Lapdance sein soll, ist Tel Aviv der vollzogene Akt. Ungeschützt, keine Frage. Ich muss an Sara denken, mein Date. Wir treffen sie übermorgen, ich freue mich schon. Arthur und Charlie diskutieren nun über den letzten Tarantino und jenen Lapdance, dem in diesem Film eine prominente Rolle zukommt. Der Kalifornier kennt die Szene nicht. Er hätte sie sich zwar immer vorgestellt, so Charlie, lebhaft sogar, überaus lebhaft, doch die tanzende Arlene alias „Butterfly“ niemals wahrhaftig auf der Leinwand sehen können, denn in der amerikanischen Double Feature-Version sei die Passage – im Unterschied zur Euroschnittfassung – gar nicht enthalten und, überhaupt, wir könnten ihm ja viel erzählen.

„Dein Glück“, sagt Arthur. „Es ist die mit Abstand überflüssigste und langweiligste Szene des ganzen Films. Und der Film ist sowieso nicht gerade spannend. Ich meine, aus diesem Lapdance hätte jemand wie Tarantino doch so viel machen können. Es hätte gewissermaßen der letzte Lapdance werden können. Aber ich habe mich vor Langeweile beinahe geschämt, ein Freund von mir hat sogar das Kino verlassen, um Bier zu holen.“

Das sind die Themen, über die man am Banana Beach ganz zwanglos plaudert, während die Live-Band ihren beruhigenden Klangteppich ausrollt. Wenn hier die Sonne untergeht, denkt niemand an die Klagemauer – obwohl sie sich gerade mal achtzig Kilometer entfernt befindet, vollgestopft mit Gebetszetteln. Kaum vorstellbar. Und während Arthur und Charlie eine Art Kulturgeschichte des Lapdance entwickeln – Charlie scheint, wie viele Südkalifornier, ein wahrer Connaisseur auf dem Gebiet zu sein – muss ich einmal mehr an ein anderes Striptease-Girl denken: Delphine Nussbaum. Only the lonely Delphine Nussbaum. Solange mich die Demenz weitgehend verschont, werde ich diesen Tanz nicht vergessen. Doch im selben Moment kommt die Kellnerin, strahlend, und ich kann endlich ein Getränk bestellen, das Salzwasser macht durstig.

Es fällt schwer, zu sagen, was ich nun sagen werde, ohne gleich wie ein dirty old man zu klingen. Betrachten wir es einfach als Hommage. Es gibt in Israel und besonders hier in Tel Aviv erwiesenermaßen ein Phänomen. Ein Kellnerinnen-Phänomen. Eigentlich betrifft es genauso die männlichen Kollegen dieser jungen Frauen, doch die Herren sind eben eindeutig in der Minderheit, den Arabern mit israelischem Pass vergleichbar. Jedenfalls gibt es nirgendwo – und Arthur und ich waren schon an den entlegensten Orten – so unwiderstehliche Kellnerinnen wie in Israel. Sie sind naturgemäß allesamt atemberaubend schön, selbst wenn sie gar nicht so gut aussehen. Aber das Lachen dieser Kellnerinnen hat uns schon mehrfach einen ganzen Tag gerettet. Immer wenn es dir schlecht geht, Kater oder Liebeskummer bleischwer auf deinen Schultern lasten, kannst du in diesem Land darauf zählen, dass sich jemand um dich kümmern wird. Spätestens beim Frühstück wird dich eine leuchtende, offenherzige Person begrüßen und versorgen. Man fühlt sich dann wie ein Verwundeter, dem eine gute Fee von Krankenschwester endlich das ersehnte Morphium einflößt. Vielleicht haben Arthur und ich auch bloß einen Kellnerinnen-Fetisch entwickelt. Es würde mich nicht wundern. Oder einen Mutter-Komplex. Doch ich habe schon den Eindruck, dass es in Berlin-Mitte irgendwie anders abläuft. Abgesehen davon, ist dieses Kellnerinnen-Phänomen, das ich an dieser Stelle gar nicht hoch genug preisen kann, verdammt gut fürs Geschäft.

„Drei Goldstar, bitte“, sage ich zum siebten Mal am heutigen Tag und muss natürlich sofort lächeln – ich bin sozusagen binnen Sekunden entwaffnet worden.

„Von der perfekten postmodernen Frau“, sagt Arthur, ohne zu lächeln, „erwarte ich keinesfalls, dass sie mir jeden Abend auf dem Schoß herumtanzt. Natürlich nicht. Wenn sie möchte, tanze ich sogar auf ihrem Schoß herum. Aber sie muss wissen, was ein Lapdance ist. Mit allen historischen Konnotationen. Und sie muss mit dieser Idee spielen können. Den Tarantino-Frauen kann man dieses postmoderne Moment wahrlich nicht absprechen.“

„Vielleicht sollte du auch Filme machen“, bemerke ich. „Dann könntest du dir deine postmodernste Frau selbst erschaffen. Was sind eigentlich die historischen Konnotationen des Lapdance?“

Ich wette, Klara wusste alles über diesen ganz speziellen Tanz.

„Die Tarantino-Frauen haben tolle Füße“, sagt Charlie.

Applaus. Die Band macht eine kurze Pause. Unsere Kellnerin bringt das Bier. Sie lächelte nicht, sie lacht.

„Ich fürchte, ich bin am Tel Aviv-Syndrom erkrankt“, behauptet Arthur und hebt erneut seinen Plastikbecher für einen Toast.

„Hat sich Konrad eigentlich mal wieder gemeldet?“ frage ich. „Worauf trinken wir überhaupt?“

Charlie wirkt ziemlich besoffen. Er streicht sich immer wieder über die Brusthaare und lächelt leicht debil in seinem viel zu kleinen Plastikstuhl.

„Kein Toast“, sagt Charlie. „Bitte kein Toast, Jungs.“

„Warum nicht?“

„Man sollte alkoholische Getränke wie dieses exzellente Dunkelbier hier niemals mit Emotionen vermischen. Sonst schmeckt man nichts mehr. Man schmeckt dann nur noch die Emotionen. Das wäre Verschwendung. Wie die 20 Dollar für einen Lapdance, der dich nur anturnt, aber nicht befriedigt.“

Arthur nickt: „Das stimmt. Vielleicht stimmt das tatsächlich.“ Und: „Das würde ja bedeuten, dass wir die ganze Zeit gar nichts geschmeckt haben.

Wir trinken also schweigend unser Banana Beach-Bier, die Sonne fällt ins Mittelmeer.

„Bist du dir sicher, dass das so ist – mit den Emotionen und dem Alkohol?“ frage ich Charlie.

„Todsicher“, sagt er mit geschlossenen Augen. „Glaubt mir, Jungs: todsicher.“

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