Dienstag, 11. September 2007

Aldi

Der Herbst kann kommen! ruft Arthur. Schickes für Sie, Praktisches für Ihn!

Das ist wohl die angemessene Rollenverteilung“, sage ich

„Diese Winter Comfort-Bioclogs mit Fußbett in Kork-Gummi-Mischung für 10, 99 wären doch vielleicht was für dich. Ich würde sie dir ja kaufen, aber...“

„Lass mal gut sein, du hast dich schon genug in Unkosten gestürzt. Das ist das schönste Geburtstagsgeschenk meines Lebens.“

Wir sind bei Aldi, genauer: bei Aldi in Spandau. Das ist mein Präsent. Ich bin ja vor einigen Tagen dreißig geworden, und Arthur hat sich nicht lumpen lassen und mir – also uns – diesen Ausflug spendiert. Zwar lässt sein Bankrott sogar die Finanzkrise Berlins wie eine minimale Dispo-Überziehung aussehen, was auch immer das für seinen Sex-Appeal bedeuten mag. Doch mein Freund hat mir gleichwohl unter tiefempfundenen Glückwünschen zwei Euro für einen Fahrschein in die Hand gedrückt. Dann haben wir die U7 genommen, bis zur Endstation Rathaus Spandau. Und jetzt, in diesem Augenblick, betreten wir den Aldi-Markt, der sich exakt dort befindet, wo bis 1987 das Alliierten-Gefängnis seinen Platz hatte, wo Hess, Speer und Baldur von Schirach ihre Strafen verbüßten und das so genannte „Spandau Ballet“ einige umjubelte Aufführungen erlebte. Und heute ist hier eben Aldi. Es ist keine besonders ansprechende, aber auch keine allzu abscheuliche Filiale. Obwohl die Rathausuhr gerade mal fünf zeigte, erweckte Spandau selbst indes bereits einen düsteren, feindseligen Eindruck. Selbst die lichtblaue Aldi-Reklame auf dem Discounter-Dach war erloschen.

„Sogar Reisen bieten sie inzwischen an“, sagt Arthur. „Schau mal: ‚Namibia. Ein Land voller Kontraste. Entdecken sie schmucke Städtchen aus deutscher Kolonialzeit’. Da ist alles dabei: Wildbeobachtungsfahrt, Besuch eines Kunsthandwerksmarktes. Die einzigartige Wüstenpflanze Welwitscha Mirabilis.“

„Mich würde eher Jamaica reizen. ‚Ultra All Inclusive. Alle Mahlzeiten und alle alkoholischen Markengetränke rund um die Uhr inbegriffen.’“

„Das Leben könnte so einfach sein. Lasst alle Hoffnung fahren, die ihr eintretet!“

Wir schieben unseren Wagen durch den ersten Gang. Das Geschäft ist menschenleer. Auf der rechten Seite passieren Arthur und ich eine Reihe von Kaffee- und Teeprodukten sowie verschiedene Saftvariationen. Das Obstangebot lässt keine Wünsche offen und reicht von eher konventionellen Orangen und Bananen bis hin zu Exotika wie Sharon-Früchten aus dem Heiligen Land. Die linke Seite wird von Getränkeflaschen gesäumt. Mineralwasser, diverse Brausesorten und Bier, das leider selbst in Krisenzeiten ungenießbar bleibt. Der erste Höhepunkt jeder Aldi-Visite ist dann eine Auswahl an geistigen Wässerchen und Muntermachern, mit der es auch Harry’s New York Bar nur unter größten Mühen aufnehmen könnte. Mein Freund steht wie gebannt vor dem Regal. Es ist tatsächlich eine Augenweide: Angefangen bei einer griechischen Spirituosenspezialität mit dem klangvollen Namen „Akropolis“ über Mümmelmann Jagdbitter, Rückforth Eierlikör und Robby, den echten, feurigen Übersee-Rum (54 %), bis hin zum Gorch Fock-Aquavit reiht sich eine Preziose an die andere. Wodka Zaranoff, der Alte Weizenkorn von Silberling, Meckstädter Doppelkorn und der fraglos bereits hier und heute olympiareife Ouzo „Pyros“ sowie ein Getränk namens Grafenthaler Gold, das auf die Schnelle keinem Genre zuzuordnen ist. Doch das macht es ja nur interessanter. Es gibt, naturgemäß, ausschließlich allerfeinste Rebensäfte, wir bewundern den Champagner Marke Veuve Durand, aber auch Stolzenfels-Sekt und – für die jüngeren Semester – Lambrusco in einer „stylishen“ pinkfarbenen Mini-Dose. Dieser erste Gang wird abgerundet durch ein paar ausgewählte Fleischdelikatessen, von denen insbesondere die Bockwurst in zartem Saitling und die Schinkenpfefferlinge nach Art einer Mettwurst hervorzuheben sind.

„Gibt’s hier gar kein Red Bull?“ fragt Arthur. „Ich meine: Aldi-Red Bull?“

„Der Aldi-Energy-Drink heißt paradoxerweise Sitting Bull. Scheint ausverkauft zu sein. Wir sind eben in Spandau. Außerdem würde ich dich bitten, dieses Getränk nie wieder zu erwähnen.“

„Nur weil du nichts verträgst.“

„Ich werde meinen Kloaufenthalt niemals vergessen. Wenn Wodka Red Bull eine Stadt wäre, hieße diese Stadt Neuruppin. Oder Frankfurt an der Oder.“

„Gegen beide Orte ist gar nichts, aber auch wirklich rein gar nichts zu sagen“, entgegnet Arthur.

„Wie war denn nun dein Treffen mit Charlotte?“ frage ich. „Hast du vor, mir irgendwann mal davon zu berichten?“

„Es gibt nichts zu berichten.“ Arthur fässt sich an die vernarbte Schläfe. „Es war okay. Sie hat sich nicht für die Traveling Wilburys-Affäre entschuldigt, wohl aber für die Schuhkarton-Affäre. Ich habe mich gar nicht entschuldigt, wofür auch immer ich mich ihrer Meinung nach entschuldigen soll. Wir hatten keinen Sex. Ihr Bauch ist rund und schön. Dimona tanzt.“

Wir haben inzwischen das hintere Ende des in typisch moderner Hufeisenform angelegten Geschäfts erreicht. Hier beginnt der Kühlbereich: Fisch, Salat- und Aufschnittsliebhabereien, die immer wieder durch überraschende Innovationen ergänzt werden.

„Warum heißt die Firma, die diesen köstlichen Räucherschinken produziert, eigentlich ‚Abraham’?“ Arthur ist leicht irritiert. „Da scheint mir etwas nicht ganz koscher zu sein.“

Doch das Angebot ist ohne Zweifel überwältigend: Frische Pasta (Ravioli, Tortellini und Gnocchi) sowie deutscher, französischer, holländischer und eidgenössischer Käse, Milchprodukte in jeder Form und Konsistenz. Für diätbewusste Humus- und Bierfreunde wie Arthur und mich hat Aldi eigens ein Light-Label kreiert: „Grazil“. Ich lege es meinem Freund dringlich ans Herz.

Er streicht sich über den Bauch: „Wir sind übrigens am Wochenende zum Essen eingeladen. Bei Lulu.“

„Ich wusste nicht, dass Lulu kochen kann“, sage ich.

„Ich auch nicht. Wahrscheinlich gibt es Speed an Jägermeister. Und einen Kasten Bionade für meine Freundin. Auf jeden Fall hat sie uns eingeladen.“

„Nur Charlotte, dich und mich? Was soll das denn?“

„Keine Ahnung. Wir sollen Fotos von Israel zeigen.“

„Wir haben keine Fotos gemacht.“

„Ich weiß“, sagt Arthur. „Darf ich bitte auch mal den Einkaufswagen schieben?“

Das Frischfleisch von Bauernglück zieht vorbei, es folgt eine monumentale Tiefkühltruhe, die jeden Feinschmecker vor Glück erzittern lässt: südamerikanische Rindersteaks aus der Hüfte, Mozarella Sticks, Boeuf Stroganoff, Ćevapčići-Pfannen und Scampi-Spieße und sogar Sushi und Hummer! Ein besonders schöner Platz ist für die Königin des ewigen Eises reserviert – die Tiefkühlpizza. Sie präsentiert sich hier in raffinierten Gourmet-Variationen, die noch vor einigen Jahren von Berufsskeptikern als bloße Hirngespinste und Luftschlösser abgetan worden wären. Seinen gebührenden Abschluss findet dieser Gang auf der – in Laufrichtung – linken Seite durch die beliebte Dosenananas, bei deren Anblick einem nicht von ungefähr sofort der Sinn nach ‚Toast Hawaii’ steht. Arthur zumindest weist darauf hin.

„Vergiss bitte angesichts dieser schlaraffenlandähnlichen Zustände nicht, dass wir uns auf historisch kontaminiertem Boden bewegen“, sage ich.

„Natürlich nicht.“ Mein Freund berührt sachte sein entstelltes Auge.

„Genau hier, wo wir jetzt mit diesem leeren Einkaufswagen unsere Aldi-Runde drehen, hat früher Albert Speer seine Runden gedreht. Im Gefängnishof. Ohne Einkaufswagen.“

Des Führers liebster Baumeister hätte nämlich, erkläre ich Arthur, im Unterschied zum wehleidigen Hess in der Haft ein strenges Regime gegen sich selbst geführt, von dem er sich mitunter sogar eigenhändig und somit offiziell „Urlaub“ erteilte. Zum Tagesplan zählten als Kontrastprogramm zur Niederschrift der bekannten Münchhausen-Memoiren auch abenteuerliche Reisen in entlegenste Erdregionen, die er im Geiste unternahm. Basierend auf geographischen Abhandlungen und Forschungsberichten, die Speer sich aus der Bibliothek kommen ließ, versäumte er niemals den täglichen Hofgang, auf dem er sich diese Entdeckungsreisen mit akribischer Präzision vorzustellen pflegte.

„Unromantisch ist dies nicht“, bemerkt Arthur. „Abenteuer – ohne Freiheit.“

„Ingesamt hat Speer während seiner Spandauer Haftzeit auf diese Weise über 31. 000 Kilometer zu Fuß zurückgelegt.“

Doch ich habe noch nicht erwähnt, was sich dem interessierten Kunden auf der linken Seite des Ganges darbietet. Neben einer kleinen feinen Auswahl verschiedener Brot- und Brötchensorten kommen dort Hunde- und Katzenliebhaber voll auf ihre Kosten. Dieses qualitativ sogar den Fachhandel beschämende Tiernahrungsangebot besticht vor allem durch verführerische Snacks wie Vitalknochen mit Raucharoma, Erzeugnisse der Firma Edel Cat und den legendären Long-Seller Schnucki mit Anti-Hairballfunktion. Am Ende der Regalreihe, schon wieder in Kassennähe, kann sich die Spandauer Hausfrau nach Herzenslust bei Reinigungs- und Waschmitteln sowie verschiedenen Varianten Toilettenpapier (doppellagig, vierlagig etc.) bedienen.

„Feefein Feinwaschmittel!“ ruft Arthur. „Und Solo Saugwunder! All diese Aldi-Alliterationen!“

„Die hat man in Israel schon vermisst“, sage ich. „Siehst du irgendwo die Non-Food-Section?“

„Ich will nicht, was ich sehe, ich will, wovon ich träume“, singt mein Freund und steuert auf den ersten Mittelgang zu, den wir bisher, vielleicht unbewusst, gemieden haben. Zwar gibt es, Rücken an Rücken mit dem Obstbereich, Gemüse in Hülle und Fülle, doch unter den Non-Food-Angeboten findet man selbst als Kenner nichts, was das Kaufinteresse animieren würde. Die geizigen Spandauer müssen die Top-Seller längst aufgekauft haben, denke ich. Das Regal mit den Nahrungsergänzungsmitteln und Anti-Aging-Produkten, an dem man noch vor dem Basics-Bereich – Mehl, Zucker, Öl, Eier und so weiter – vorbeiflaniert, wirkt hingegen erstaunlich unberührt.

„Du bist jetzt dreißig.“ Arthur schlägt mir auf die Schulter. „Was du brauchst, sind ein, zwei vernünftige Rheumasalben, viel Magnesium und dann und wann etwas Johanniskraut.“

„Was du brauchst, ist ein Glasauge. Schau mal: Die Weihnachtszeit hat schon begonnen!“

Tatsächlich gelingt es Aldi mühelos, bereits im Spätsommer eine heimelige, besinnliche Atmosphäre zu erzeugen. Das Sortiment an Spekulatius-Keksen, Dominosteinen, gutmütig winkenden Schokoladenweihnachtsmännern und Marzipankartoffeln ergibt alles in allem – unmittelbar an die Kosmetika angrenzend – ein rundum stimmiges Ensemble. Aber wir sind ja auch in Spandau, wo alljährlich einer der schönsten Weihnachtsmärkte der Republik Hunderttausende begeisterte Besucher anzieht.

„Im Dezember kommen wir wieder“, sage ich – doch Arthur hat Weihnachtsgebäck Weihnachtsgebäck und Knabberwaren Knabberwaren sein lassen und befindet sich längst im zweiten Mittelgang, wo weitere schmackhafte Tiefkühlprodukte offeriert werden: Suppenhühner, Gemüsesorten aus der ganzen Welt und natürlich die Backofen-Wellenschnitt-Pommes frites. Zudem findet der Hobby-Grillmeister hier die bei jedem Barbecue hochwillkommenen Schlemmersaucen von Delikato plus diverse Eis- und Kuchenträume.

„Mmmh...“, mein Freund leckt sich die Lippen: „Diese zwölf Minischnecken würden mir jetzt aber munden.“

„Die gibt’s erst, wenn du deine postmoderne Frau gefunden hast.“

„Die Annonce ist noch nicht mal erschienen”, erwidert er betrübt.

Das Ende unseres Rundgangs kündigt sich an, auf der rechten Seite ziehen in einem seltsam undefinierten Niemandsareal Cerealien von Gletscherkrone, Bon-Ri-Kochbeutelreis gepaart mit Grillkohle und Kartoffelpüree vorüber. Zum Abschluss, gleichsam als Dessert und vis-à-vis von den deftigeren Konserven à la „Zigeunertopf“, der Süßwarenbereich. Was soll ich sagen. Es ist, als würde man die Herrlichkeit eines Alpenpanoramas bei Neuschnee preisen. Riesenschokoküsse, Matador Mix, Nussbeisser-Tafeln – jeder von uns weiß wohl genau, wie man sich fühlt, wenn man sich bei diesen Leckereien rein mengenmäßig mal ein bisschen verkalkuliert hat.

„Unser Wagen ist immer noch leer“, sagt Arthur, als wir schon an der Kasse stehen – doch er hat die beiden Lambrusco-Dosen übersehen, die ich heimlich, von meiner Tasche verdeckt, auf dem Kindersitz verstecken konnte und nun unter großem Hallo auf das Laufband lege. Plötzlich gibt es Ärger, ein Spandauer Faschist, für den allein sich der Wiederaufbau dieses Naziknasts – zum Beispiel anstelle des Stadtschlosses – schon lohnen würde, weist uns in seinem Gossenjargon darauf hin, dass wir vergessen hätten, den so genannten Trennstab hinter den beiden Lambrusco-Dosen auf dem Band zu platzieren. Wir ignorieren ihn beflissen, das heißt, ich ignoriere ihn und Arthur flüstert ihm ein kaum hörbares „Spandau-Nazi“ zu.

„Einsfünfund-pfirsich“, sagt die Kassiererin.

Arthur schaut mich an: „Happy Birthday“, ruft er und zückt seine Brieftasche.

„Ich bin immer noch nicht über die Niederlage von Wembley hinweg“, bemerke ich, während wir den Wagen entleeren.

„Ach, England“, sagt mein Freund. „Israel hat einfach keine Lobby. Bei der UEFA, meine ich.“

„Ich wette, Michael Owen hört zum Einschlafen Duran Duran.“

„Wusstest du, dass Andy Warhol nach eigenen Angaben zu Duran Duran-Videos masturbiert hat?“

„Das ist bemerkenswert.“ Ich öffne mein Lambrusco-Döschen. „Dann handelt es sich ja gar nicht um emotionale Pornographie, sondern, na ja, um Pornographie halt.“

„Wenn Lambrusco aus der Dose ein Stadtteil wäre“, sagt Arthur, „hieße dieser Stadtteil Spandau. Und der Bezirksbürgermeister Rudolf Hess.“

Eher Baldur von Schirach.

Beim Verlassen des Marktes stellen wir erfreut fest, dass das blaue Aldi-Emblem auf dem Dach wieder mit ausreichend Elektrizität versorgt wird. Spandau ist dunkel, doch Aldi leuchtet.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Wie Patrick Bateman bei Macys in New York. Nur eben bei Aldi in Spandau. Sehr fein.