Montag, 17. September 2007

Hungry Heart

„Das größte Verbrechen des Elton John“, sagt Arthur, „ist – neben seinem Louis XIV.-Kostüm, natürlich – der Gedenksong für Lady Di.“

Lulu stöhnt auf: „Bitte. Heute. Keine. Pop-Nerd-Diskussionen.“

„Lulu, wie würdest du dich denn fühlen? Nehmen wir an, Du bist Marylin Monroe. Du stirbst einen frühen glamourösen Tod. Und Elton John verfasst diesen bewegenden Nachruf auf dich – ‚Candle in the Wind’.“

„Der Text stammt von Bernie Taupin“, sage ich.

„Egal.“ Arthur trinkt seinen Wein wie Mineralwasser. „Die Menschen hören also jahrzehntelang täglich im Radio dieses Lied über dich, Norma Jean Baker. Dann verendet Diana in ihrem Tunnel. Und weil bis zum Begräbnis nicht mehr genug Zeit bleibt, einen neuen Song zu komponieren, schreibt Elton John die Eloge auf dich, die einzigartige Marilyn, einfach um. Wie skrupellos kann man sein!“

„Wenn Elton John jemals auch nur eine einzige Note für mich komponiert, reiße ich ihm sein Toupet vom Kopf bis das Blut gegen seine Louis XIV.-Tapete spritzt“, erwidert Lulu.

„Die frühen Sachen sind gar nicht so schlecht“, sage ich.

Arthur redet sich einmal mehr in Rage: „‚Goodbye Norma Jean’ wird einfach zu ‚Goodbye England’s Rose’ umgetextet. Es wundert mich, dass er nicht auch noch eine Version für Freddie Mercury gemacht hat. Oder für Rudolf Mooshammer. Oder für jeden, der im Home Shopping-Kanal eine bestellt.“

„Möchte noch jemand etwas Käse?“ fragt Charlotte.

Während draußen ein Blatt nach dem anderen von den Bäumen fällt, sitzen Lulu, Charlotte, Arthur und ich – sowie die kleine Dimona, versteht sich – in gemütlicher Chalet-Atmosphäre zusammen. Zwar ist Lulus Kreuzberger Wohnung eher minimalistisch eingerichtet, doch das Raclettegerät strahlt eine heimelige Wärme aus. Arthur konnte zudem in einem Geschenkartikelladen etwas Kunstschnee besorgen, welcher nun die Tafel schmückt. Ich habe es mir nicht nehmen lassen, eine CD mit beliebten Aprés-Ski-Hits zu kompilieren. Auf dem Tisch stehen Blumen, die mein Freund und ich noch bei der prämodernen, ja, atavistischen, doch darum nicht weniger reizenden Händlerin auf dem Maybach-Markt erworben haben. Die Gastgeberin ließ uns allerdings nicht bloß durch die Blume wissen, dass sie Blumen, insbesondere Rosen und vor allem blaue Rosen prinzipiell ablehne, so dass Arthur den Strauß kurzerhand umwidmete und ihn seiner Freundin überreichte, begleitet von einer tiefen Verbeugung. Die Parallelen zur Elton-Marilyn-Diana-Affäre sind frappierend. Gleichwohl könnte die Stimmung bedrückender sein, obwohl ich keine Ahnung habe, was zwischen Arthur und der zukünftigen Mutter seiner Tochter eigentlich vorgeht. Charlotte sieht toll aus, man kann es nicht anders sagen. Sie schimmert geradezu, wirkt seltsam sanftmütig – ganz gleich, was Arthur so von sich gibt. Dimona steht ihr gut. Als einzige von uns vieren trinkt sie keinen Weißwein und lebt friedlich in ihrer besseren Bionade-Welt. Lulu hingegen erweist sich mal wieder als Anti-Charlotte.

„Kann bitte irgend jemand sofort diese Rosen entfernen?“ ruft sie jetzt.

Arthur tätschelt ihre Hand: „Wusstest du, dass Elton John einst in anderthalb Jahren fast 300.000 Pfund nur für Blumen ausgegeben hat?“

Lulu schlägt ihm mit ihrem heißen Käsepfännchen auf die Finger.

Er schreit auf: „Als ob ich nicht schon genug Verletzungen hätte! Aber ich lass’ mir den Mund nicht verbieten: Also, Elton wurde dann jedenfalls von seinem Finanzberater gefragt, ob er wirklich eine derart astronomische Summe in Blumen investiert hätte – und er antwortete nur: ‚Well, I like flowers’.“

Like a river that don't know where it's flowing
I took a wrong turn and I just kept goin'

„Warum ist dein Körper überhaupt so entstellt?“ fragt Lulu skeptisch. „Warst du in einem jüdischen S/M-Club?“

„Keine Details, bitte“, sagt Charlotte.

Ich trage nicht bei jedem Wetter Latexstiefel“, bemerkt mein Freund.

Einzig Arthur isst noch. Seine Freundin reibt sich seit längerem ihren hinreißenden Bauch, Lulu nimmt ohnehin keine Nahrung zu sich und ich habe ebenfalls bereits aufgegeben. Raclette ist schon eine fatale Sache. Doch Arthur hat weiterhin drei Pfännchen im Einsatz und schaufelt Käse in sich hinein, als wäre es seine Henkersmahlzeit.

„Arthur, du wirst bald fetter als Charlotte sein“, sagt Lulu.

„Ich mag Charlotte“, entgegnet er.

Seine Freundin quittiert dies mit einem müden Lächeln: „Ich hasse Bionade.“

Ich frage: „Lulu, wo hast du denn heute dein Palituch gelassen?“

„Ihr solltet mal Bionade mit Wodka probieren“, sagt sie.

„Was macht deine Kolumne?“

Lulu Lilienblum nennt sich zwar Schauspielerin, nachdem sie in einer Polizeiruf-Folge mal ein paar Sekunden als recht unislamisch bekleidete Leiche erschien, führt aber zugleich ein professionelles Leben jenseits der Kamera. So verfaßt sie zum Beispiel für das dubiose Magazin Delirious Dirt ein Weblog über ihr Liebesleben. Die Aufzeichnungen der Wiener Dirne Josefine Mutzenbacher muten dagegen wie Vorschullektüre an. Naturgemäß hören wir Lulus Geschichten immer wieder mit großer Begeisterung, am liebsten von ihr selbst. Heute beschreibt sie uns die neueste Episode, eine post-koitale Szene, in der ihr Kopf auf der schweißgebadeten Brust einer Ankerklausen-Bekanntschaft verharrt. Sie habe in diesem Moment, so Lulu, plötzlich ein ungewöhnliches Pochen und Vibrieren an ihrem Ohr wahrgenommen, das über den üblichen Herzschlag weit hinaus ging. Auf ihre irritierte Nachfrage hin, hätte ihr Lover ihr eröffnet, dass er seit einiger Zeit einen Herzschrittmacher tragen müsse – weil ihm die große Liebe seines Lebens gnadenlos das Herz gebrochen hätte und es nun eben nicht mehr richtig funktionieren würde. Darum der Herzschrittmacher, dessen Anschaffungskosten die Krankenkasse ihm aus unerfindlichen Gründen noch immer nicht erstatten wolle.

„So was kann nur ein Mann sagen“, behauptet Lulu.

Charlotte lacht: „Ich finde das eigentlich ganz charmant.“

Arthur befühlt seine lädierte Schläfe: „Das Herz ist so ziemlich das einzige, was mir nicht gebrochen wurde. Habt ihr während des Verkehrs wenigstens Tom Petty & The Heartbreakers gehört?“

Er füllt zwei Käsepfännchen mit Parmaschinken.

„Oder Heartbreak Hotel von Elvis ?“ ergänze ich.

„Arthur, hör auf zu essen“, sagt seine Freundin. „Du musst hier nichts beweisen.“

„Ich frage mich, was passieren würde, wenn man etwas Humus in einem dieser Pfännchen erhitzte“, sagt Arthur nachdenklich.

„Oder deine Traveling Wilburys-CD.“

„Das ist nicht witzig, Charlotte.“

„Von Frank Zappa gibt es einen Song mit dem Titel Broken Hearts Are For Assholes“, bemerkt Lulu.

Sie öffnet das Fenster, was das allgemeine Skihütten-Gefühl eher noch befördert, denn sofort strömt eisige Luft in den Raum. Ein Windzug bläst die Tischkerze aus. Lulu freut sich und gibt uns zum wiederholten Mal zu verstehen, dass auch Kerzen in jeder Form und Farbe mit ihren Prinzipien nicht vereinbar seien. Arthur isst und isst.

I met her in a Kingstown bar, we fell in love I knew it had to end

„Ich weiß auch nicht, warum ich immer so hungrig bin“, sagt er.

„In Eilat hast du an einem Tag mehr als achtzig Oliven gegessen“, bemerke ich.

„Früher war es noch schlimmer. Auf einer Kanutour in Norwegen habe ich als Teenager mal einen halben Elch verputzt.“

„Das glaube ich sofort.“

Mein Freund blickt melancholisch in die Runde: „Es war in jener Zeit, als ich in Oslo umherging und hungerte. In dieser seltsamen Stadt, die keiner verlässt, ehe er von ihr gezeichnet worden ist. Oder einen Elch verspeist.“

„Mich wundert wirklich, dass du nicht fetter bist“, bemerkt Lulu.

„Früher bin ich immer erst dann vom Tisch aufgestanden, wenn die körperlichen Schmerzen so stark wurden, dass ich mich unter keinen Umständen mehr bewegen konnte. Das hat sich ein wenig gebessert. Aber ich leide ja auch immer unter diesem unstillbaren Durst.“

Arthur und ich probieren jetzt ebenfalls die Wodka-Bionade-Mischung und fühlen uns auf der Stelle sehr erfrischt.

„Ich bin sozusagen“, fährt mein Gegenüber fort, „eine Art Anti-Hungerkünstler. Ich habe noch keine Speise gefunden, die mir nicht schmeckt. Bei Aldi ist mir das kürzlich wieder aufgefallen.“

„Erzählt doch mal von Israel“, bittet uns Lulu. „Habt ihr nur gefressen und gesoffen, oder was?“

„Meistens schon“, erwidert Arthur. „Es gibt wirklich nicht so viel zu erzählen.“

„Das stimmt“, sage ich. „Irgendwie ist die Zeit wie im Flug vergangen, ohne dass wir große Abenteuer erlebt hätten.“

„Seid ihr wirklich mit den Delphinen geschwommen?“ fragt Charlotte.

Wir nicken. Ich muss an die purpurfarbenen Berge Jordaniens denken, das lichtblaue Rote Meer.

„Dimona hätte das auch gefallen“, meint Arthur.

„Wem?“ Charlotte schaut leicht verunsichert.

„Kann bitte mal irgendjemand einen Kaffee kochen? Ich bin noch mit Essen beschäftigt.“

Lulu und ich gehen also in die Küche, wo sie mir kurz um den Hals fällt – warum auch immer. Vermutlich ist nur der brennende Wodka schuld. Ich weiß: Lulu zu lange zu umarmen, kann gefährlich sein. Zumindest für mich. Barfuss tanzt sie nun wild durch die Küche, die Espressomaschine röchelt. Als wir an den Tisch zurückkehren, sitzt Charlotte mit einer Gesäßhälfte auf Arthurs Stuhl und streichelt seinen Rücken. Mein Freund isst weiter im Stile eines ausgehungerten Nachkriegskindes.

„Hier. Jeder nur einen.“ Lulu platziert eine Pappbox neben der Kaffeekanne.

„Ich hasse Glückskekse“, sagt Arthur.

„Bitte vergiss nicht, den Zettel vor dem Verzehr herauszunehmen, Schatz“, bemerkt Charlotte sanft.

Lulu hat ihren Keks bereits zerbrochen und die Fragmente auf Arthurs Teller gelegt.

Sie beherrschen es“, liest sie vor, „Kritik mit Witz und Charme zu verpacken. Na, toll.“

„Meiner ist noch schlimmer.“ Ich bin enttäuscht. „Nur ein Narr glaubt, dass Preis und Wert identisch sind.“

„Was für Arschlöcher“, murmelt Arthur mit vollem Mund. „Das ist ja geradezu eine Unverschämtheit.“

Charlotte verweigert die Keksannahme und lässt sich selbst durch massiven Druck nicht dazu bewegen. Sie hätte mal schlechte Erfahrungen mit Glückskeksen gemacht, so Arthurs Freundin, und könne gerade unter den gegebenen anderen Umständen darauf verzichten, diese zu wiederholen. Arthur trinkt Kaffee, Wodka-Bionade und Riesling und stopft zugleich Unmengen von Käse in sich hinein. Mit einer feierlichen Geste zerbricht er das gelbe Gebäckstück.

„Oh.“ Seine Miene nimmt einen theatralisch verängstigten Ausdruck an. „Das kann nicht sein.“

„Was steht denn drauf?“

„Das ist nicht möglich“, sagt mein Freund.

„Arthur, bitte.“

„Hier steht: Love Will Tear Us Apart.“

„Du bist ein Idiot”, sagt Lulu.

Ich stimme ihr zu, Charlotte schaut ihren Freund prüfend an.

Arthur starrt auf das winzige Stück Papier in seiner Hand: „Doch. Natürlich. Hier steht’s rot auf weiß. Love Will Tear Us Apart.“

„Zeig mal.” Lulu greift nach dem Glückskeks-Zettel.

„Auf gar keinen Fall. Diese Botschaft ist nur für mich bestimmt.“

„Gib schon her!“

Doch noch bevor Lulu Arthur den Zettel entreißen kann, hat mein Freund jedes einzelne Keksbruchstück auf seinem Teller verschlungen – und stopft sich dann den Zettel in den Mund.

„Du bist krank“, sagt Lulu.

Charlotte zweifelt: „Du hast den jetzt nicht wirklich verschluckt, oder?“

Arthur spült mit Wodka hinterher, das Papier bleibt verschwunden.

„Wir werden dir ein Brechmittel einflößen“, droht unsere Gastgeberin.

Er schüttelt den Kopf: „Diese Glückskekse sind gespenstisch. Ich meine: Wer ahnt denn so etwas!“

Everybody's got a hungry heart, everybody's got a hungry heart.

Zwei Stunden später: Das Raclette ist ähnlich wie Dianas Leichnam im Erkalten begriffen, in Lulus Wohnung indes herrscht erhöhte Temperatur. Arthur liegt nebenan, auf dem Futon, und schnarcht wie ein russischer Bär. Mitunter hört man ein Stöhnen, vereinzelt unverständliche, im Tiefschlaf ausgespuckte Worte.

„Sollten wir nicht vielleicht einen Arzt holen?“ fragt Charlotte.

„Du spinnst ja“, erwidert ihre Freundin.

„Besser einen Totengräber“, sage ich.

Ich bin inzwischen wirklich sehr betrunken, Lulu steht mir in nichts nach. Einzig Bionade-Charlotte ist noch bei Sinnen, tanzt aber trotzdem ausgelassen mit uns zu Supremes- und Siouxsie-Songs. Aprés-Ski-Stimmung vom Feinsten. Lulu zückt irgendwann ihr Powerbook und lädt eigens um den schlafenden Arthur zu ärgern, die 1997er-Diana-Version von „Candle in the Wind“ aus dem Netz herunter. Und während die Gastgeberin wortgewaltig mit ihrem Herzschrittmacher telefoniert, tanzen Charlotte und ich engumschlungen zu Eltons bittersüßer Melodie. Mir fällt auf, dass ich zum ersten Mal mit einer schwangeren Frau tanze, zumindest bewusst, und es fühlt sich ziemlich gut an. Never fading with the sunset when the rain set in. Sie berichtet mir von ihrem Sommer, von ihrer Agentur-Misere. Dass übergroße Kleid was sie trage, erzählt Charlotte, habe Arthur ihr aus Tel Aviv mitgebracht. Es ist mir völlig schleierhaft, wann mein Freund diesen Einkauf getätigt haben soll. Vielleicht am letzten Vormittag, das wäre möglich – nach Breakfast Club und Jewish Princess. Allerdings besaß er zu diesem Zeitpunkt schon keinen einzigen Schekel mehr, es könnte sich also um Diebesgut handeln. Nun, Charlotte, die wärmer ist als eine Wärmflasche, wäre das wahrscheinlich auch egal: Nur ein Narr glaubt schließlich, dass Preis und Wert identisch sind.

„Seit ihr zurück seid“, sagt sie plötzlich, „haben Arthur und ich noch nicht eine einzige Nacht zusammen verbracht.“

„Heute schläft er wohl bei Lulu“, sage ich und stoße im Tanzen eine Kerze um.

Charlotte schaut mich direkt an, während wir einander in den Armen liegen, mit schmerzhafter Intensität. Ich wende mich ab, blicke nach draußen. Die Fenster der Nachbarn sind hell erleuchtet.

Was ist in Israel eigentlich passiert? fragt sie mich.


Balagan Blues kann nicht umhin, auf folgenden hilfreichen Link zu verweisen:

http://iq.lycos.de/qa/show/405173/Was+ist++eine+%2522Postmoderne+Frau%2522%253F/

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