Mittwoch, 19. September 2007

This Side of Paradise

„Ich bin nicht sentimental!“ ruft Arthur und streckt alle Glieder von sich. „Nein, nein, nein!“

„Doch, bist du. Ich versteh’ nicht, was mit dir los ist.“

„Ein sentimentaler Mensch glaubt, die Dinge blieben so, wie sie sind.“ Mein Freund spricht jetzt mit geschlossenen Augen, was ausgesprochen arrogant wirkt. „Ein romantischer Mensch hingegen vertraut verzweifelt darauf, dass sie eben nicht so bleiben, wie sie sind.“

„Wer sagt das?“ will ich wissen.

„Ich.“

„Ich finde, du wirst jeden Tag sentimentaler. Seitdem du in der Jewish Princess auf den Tresen gefallen bist.“

„Vielleicht hatte ich dort eine Art Vision. Vielleicht auch nicht.“

Arthur öffnet noch immer nicht die Augen, verharrt auf dem marmorierten Untergrund.

„Ich frage mich nur“, sage ich, „was wir hier eigentlich machen. Was du hier machst.“

„Ich will ja gar nicht, dass dieser Flughafen so bleibt, wie er ist. Ich fordere eine neue Blüte. Eine Renaissance des Sublimen.“

Seit einigen Minuten stehe ich im Hauptgebäude des Tempelhofer Flughafens. Diese so genannte Ehrenhalle hat einiges an Pracht und Monumentalität eingebüßt, nachdem in den fünfziger Jahren eine bedrückend niedrige Zwischendecke eingezogen wurde. Ich habe keine Ahnung, warum ich hier bin. Oder doch: Ich bin allein deshalb hier, weil Arthur mich gerufen hat. Ich solle sofort herkommen, hat er gesagt, es sei dringend, ich müsse ihm bei etwas helfen, hier am einstigen Zentralflughafen. Tempelhof ist der einzige scheintote Airport der Welt, denke ich. Das Gebäude ist zwar wie ausgestorben, doch der Flugverkehr ruht keineswegs komplett – darauf lassen nicht nur die Lautsprecherdurchsagen schließen. Die Metapher vom schlafenden Riesen drängt sich hier förmlich auf. Und Arthur sitzt mitten in dieser gewaltigen Ehrenhalle auf dem Boden, an einen alten Propeller gelehnt, und weigert sich, aufzustehen.

„Arthur, es ist zwölf Uhr mittags. Du siehst aus, als hättest du drei Nächte nicht geschlafen. Was machst du hier?“

Mein Freund schaut mich mit glasigen Augen an, ich prüfe seine Pupillen, doch die wirken eigentlich ganz normal, soweit ich das beurteilen kann.

„Ich wollte einen Flug buchen“, sagt er schließlich.

„Einen Flug?“

„Nach Tel Aviv.“

„Du wolltest von Tempelhof nach Israel fliegen?“

„Du hast mich sehr gut verstanden.“ Arthur schließt wieder die Augen. „Aber ich hatte kein Geld. Der Geldautomat vorhin hat sogar nach mir geschnappt.“

„Ich gehe“, sage ich und setze auch tatsächlich dazu an, doch mein Freund hält sich mit beiden Armen an meinem Bein fest, wie es garstige Kinder mitunter tun.

„Eine Frau hat sich auf meine Annonce beworben“, sagt er.

„Was für eine?“

„Sabine Christiansen.“

Arthur lächelt. Ich nicht.

„Ich bin mir sicher, es hat überhaupt niemand geantwortet“, sage ich. „Und wahrscheinlich wird auch niemand antworten. Deine Mission ist gescheitert.“

„Im Unterschied zu meinen Frauen mag ich meine Flughäfen am liebsten völlig unpostmodern“, murmelt er.

In diesem Moment erscheint ein sehr kleiner Mann mit einem offiziösen Wappen auf der Uniform und bittet uns barsch, hier nicht herumzulungern und, vor allem, etwas mehr Abstand zu diesem historischen Propeller zu halten – so etwas werde heutzutage gar nicht mehr hergestellt.

„Siehst du“, sagt Arthur im Aufstehen. „Dieser Mann ist sentimental.“

„Ich empfinde die Rosinenbomber-Romantik, die dieser Flughafen mittlerweile verströmt, als ziemlich unangenehm.“

„Es geht mir nicht um Rosinenbomber-Romantik.“

„Sondern? Um Nazi-Romantik?“

„Nein. Nein, nein, nein. Du willst mich heute nicht verstehen.“

„Das könnte sein“, sage ich.

„Ich meine die Romantik des Fliegens überhaupt.“ Arthur seufzt. „Was haben wir denn heute? Ryan Air. Easy Jet. Fliegen ist trashiger als Bahnfahren geworden. Fliegen ist sogar trashiger als Busfahren geworden. Bald wird es vielleicht trashiger als Skateboardfahren sein.“

„Du bist sentimental. Du redest wie Christian Krachts Oma.“

Langsam schlendern wir durch die leere Halle. Noch kann man hier zwar eine der auf dem weiten Flugfeld wie Modellbauflugzeuge wirkenden Maschinen besteigen, doch die landet dann eben in Friedrichshafen oder in Dortmund oder maximal in Brüssel. Das ist schon ziemlich deprimierend.

„Schau’ dir doch mal diese Easy Jet-Stewardessen an!“ Mein Freund macht eine wegwerfende Handbewegung. „Die sehen aus wie die Spice Girls – bevor sie die Spice Girls wurden. Und sie lachen auch so vulgär. Wahrscheinlich würde Easy Jet sogar diesen Terminal orange streichen.“

„Vom Adler über dem Hauptportal ist ohnehin nur noch der Kopf übrig. Ich hätte da übrigens zwei Fragen.“

„Nur zwei?“ Arthur schwankt etwas. Seine Wunden, fällt mir auf, sind noch immer nicht verheilt.

Ich hole tief Luft: „Erstens: Wo ist dein Schuhkarton? Du hast ihn fast nie mehr bei dir. Und, zweitens: Hast du am letzten Tag in Tel Aviv ein hellblaues Schwangerschaftskleid gestohlen?“

„Ich weiß auch nicht.“ Schulterzucken. „Der Schuhkarton langweilt mich irgendwie. Es kommen ja sowieso keine neuen Liebesbriefe mehr dazu. It’s all over now, Baby Blue.“

Mein Ärger ist mittlerweile verraucht. Ich lasse mich sogar dazu hinreißen, meinem Freund zu versichern, dass bestimmt noch die eine oder andere postmoderne oder gar die postmodernste Dame überhaupt auf seine Anzeige antworten werde, wahrscheinlich seien all diese Frauen gerade noch mit der Erstellung ihrer Hochglanzbewerbungsmappen beschäftigt, so etwas brauche ja seine Zeit, wenn das Ergebnis nicht allzu primitiv wirken solle – und das sei doch ganz in seinem, Arthurs, Interesse.

„Außerdem könntest du dich bis dahin vielleicht mal ein bisschen um deine Freundin kümmern“, füge ich noch hinzu.

„Nur wenn du dich um Lulu kümmerst. ‚Wer ist Dimona?’, hat Charlotte mich gefragt. Als ob ich das wüsste. Erinnerst du dich noch an die Katakomben?“

Natürlich erinnere ich mich. Arthur und ich durften diesen Flughafen nämlich schon mal eingehend besichtigen. Wir haben uns einer größeren Seniorengruppe – Genossen des SPD-Ortsvereins Bielefeld-Nord – angeschlossen und an einer Führung teilgenommen, die Arthur und mir und den dreißig Westfalen sogar den Zugang zu den mythenumwobenen Kellergeschossen eröffnete. Dort befand sich, bis die alliierten Eroberer es versehentlich in Brand setzten, ein Filmdepot. Ein uferloses Filmdepot. Nicht eine einzige Zelluloidrolle überstand das große Feuer. Und seitdem überlegen wir regelmäßig, was da unten, in diesen mit bizarren Graffiti und Strichlisten verzierten Räumen, für Streifen gelagert haben könnten. Pornos, meint Arthur – und einige epochale Meisterwerke, die wir uns heute gar nicht mehr vorzustellen wagten und deren Anblick man diesseits des Paradieses auch gar nicht ertragen könne. So energisch, so verwegen seien diese Filme. Ich sage: So lange dort keine Filme mit Hugh Grant aufbewahrt wurden, gebe ich mich mit allem zufrieden. Andernfalls müsste man diese Feuersbrunst völlig neu bewerten.

„Schau dir diese Türgriffe an!“ Arthur streicht sanft über das Holz. „Heute gibt es gar keine Türgriffe mehr auf Flughäfen!“

„Heute findet hier das Red Bull Air Race statt. Das ist wirklich degoutant. Als würde man Pisse aus Goldpokalen trinken.“

„Und erst diese Treppengeländer!“

„Du sentimentaler Tränensack.“

„So ein aufheulender Flieger, der sich wie auf Adlerschwingen in die Lüfte erhebt, ist schöner als die Nike von Samothrake. Deine zweite Frage kann ich übrigens uneingeschränkt bejahen.“

Wir stehen nun am Ausgang, vor einem Imbiss mit dem Namen Air Snack. Und weil Arthur, wie er betont, Hunger und überdies ungeheuerlichen Durst hat, werden wir hier wohl noch ein Weilchen stehen bleiben.

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