Dienstag, 4. September 2007

Hatikva [Breakfast Club II]

Es gibt Dinge, die man weiß, sagt Huxley, und es gibt Dinge, die man nicht weiß. Und dazwischen sind die Türen. Aber ich weiß ja, was sich hinter dieser Tür verbirgt: eine dreißig Meter lange Schlange zugekokster Nachtmenschen. Die Tanzfläche. Die Party. Der Breakfast Club. Das Problem: Die Tür geht nicht mehr auf. Irgend etwas hat sich verhakt, keine Ahnung, wie das passieren konnte – doch selbst mit brachialstem Körpereinsatz lässt sich diese Eisentür nicht öffnen. Da es im Breakfast Club viel zu laut ist und eine längere bis sehr lange Verweildauer auf der Unisextoilette offenkundig für normal erachtet wird, kommt mir auch niemand zu Hilfe. Ich habe ein paar mal gerüttelt, ein paar mal geschrieen – vergeblich. Und jetzt fehlt mir die Kraft, schon wieder knie ich kotzend auf dem Boden. Ich übergebe mich ununterbrochen seitdem ich in dieser Klokabine gefangen bin. Das Erbrochene ist rot wie die „Lady in Red“, rot wie Blut und wie Red Bull. Den Wodka sieht man nicht. Wenn ich wenigstens etwas Humus gegessen hätte. Doch am Ende bleibt nur Red Bull, das erbärmlichste Getränk des Planeten – und sonst nichts.

Arthur ist weg. Das Blumenmädchen hat ihn mit nach Hause genommen und versengt ihm zur Stunde mit ihren Mentholzigaretten die Schamhaare. Ich bin allein. Ich habe noch allein getanzt, allein getrunken. Gewartet. Sarah ist nicht gekommen. Natürlich nicht. Ich bin der größte Versager im Gelobten Land, eingeschlossen auf einer verdreckten Toilette. Auf der Klobrille sind Pulverspuren, wie mir auffällt, als ich mit dem Kopf dagegen stoße. Ich erwäge kurz, mir aus den Überresten eine Mini-Line zu legen, entscheide mich dann jedoch dagegen. Erstens ist mir zum Koksen viel zu schlecht. Zweitens nehme ich eigentlich kein Kokain. Und drittens wäre eine derartige Handlung mein endgültiger Abschied vom Abendland und der dazugehörigen Kultur und möglicherweise niemals wieder gutzumachen. Andererseits: Ich bin im Nahen Osten. Und ich bekenne: In meiner Verzweiflung habe ich vorhin sogar noch versucht, Oklahoma-Lizzy ganz unchristlich hedonistisch abzuschleppen. Ich hätte mit Lizzy geschlafen. Ich hätte sogar mehrfach mit ihr geschlafen. „Wer ist jetzt Dein Messias?“ hätte ich sie im Verlauf des Akts keuchend gefragt. Aber sie war dann auf einmal verschwunden.

In etwa acht Stunden werden Arthur und ich im Taxi zum Flughafen sitzen. Wir werden unseren Lieblingstaxifahrer wiedersehen, die Fahrt ist bereits fest gebucht. Er wird uns noch einmal den Zusammenhang von Humus, Humus, Humus und big big big tits erklären. Arthur wird die ganze Fahrt nur lachen. Ungeduscht wird er – mit Ray Ban-Pilotengläsern – von seiner Jewish Princess schwärmen. Dem Mädchen mit der Blume im Haar und der Dildosammlung unter dem Bett. Ihren Namen wird mein Freund nicht mehr wissen, doch wird er mir deshalb nicht weniger freudig davon berichten, wie das Blumenmädchen bereits während des eher knappen Vorspiels damit begann, Gaskammerwitze zu erzählen. „Sehr erotisch“, werde ich bemerken, und Arthur wird lauthals lachen und ihre Begeisterung über sein unbeschnittenes Geschlechtsteil sehr offenherzig mit mir teilen. „Vielleicht hast du die postmodernste Frau endlich gefunden“, werde ich sagen, aber mein Freund wird nur lachen und lachen, wie irgendein dummer Kiffer, der Taxifahrer wird einstimmen und ein paar Schwänke aus dem Sechstagekrieg zum Besten geben und Arthur wird sein T-Shirt hochziehen und mir seinen völlig zerkratzten Rücken präsentieren. „Respekt“, werde ich murmeln, und dann wird mir mein Reisegefährte erläutern, dass die blutigen Kratzer keinesfalls auf die Blumenmädchenfingernägel zurückzuführen seien – diese hätten seine eigenen an Länge kaum überragt. Zum Glück. Doch das Blumenmädchen hielte nicht nur achtzehn verschiedene Dildos, sondern überdies drei Katzen in ihrer winzigen Wohnung, die eher einem Treibhaus gliche, und diese Katzen – Adolf, Hermann und Joseph – hätten ihm im Schlaf in heimtückischster Manier den Rücken zerkratzt. Jetzt kehre er wahrlich als Schwerstbeschädigter in die Heimat zurück. Der Sex jedoch, der sei phantastisch gewesen. „Sakral“, wird der gottlose Arthur Müller sagen und: „All was well“, bevor er sich beim Aussteigen noch mal gefährlich den Kopf stoßen wird.

Am Ben Gurion-Airport werde ich mich sofort erbrechen, während mein Freund bei McDonald’s einen koscheren Big Mac verspeisen wird. Ich werde mich einer Befragung durch eisigste Grenzbeamten unterziehen müssen, stundenlang. Jedes einzelne Stück Schmutzwäsche aus meinem Rucksack wird auf Sprengstoffspuren untersucht werden. Wir werden in buchstäblich letzter Sekunde in unsere Austrian Airlines-Maschine steigen, die – wirklich wahr – den Namen „Kurt Cobain“ tragen wird. Fasten your seat belts, please. It’s better to burn out than to fade away. „Welcher österreichische Volltrottel ist bloß auf diese Namenswahl verfallen?“ werde ich fragen, und Arthur wird weiterlachen wie ein Kind und die Stewardess en passant um etwas Junk bitten. Sie wird daraufhin mit einer abrupten Notlandung drohen und Arthur wird ihr ein freundliches „Sissy“ hinterher zischen. Naturgemäß wird ein Hugh Grant-Film laufen. Emotionale Pornographie. „I hate myself and I want to die“, werde ich sagen und ein Bier bestellen und Arthur wird lachen und lachen.

Aber noch knie ich hier auf diesem vollgepissten Toilettenboden und bin erneut im Erbrechen begriffen. Es ist das neunte Mal. Was für ein Balagan. Die Farbe der Kotze erinnert mich wieder an „Lady in Red“, den irischen Billigbarden mit der Monoaugenbraue – und sobald ich an Chris de Burgh denke, muss ich mich ein zehntes Mal übergeben. Vielleicht sterbe ich auch. Denn wie in einer Telenovela oder einem miserablen Fortsetzungsroman im Internet läuft eine Art Trailer-Version der letzten zwei Monate noch mal vor meinem inneren Auge ab. Alles vermischt sich – und alles scheint irgendwie zusammenzuhängen, ohne dass es am Ende irgendeinen Sinn ergibt: Jakob, der Lügner, und die Atomwaffenfabrik bei Dimona. Die „Altstadt“ von Be’er Sheva. „Results without Apologies.” Spring Break in Eilat. Der warme Wüstenwind. Ausgebombte jordanische Häuser und Oasen am Toten Meer. Konrad, der verschollene Idiot. Ein Liebesbrief von Jesus. Das Goldene Kalb und Arthur an der Klagemauer. Der Todesengel von Santa Monica. Delphine Nussbaum. Delphine Nussbaum und ihr heißer Tanz. Irgendwie geht die Welt aus dem Leim. Nelson, Lucky, Otis, Charlie und Lefty Wilbury. Harry Potter. Die Sexualpraktiken der Haredim. Tel Aviv, die weiße Bauhaus-Stadt. Banana Beach. Die ausradierte Dolphin-Bar. Die Clara-Bar. Jewish Princess. The Princess has come of Age. The Jewish Princess has come of Age. Arthur Curtis Wilson. Sex mit Engeln. David Bowie und Roy Orbison. The New Romantics. Gainsbourg Girls. Debbie, Rachel, Lizzie, Sarah. Charlotte, Charlotte, Charlotte. Klara. Der Schuhkarton. Die postmodernste Frau. Die blaue Blume. Arthurs blaues Auge. Love Will Tear Us Apart.

Der Herbst ist da. Zumindest in Berlin. Da müssen wir jetzt durch, mein bester Freund und ich. Doch diese Klotür geht einfach nicht auf. Ich höre: Frauenlachen. Unverständliches Hebräisch. Dumpfe Bässe. Stille. The Sound of Silence. Urplötzlich eine verzerrte Gitarre. Die erste seit diesem obskuren Neunziger-Song, dessen Titel ich noch immer nicht herausgefunden habe. I’m no dog, I’m a dolphin, I just don’t live by the sea. Momentan bin ich eher ein Hund, keine Frage. Die Gitarre heult auf. Jimi Hendrix, denke ich, The Star Spangled Banner. Und: Warum spielt die D-Jane hier im Breakfast Club – Magical Mystery Madeleine – so einen Hippie-Dreck. Es gibt Dinge, die man weiß, und es gibt Dinge, die man nicht weiß. Ich fand Hendrix schon immer langweilig, selbst wenn das keinen interessiert. Doch dann merke ich: Es ist gar nicht die US-Nationalhymne, die da mit maßlos viel Feedback, nun ja, dekonstruiert wird, sondern natürlich die israelische. Hatikva. Hoffnung. Die Hoffnung von 2000 Jahren, wie es im Text heißt. Vermutlich der rituelle Abschluss von Madeleines DJ-Set. Und der ganze Breakfast Club singt mit. Aufgrund meiner aktuellen Isolationshaft höre ich die Stimmen nur gedämpft. Doch alle singen dieses pathetische und eigentlich recht hoffnungslose Lied, schrill, falsch und sturzbesoffen. Das ist doch ein angemessener Schlussakkord für diese Nacht, für diese Reise, denke ich. Schade, dass Arthur jetzt nicht hier sein kann. Fast möchte ich einen Orangenbaum pflanzen. Ich liege auf dem Toilettenboden, lausche der wehmütigsten Hymne der Welt, meine Kehle schnürt sich zusammen. Vielleicht wäre dies der richtige Zeitpunkt, um mal wieder zu weinen, denke ich, nur ein bisschen, dann wird es mir besser gehen. Und während ich „Hatikva“ höre und in Tränen ausbrechen will, merke ich, dass ich schon wieder kotzen muss.

1 Kommentar:

Anonym hat gesagt…

Hatikva stirbt zuletzt. Danke für die schöne Zeit.