Montag, 24. September 2007

Herz aus Glas [Kanallandschaft mit Pocahontas]

„Ich werde dieses Glas ganz sicher nicht kaufen“, sagt Lulu und bläst mir Mentholrauch ins Gesicht.

„Wovon redest du überhaupt?“

Schon wieder ist Markttag, Lulu Lilienblum und ich sitzen draußen vor der Ankerklause am Kanal im Halbschatten der Kastanie und warten auf Arthur und Charlotte, die lange überfällig sind. Noch darf ich Lulus Bettkantengeschichten also alleine lauschen – im Zusammenspiel mit ihrer Erscheinung entfalten sie eine durchaus hypnotische Wirkung. Sie trägt einmal mehr ihre stets mit kaum sichtbaren Schlammspuren behafteten Prada-Gummistiefel, als käme sie gerade vom Glastonbury Festival. Lulu, das denke ich heute nicht zum ersten Mal, sieht ein bisschen aus wie eine glamourösere Indie-Variante von Pocahontas, eine Indieanerin sozusagen, wobei ich hier natürlich nicht das Disney-Püppchen meine, sondern die – sehr persönliche – Pocahontas in meinem Kopf. Ich habe Lulu im Rausch schon mal gefragt, woher das käme, warum sie so aussähe wie eine Häuptlingstochter, doch sie verstand die Frage nicht. Ihre Eltern stammen jedenfalls aus Niedersachsen. Ich bin mir sicher, dass ihr die Herkunft meiner Eltern gänzlich unbekannt ist, obwohl Lulu mich meistens so behandelt, als hätten wir einander viele Male nackt gesehen oder zumindest gemeinsam im Luftschutzbunker gesessen. Die Wahrheit ist: Einen Bunker haben wir lediglich im Rahmen einer streng geheimen Party besucht. Und nackt standen wir uns exakt einmal gegenüber. Manchmal glaube ich dennoch, sie könne direkt, wie durch eine frischpolierte Glasscheibe in mein Hirn und in mein Herz sehen. Und während sich die schwerbeladenen Marktkunden an unserem Tisch vorbeiwalzen und die Jukebox drinnen die Elvis-Version von „Fever“ spielt, trinkt Lulu-Pocahontas, die zuverlässig alles durcheinanderbringt, gegen halb sechs am Nachmittag den ersten Grasovka-Wodka, und ich auch, denn was bleibt mir schon anderes übrig.

Once I had a love and it was divine.

„Dieser Typ“, berichtet sie, „hatte zwei CD-Ständer – einen für Frauen und einen für Männer. Weibliche und männliche Interpreten. Beide natürlich alphabetisch sortiert.“

„Ich frage mich, wo man den Sänger von Throbbing Gristle einordnen würde“, sage ich.

„Was?“ Lulu entblößt ihre Zahnlücke. „Es war wirklich ein Unfall. Wir waren beide eingeschlafen, dabei wollte ich eigentlich nachhause gehen.“

„Das war letzte Nacht?“

„Ja. Keine gute Nacht.“ Sie wirft mir einen Killerblick zu. „Aber gute Nächte sind sowieso rar gesät.“

Ich nicke: „Sie sind geradezu vom Aussterben bedroht.“

„Ich weiß nicht, warum das immer so anstrengend sein muss. Ich bin, wie gesagt, plötzlich aufgewacht, weil ich vor Durst nicht mehr schlafen konnte. Weißt du – wenn man von Wasserhähnen träumt?“

„Klar. Und das wirkliche Wasser schmeckt dann natürlich niemals so gut, wie man es im Traum erwarten würde.“

„Es war alles dunkel“, erzählt Lulu, „ich war verschlafen und kannte mich in dieser Scheiß-Wohnung nicht aus. Die Küche habe ich aber gefunden. Und da standen noch die beiden riesenhaften Angeber-Weingläser, aus denen er mir einen 97er Bordeaux serviert hatte.“ Sie schaut so verächtlich, als hätte der One Night Stand ihr Aldi-Red Bull – also Sitting Bull – vorgesetzt. „Die Gläser hat er dazu nicht etwa aus dem Regal genommen, sondern aus der Originalverpackung. Er besaß nämlich auch noch die Weißwein- und Champagner-Variante und was weiß ich.“

„Was für ein Idiot“, sage ich und frage mich, wo Arthur und Charlotte eigentlich bleiben. Wahrscheinlich zerschlagen sie gegenseitig ihre Lieblingsplatten.

„Na ja, er hat ja geschlafen, geschlafen und geschnarcht. Ich habe mir also mal ganz locker angemaßt, aus einem der Bordeaux-Gläser ein bisschen Leitungswasser zu trinken. Keine Ahnung, was dann passiert ist – aber irgendwie war das Glas plötzlich kaputt. Die Scherben lagen in der Spüle.“

„Gut so.“

Sie lacht: „Das Beste ist: Der Typ ist nicht mal aufgewacht. Er hat einfach weitergeschlafen. Ich dachte: „Scheiß drauf!“, und habe mich einfach wieder neben ihn gelegt. Natürlich hätte ich nach Hause gehen sollen.“

„Das habe ich mir manchmal auch schon gesagt. Wie hast du den eigentlich kennen gelernt?“

„Frag’ nicht.“ Drei schöne Ringe, die wie Rauchzeichen durch die Ankerklause schweben. „Eine Stunde später oder so – mitten in der Nacht – bin ich schon wieder aufgewacht. Von einem gellenden Schrei und einem Trampeln, als würde eine Scheiß-Büffelherde durch die Wohnung laufen.“

„Der Typ hat getrampelt?“

„Ja. Getrampelt. Wie Rumpelstilzchen ist er rumgehüpft, als ob er einen Kriegstanz aufführen würde oder so. Er hat wirklich geschrien wie ein verblutendes Schwein am Spieß. Wegen dem verdammten Glas! Weil er jetzt nicht mehr sechs Bordeaux-Gläser hatte, sondern nur noch fünf.“

„Wenn du mich fragst, hättest du spätestens zu diesem Zeitpunkt gehen sollen.“

„Natürlich.“ Lulu leert ihr Wodka-Glas. „Aber ich konnte mich kaum bewegen. Es war fünf Uhr morgens. Ich hatte keinen Cent. Ich wusste nicht mal genau, in welchem Bezirk ich mich eigentlich befand.“

„Verstehe.“

„Ich habe also gesagt: ‚Junge, du bist jetzt mal still, du gehst jetzt wieder schlafen und morgen kauf’ ich dir ein neues Glas.’ Damit ich meine Ruhe habe. Und er war wirklich plötzlich ruhig und hat gesagt: ‚Okay, okay’, und ist wieder unter die Decke gekrochen. Er wollte sogar noch mal poppen, aber ich hab’ geflüstert: ‚Nur wenn ich die anderen Gläser auch noch kaputtmachen darf.’ Und er meinte nur, ich hätte keinen Stil und hat sich weggedreht.“

„Hat er das wirklich gesagt?“

„Würde ich dich anlügen?“

„Daran zweifle ich keine Sekunde. Aber ich schätze immerhin deinen Stil.“

Lulu blickt mich spöttisch an. Selbst wenn man ihr ein ironisch gebrochenes Kompliment schenkt, schaut sie immer, als würde sie gleich in gellendes Gelächter ausbrechen. Zugleich scheint sie alles aufzunehmen, was rundherum passiert: das urban-maritime Kanalambiente an der Kottbusser Brücke. Die Lautsprecherdurchsagen auf den vorbeifahrenden Touristenbooten. Den Mann mit dem Clash-T-Shirt, der Lulu vielleicht gefallen könnte. Die moldawische Bettlerin. Zwei, drei elefantöse Burkaträgerinnen. Menschen, die offenbar alles kaufen, was man auf diesem Markt kaufen kann – Obst und Gemüse, Stoffe, Unterwäsche, Toaster, herrliche Glasperlen im Apachenstil. Ich konzentriere mich eher auf Lulu.

Soon found out I was losing my mind.

„Ich bin jedenfalls bald darauf wieder aufgewacht“, berichtet sie, „und hab’ auf die Uhr geguckt, es war sieben und viel zu hell draußen. Und der Typ saß in einem Bademantel – einem gelben Bademantel – an seinem Schreibtisch und schrieb irgendwas auf einen Zettel.“

„Ein Gedicht für dich?“

„Sowas Ähnliches. Ich hab’ ihn gefragt, was er da schreibt, und er sagte nur: ‚Ach, auch schon wach?’, und drückte mir den Zettel in die Hand. Ich konnte es nicht fassen.“

„Was stand denn drauf?“

Lulu greift in ihr Handtäschchen und zieht ein Stück Papier heraus.

„Hier. Lies selbst. Sonst glaubst du’s nicht.“

Auf dem Zettel steht in prätentiös geschwungener Schrift „Schott Zwiesel – Bordeaux – 8015/22“ sowie die Adresse eines Geschäfts für Gastronomiebedarf in Wilmersdorf und die Anschrift des Glas-Fetischisten, Manuel mit Namen.

„Das glaube ich nicht“, sage ich.

„Siehst du. Ich wollte den Zettel ja sofort zerreißen, aber ohne Beweisstück hätte mir wieder keiner geglaubt. Ich habe mich angezogen und bin gegangen. Im Rausgehen musste ich natürlich noch ein Glas zerbrechen. Er hat mir irgendwas Hysterisches hinterhergerufen.“

„Das ist doch eine nette Geschichte für Delirious Dirt“, sage ich.

„Ich sehe da kein Delirium und auch nichts Dreckiges. Nur Dummheit.“

„Und Stilbewusstsein.“

„Dann schon lieber einen Herzschrittmacher.“ Lulu lacht wieder mit Zahnlücke.

„Wenigstens hast du ihm nicht das Herz, sondern lediglich zwei Weingläser gebrochen“, sage ich.

Mir kommt ein Werner Herzog-Film in den Sinn, den ich vor kurzem noch mal gesehen habe: Herz aus Glas. Er spielt in einer Glashütte in einem finsteren, romantisch verklärten Bayern des 19. Jahrhunderts. Der große Glasbläsermeister ist gestorben und hat, zu dumm, die Geheimrezeptur für die Rubinglasherstellung mit in die ewigen Jagdgründe genommen. Das Dorf verfällt daraufhin in eine tiefe Depression. Ein Hellseher, eine Art Schamane namens Hias, soll Abhilfe schaffen und dem Totenreich das Geheimnis entlocken. Doch seine Visionen künden einzig von Wahnsinn und Apokalypse – und wenn man will, kann man dabei natürlich ans heraufdämmernde 20. Jahrhundert denken. Muss man aber nicht. Man kann sich auch einfach immer wieder die hypnotische Eingangssequenz ansehen, die einen Wasserfall zeigt. Minutenlang. Herz aus Glas kommt vermutlich den in den Tempelhof-Katakomben verbrannten Filmen, so wie mein Freund und ich sie uns gerne vorstellen, recht nahe. Nicht den Nazi-Pornos, sondern jenen Werken, die diesseits des Paradieses – so Arthurs Formulierung – schlicht nicht dechiffrierbar erscheinen, weil der Code vor langer Zeit vergessen wurde. Der Film macht das Bekannte unbekannt und vertraut bis zum letzten Moment verzweifelt auf ein anderes Sehen außerhalb der Normalität. Er ist verwirrend, verwildert und verwegen. Am Ende besteigen vier Männer ein winziges Boot, um ans Ende der Welt zu gelangen. Sie wollen mit eigenen Augen sehen, ob sich dort wirklich ein Abgrund befindet. „Wenn ich gehe, geht ein Bison“, hat Herzog mal gesagt.

It seemed like the real thing but I was so blind,
mucho mistrust love's gone behind.

„Fast alle Schauspieler außer dem Hellseher standen während der Dreharbeiten unter Hypnose“, erkläre ich Lulu.

„Wenn ich nur den Namen Werner Herzog höre, schlafe ich schon ein.“ Sie gähnt. „Was ist denn das überhaupt für eine Art? Wenn ich hier im Anker ein Glas kaputtmache, muss ich es ja auch nicht bezahlen. Und mit dem Anker habe ich nicht mal Sex.“

„Wer will hier keinen Sex mit dem Anker haben?“ fragt Arthur, der Arm in Arm mit Charlotte aus der vorbeiziehenden Masse heraus an unseren Tisch tritt. „Er oder sie möge sofort diesen Laden verlassen!“

„Hallo, Charlotte!“ sage ich. Sie küsst uns beide auf die Wange, mein Freund verschwindet grinsend Richtung Bar.

„Haben wir irgendwas verpasst?“ fragt sie mit einem hinreißenden Lächeln, das mich beinahe erschreckt. Das blaue Kleid hat wirklich eine umwerfende Wirkung.

Lulu versetzt mir unter dem Tisch einen Gummistiefel-Tritt. Ich trete zurück, denn ich weiß, was sie meint.

„Ich geh mal Musik machen“, sage ich. „Bitte keine Gläser zerstören, Lulu.“

„Bring Wodka mit“, erwidert die feuerwasserfeste Indianerprinzessin. „Und Bionade.“

Drinnen an der Jukebox treffe ich Arthur, der sich bei jedem Anker-Besuch unverzüglich „Nazi Rock“ von Serge Gainsbourg wünscht und heute so friedfertig wirkt wie sonst nur in Ecstasy-Nächten. Sein Gesicht ist – ähnlich wie das seiner Freundin – von einem glühenden Glanz überzogen.

„Ich habe schon wieder zwei Fragen“, sage ich. „Erstens: Wie viele Friedenspfeifen habt ihr geraucht? Zweitens: Hast du schon mal überlegt, deine Plattensammlung nach Geschlechtern zu sortieren?“

Er lächelt: „Was wollen wir trinken? Was wollen wir hören?“

„Bisongrashalmwodka. Oder ist es Büffelgras? Bier. Bionade. Und Blondie. Bitte.“

„Die Hündin oder die Band?“

„Heart of Glass.“

„Eine vortreffliche Wahl“, sagt Arthur, während es draußen am Kanal langsam kalt und dunkel wird, die Marktleute ihre Stände abbauen, Charlotte und Lulu hinter der Scheibe nach uns winken und dem Kellner ein volles Tablett aus den Händen fällt, so dass literweise Fassbier durch die Ankerklause fließt. Ein festlich beleuchtetes Schiff fährt vorbei, vielleicht nur bis zur nächsten Brücke, vielleicht auch noch weiter.

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