Montag, 3. September 2007

Götzendämmerung [Breakfast Club I]

„Normalerweise lehne ich Frühstück ja ab“, brüllt Arthur über brechreizerregende Bässe hinweg. „Aber der Breakfast Club ist schon eine tolle Einrichtung.“

Der letzte Vorhang, die wirklich letzte heilige Nacht – und wir verkriechen uns in einem dunklen Keller. Wie Debbie aus der Clara Bar schon sagte: Alle Wege in Tel Aviv führen irgendwann in den Breakfast Club. Es sei denn, man scheitert an der Tür. Aber trinkfeste Touristen wie Arthur und ich sind hier – im Unterschied zu schlecht besoldeten Army-Kids – überall gern gesehen. Dabei schreitet unser Bankrott unaufhörlich voran, und zwar auf allen Ebenen. Anstatt noch eine Hostel-Nacht zu bezahlen, haben wir also beschlossen, gar nicht zu schlafen und die gesparten Devisen lieber in Wodka Red Bull zu investieren. Welch weise Entscheidung. Wir klopfen uns immer wieder gegenseitig auf die Schulter. Ab jetzt ist alles möglich: Arthur und ich müssen nur irgendwie morgen, um 16. 30 Uhr, am Flughafen sein und eine Maschine von Austrian Airlines besteigen.

Stalin, Dali, Kim Il Sun: Die Wände dieses Clubs sind eine Augenweide, Porträts blutrünstiger Potentaten sorgen für ein angemessen aggressives Ambiente. Auch auf der Tanzfläche fließt Blut, beinahe zumindest. Hypnotischer House, der Raum ist vernebelt von Zigarettenrauch, ständig verschüttet jemand seinen Drink, doch vor allem – selbst eine Nonne könnte es nicht anders sagen – liegt Sex in der Luft. Der Breakfast Club ist purer Sex. Es scheint, als könne das Tanzvergnügen von einer Sekunde zur anderen in eine Massenorgie umkippen. Mal sehen. Ich lehne an der Bar, warte auf Sarah. Endlich hat es geklappt, in dieser letzten Nacht, wir sind hier fest verabredet. Wir werden die Nacht von Berlin wiederholen, hat sie am Telefon gesagt, nur eben in Tel Aviv, auf ihre, Sarahs, Art. Ich sollte vielleicht ein wenig langsamer trinken, damit ich sie überhaupt noch erkenne. Meinem Freund sind derlei Sorgen fremd. Er trägt heute meine Sonnenbrille, die sein entstelltes Gesicht jedoch nur unzulänglich verbirgt. Als er die Treppe in dieses Kellergewölbe hinunterstieg, hat Arthur sich – aufgrund der dunklen Brille – ein weiteres Mal überaus unglücklich den Kopf gestoßen. Und wenig später schlug ihm ein Amerikaner auf der Tanzfläche mit seiner Bierflasche ein Stückchen Schneidezahn aus. Doch Arthurs lässt sich nichts anmerken, seine Attraktivität scheint unter all den Blessuren kaum gelitten zu haben. Im Gegenteil: Er tanzt, als ob der nächste Selbstmordattentäter schon im Anmarsch wäre – und die Menge tanzt um ihn herum. Arthur ist hier das goldene Kalb. Der glänzende Götzengott mit Ray Ban-Gläsern, einen Kopf größer als alle anderen, dem die Töchter Abrahams bereitwillig huldigen. Ein hinreißendes Bild. Mein Freund verliert allmählich die Kontrolle, glaube ich. Doch das kann täuschen. Sein Verhältnis zu Charlotte jedenfalls scheint inzwischen auf der Ebene der Hamas/Fata-Beziehungen angelangt zu sein, wobei ihm fraglos der Hamas-Part zufällt, wenngleich Charlotte naturgemäß nicht annähernd so korrumpiert ist wie ein Fata-Funktionär. Ich weiß nicht, was in Berlin passieren wird. Wie ein Friedensplan überhaupt aussehen könnte. Aber jetzt bin ich nicht in Berlin, sondern im Breakfast Club, warte auf Sarah und lasse mich einfach mal fallen.

And what goes up must come down

„I want a nasty little Jewish Princess”, schreit Arthur. „Hast du noch Geld?“

Ich gebe ihm einen zerknüllten Schein aus meiner Hosentasche.

„Ich muss seit Stunden pissen“, sagt er. „Aber die Schlangen bei den Klos sind bestimmt dreißig Meter lang.“

„Let’s get lost. Wanna be my German Kate Moss?”

„Ich will einfach nur pissen. Das ist doch nicht zuviel verlangt. Du musst übrigens unbedingt dieses Video sehen, das ich Charlotte geschickt habe.“

„Wir können ja in Berlin einen netten Videoabend zu dritt machen“, sage ich.

„Zu viert. Du hast Dimona vergessen. Die postmoderne Prinzessin.“

Doch es ist viel zu laut, wir vertagen die Konversation. Arthur stolpert zurück auf den Tanzboden. Er wird sofort wieder von seinem Zirkel aufgenommen und vollführt dort einige expressive Bewegungen. Ich trinke, warte auf Sarah. Es gibt jetzt einen kurzen Break, die Bässe berühren mein Herz. Die Menge kreischt. Dann erstmals seit langer Zeit eine menschliche Stimme, irgendein Remix: I’m no dog, I’m a dolphin, I just don’t live in the sea... Ich kenne den Song, kann ihn aber beim besten Willen nicht einordnen. Er wirkt deplaziert, geheimnisvoll funkelnd und verstaubt zugleich. Ein Wah-Wah-Echo aus einer anderen Zeit, das mich an irgend etwas erinnert, ohne dass ich wüsste, woran. Vielleicht ist es die Wodka Red Bull-Mischung, welche allmählich mein Gehirn zerfrisst. Oder es hat etwas mit Israel zu tun. Ich wähne mich plötzlich ganz woanders, in einer längst vergangenen Epoche – den neunziger Jahren. Der Sound klingt so dermaßen outdated, so unschuldig, dass es mir vorkommt, als ob alles, was ich damals gedacht und empfunden habe, ebenfalls völlig outdated sei. Ist es ja auch. Und schlagartig fällt mir ein: Nächste Woche werde ich dreißig. Das habe ich im Laufe dieser Reise ganz vergessen.

Ich sollte das jetzt klären, bahne mir also den Weg zum DJ-Pult, wo Magical Mystery Madeleine – so nennt sich die D-Jane – mit ihren Vinylscheiben jongliert. Auf dem Weg muss ich am goldenen Arthur-Kalb vorbei, das noch älter ist als ich und dessen Tanzbewegungen sich mittlerweile auf exakt zwei Frauen konzentrieren.

„Sex mit Engeln! Ich möchte Sex mit Engeln haben!“ ruft mein Freund schweißgebadet.

I’m no dog, I’m a dolphin, I just don’t live in the sea... Als ich beinahe schon bei M-M-Madeleine angelangt bin, um sie nach der Herkunft dieses Songs zu fragen, tippt mir jemand auf die Schulter. Obwohl man in solchen Momenten ja gar keinen richtigen Gedanken fassen kann, glaube ich trotzdem für einen Sekundenbruchteil, es müsse Sarah sein, die mir da auf die Schulter tippt, Sarah und niemand anders. Doch die Frau, die mich angrinst, ist blond, etwas pausbäckig und in jeder Hinsicht das genaue Gegenteil einer Jewish Princess.

„Hey“, sagt sie. „Lizzy. Aus Oklahoma. Erinnerst du dich?“

Der Breakfast Club muss verhext sein. Erst dieser Neunziger-Flashback und jetzt Lizzy, die schwachsinnige Christin, mit der wir einen langen Nachmittag auf dem Hoteldach verbracht haben – in Jerusalem. Aber das hier ist doch Tel Aviv, denke ich. Tel Aviv. Lizzy gehört nicht hierher.

„Wo ist denn dein Freund?“ fragt sie mich. „Wir hatten dieses total intensive Gespräch über Moses. Ich denke immer noch viel darüber nach.“

„Das goldene Kalb“, sage ich. „Was machst du denn hier?“

Lizzy presst sich sehr dicht an mich. Sie duftet nach Zimtkaugummi.

„Was ich hier mache? Ich tanze.“ Helles Gelächter. „Ich bin eine hedonistische Christin.“

Stimmt, das hatte sie uns schon erklärt.

„Aber sagtest Du nicht, der hedonistische Aspekt Deines Glaubens würde sich gerade nicht auf weltliche Freuden beziehen, sondern lediglich auf geistliche?“

Ich kann selbst kaum glauben, dass ich mir diesen Satz gemerkt habe. Und dass ich ihn in diesem Augenblick durch den drogen- und sexgeschwängerten Breakfast Club brülle.

Lizzy strahlt. Ihre Wimperntusche ist verwischt. Sie trägt ein Tanktop und sehr enge Jeans.

„Weltliche Freuden stehen nicht immer im Gegensatz zu den geistlichen“, sagt sie. „Wir feiern hier heute auch den Erlöser.“

Turns into dust or turns into stone.

Ich muss kurz an die Haredim aus New York denken, die vorhin auf dem Rothschild Boulevard eine Art Techno-Parade abhielten – zu Ehren des Messias, den sie in einem unlängst verstorbenen Rabbiner entdeckt zu haben meinen. Sie tanzten ekstatisch und ziemlich unorthodox auf dem Dach eines VW-Busses. Mit Schofar-Horn und Schläfenlocken und gar nicht mal uncoolen Beats. Und Tel Aviv tanzte mit, wenn auch irgendwie ironisch, glaube ich. Ich schaue Lizzy an, deren Promillegehalt ihre Entrücktheit noch potenziert, sie lächelt zurück, und ich denke: Nein, diesen Engel will ich nicht ficken.

Im selben Moment tritt zum Glück Arthur hinzu, in Begleitung einer seiner beiden Tanzpartnerinnen. Sie sieht ein bisschen aus wie Amy Winehouse, nur nicht ganz so verkommen, und trägt eine Blume im Haar, soweit ich das im blauen Discolicht erkennen kann. Mein Freund umarmt unsere Jerusalem-Bekanntschaft von hinten. Keine Ahnung, wie er sie so schnell erkannt hat, zumal er noch immer die dunkle Sonnenbrille trägt.

„Lizzy, altes Haus! Ich hätte da eine Frage...“

„Was ist denn mit dir passiert?“ Sie befühlt Arthurs Stirn.

„Nur ein kleiner Terroranschlag. Danach Selbstgeißelung in der Via Dolorosa.“

Die hedonistische Christin nickt andächtig.

„Also, Lizzy“, mein Freund schwitzt wieder enorm und tut jetzt so, als würde er tief in sich gehen, „welche Rolle kann Jesus Christus in der Postmoderne überhaupt noch spielen? Wo ist er jetzt? Was macht der Erlöser in dieser durch und durch post- oder gar post-postmodernen Welt?“

Ihr redet hier von Jesus? Seid ihr total bescheuert?

Amy drückt ihre Zigarette auf Arthurs Unterarm aus. Dieser zuckt nur kurz zusammen. Was ist bloß aus den Blumenkindern geworden, denke ich. Lizzy lächelt, als hätte sie sich gerade einen Schuss gesetzt.

„Ich gehe mal nach Sarah schauen“, sage ich und fahre die Ellenbogen aus. Die Musik steigt mir zu Kopfe, die Bässe berühren mein Herz.

„Vier Wodka Redbull!“ ruft Arthur mir hinterher. „Diese Nacht darf niemals aufhören!“

[Wie soll diese Nacht noch enden? Werden wir unser Flugzeug verpassen? Die Fortsetzung folgt, vielleicht, im nächsten Post...]

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